Britische Truppen befreiten am 15. April 1945 das Konzentrationslager Bergen-Belsen.¹ Wenig bekannt ist, dass dazu auch das nur etwa zwei Kilometer entfernte Nebenlager in der Kaserne Bergen-Hohne gehörte. Aufgrund der katastrophalen Überbelegung des Hauptlagers hatte die Wehrmacht Anfang April 1945 den südöstlichen Teil der benachbarten Kaserne geräumt. Anschließend wurden mehr als 15.000 Häftlinge aus dem Konzentrationslager Mittelbau-Dora und dessen Außenlagern im sogenannten Kasernenlager untergebracht. Die SS brachte keine Häftlinge anderer Lager in dieses Ausweichlager Bergen-Belsens, weshalb es als „Nebenlager des Mittelbau-Dora-Komplexes“ bezeichnet werden könnte. Die dort festgehaltenen Männer stammten aus ganz Europa und gehörten verschiedenen Religionen an. Bereits kurz nach der Befreiung gründeten Überlebende im ehemaligen Haupt- und im Kasernenlager nationale Komitees. Sie dienten als Interessenvertretungen gegenüber den britischen Befreiern. Den jüdischen Komitees in Bergen-Belsen kam eine erweiterte Funktion der Interessenvertretung zu. Sie sind als Ausdruck einer jüdischen Selbstbehauptung gegenüber der britischen Militärregierung – Bergen-Belsen lag in der britischen Besatzungszone – zu sehen. Die Briten waren nicht bereit, die befreiten Juden als eine eigene Nation anzuerkennen, sondern betrachteten sie als Religionsgemeinschaft. Das griff für viele der jüdischen Überlebenden zu kurz: Die Erfahrung der Shoah hatte ihr Selbstverständnis tiefgreifend verändert. Den nationalsozialistischen Massenmord an den europäischen Juden verstanden sie als Bestätigung des Zionismus, der die Juden als Nation definierte und mit dem Anspruch auf einen eigenen Staat der Juden in Palästina einherging.
Am 25. April 1945 gründeten befreite Häftlinge des Konzentrationslagers Bergen-Belsen ein jüdisches Komitee. Es setzte sich aus Personen zusammen, die Anfang April 1945 aus dem Lagerkomplex Mittelbau-Dora in das sogenannte Kasernenlager Bergen-Belsen transportiert wurden. Zu den Gründungsmitgliedern des Komitees gehörten Rafael Olewski, der das Ereignis in einem Notizheft festhielt, sein Bruder Israel Mosche Olewski, Heinz Galinski und Josef Rosensaft. Alle vier hatten auf je eigene Weise grundlegenden Anteil an der Wiederbelebung des jüdischen Gemeindelebens nach der Shoah.
Dieser Beitrag widmet sich vier der insgesamt 14 Gründungsmitglieder des unmittelbar nach der Befreiung entstandenen jüdischen Komitees: Heinz Galinski (1912–1992), Josef Rosensaft (1911–1975) und den Brüdern Israel Mosche Olewski (1916–1966) und Rafael Olewski (1914–1981). Ihre Biografien stehen exemplarisch für die Zerrissenheit zwischen dem Bleiben im Land der Täter, der Auswanderung in die USA und in den neu gegründeten Staat Israel und verdeutlichen die damit verknüpften Herausforderungen. Die vier Protagonisten verband nicht nur dasselbe Alter und dieselbe Verfolgungserfahrung, sondern der Kampf von Beginn an gegen das Vergessen der nationalsozialistischen Verbrechen.
Dem am 25. April 1945 in der Kaserne gegründeten jüdischen Komitee gehörten Juden aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, den Niederlanden, Belgien und Deutschland an. Aufgrund dieser Zusammensetzung unterschied es sich von den vielen nationalen Komitees.
Heinz Galinski, 1912 in Marienburg (Westpreußen) geboren, schloss nach dem Abitur eine Lehre zum Textilkaufmann ab. Bis 1937 lebte und arbeitete er in Rathenow an der Havel. Dort lernte er seine erste Frau Gisela Jacobsohn kennen. Schon bald darauf zog das Paar nach Berlin, wo auch seine Eltern lebten. Die Hochzeit fand 1938 nur 15 Tage nach den reichsweiten Novemberpogromen statt. Das Paar erwägte eine Emigration. Doch dazu kam es nicht mehr: Schon bald musste die Familie Zwangsarbeit in Berliner Rüstungsbetrieben leisten. Im Februar 1943 wurde Heinz Galinski mit seiner Ehefrau und Mutter nach Auschwitz deportiert. Sein Vater war kurz zuvor in Berlin gestorben. Unmittelbar nach der Ankunft in Auschwitz wurde die Familie getrennt. Er selbst wurde in das Außenlager Auschwitz-Monowitz überstellt. Anfang 1945 näherte sich die Rote Armee von Osten und der Lagerkomplex Auschwitz wurde geräumt.
Josef Rosensaft, geboren 1911 in Będzin (Polen), wuchs als jüngstes von sechs Geschwistern in einer chassidischen, sehr religiösen Familie auf. Nach dem Jeschiwa-Studium in Warschau kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und schloss sich dort der linksgerichteten zionistischen Arbeiterbewegung Poale Zion an. Kurz vor Kriegsbeginn 1939 heiratete er eine verwitwete Frau mit einer achtjährigen Tochter. Im Frühjahr 1943 musste die Familie in das bei Będzin gelegene Ghetto Kamionka umziehen. Im Juni 1943 deportierte die SS 1.000 Bewohner des Ghettos nach Auschwitz. Rosensaft gelang während des Transports die Flucht und er kehrte nach Kamionka zurück. Mit der Auflösung des Ghettos am 1. August 1943 wurden sämtliche Bewohner nach Auschwitz deportiert. Im März 1944 gelang Rosensaft erneut die Flucht, die jedoch schon kurz danach mit erneuter Festnahme und Rückführung nach Auschwitz endete. Dort blieb Rosensaft bei strenger Bewachung bis zur Räumung des Lagers im Januar 1945.
Die Brüder Rafael und Israel Mosche Olewski wurden 1914 und 1916 in Osięciny (Polen) geboren. Sie stammten wie Rosensaft aus einer namhaften chassidischen Rabbinerfamilie. Rafael, der ältere der beiden, war als Hebräisch-Lehrer und Journalist tätig. Er engagierte sich früh politisch, war Anhänger der zionistischen Idee und arbeitete für das Yidisher Visnshaftlekher Institut in Wilna (Litauen, heute YIVO mit Sitz in New York) als Korrespondent. Im Sommer 1941 verschleppten ihn die deutschen Besatzer in die Zwangsarbeiterlager Mogilno und Bielsko und von dort schließlich am 1. Oktober 1943 nach Auschwitz. Dort musste Rafael Olewski in verschiedenen Arbeitskommandos Zwangsarbeit leisten, ehe er im Januar 1945 Richtung Westen getrieben wurde.
Sein jüngerer Bruder Israel Mosche schloss 1937 die Talmudhochschule in Lublin mit sehr guten Leistungen ab. Zwei Jahre später wurde er als Rabbiner der Ge meinde Izbica Kujawska eingesetzt. 1941 flüchtete er mit seiner Familie in das Ghetto Tschenstochau. Die SS löste das Ghetto ab September 1942 auf und deportierte etwa 40.000 Bewohner nach Treblinka. Zu den dort un mittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern Ermor deten gehörten die Ehefrau, der gemeinsame Sohn und die Mutter der Olewski-Brüder. Israel Mosche über lebte verschiedene Arbeits- und Konzentrationslager und kam schließlich in das KZ Mittelbau-Dora.
Heinz Galinski und Rafael Olewski teilten ab Auschwitz denselben Verfolgungsweg, der sie über das Außenlager Gleiwitz des KZ Auschwitz schließlich in das KZ Mittelbau-Dora führte. Dort beginnt die gemeinsame Geschichte der vier hier Porträtierten: Anfang April 1945 räumte die SS den Mittelbau-Dora-Komplex. Etwa 20.000 Häftlinge schickte sie in Richtung Bergen-Belsen.²
Alle vier trafen zwischen dem 10. und 11. April 1945 im sogenannten Kasernenlager ein.³ Dort waren die Bedingungen erheblich besser als im Hauptlager des KZ Bergen-Belsen. Zwar starben Häftlinge, es gab jedoch keine Epidemien und kein Massensterben. Gleichwohl herrschten Mangel an Essen und Trinken wie auch beengte Verhältnisse in den überfüllten vormaligen Wehrmachtsunterkünften. Mehr als 15.000 Häftlinge verteilten sich auf 24 Mannschafts- und sieben Wirtschaftsbaracken. In einem Gebäude, das ursprünglich für die Belegung von maximal 190 Soldaten gedacht war, mussten bis zu 700 Häftlinge Platz finden. Die Wirtschaftsbaracken waren für eine Unterbringung von Menschen überhaupt nicht ausgelegt.
Die nach Deutschland verschleppten und hier befreiten KZ-Häftlinge, Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter erhielten von den Alliierten den Rechtsstatus „Displaced Persons“ (DP). Damit besaßen sie Anspruch auf besondere Fürsorge.
In der Kaserne Bergen-Hohne entstanden zwei Displaced Persons Camps: ein polnisches und ein jüdisches, das sich im Laufe der Zeit zum größten in Deutschland entwickelte.⁴
Drei Wochen nach der Befreiung und zwei Tage vor Kriegsende wurden auf Veranlassung der britischen Militärregierung am 6. Mai 1945 etwa 1.000 polnische Juden, unter ihnen die beiden Olewski-Brüder, in die etwa 30 km entfernte Heidekaserne in der Stadt Celle verlegt. Damit sollte in der Kaserne Bergen-Hohne Platz für die weitere Unterbringung von den mehr als 30.000 Überlebenden des Hauptlagers geschaffen werden.
Kurze Zeit später wurde auch in Celle ein jüdisches Komi tee gegründet, dessen Leitung Rafael Olewski übernahm. Gemeinsam mit David Rosenthal und Paul Trepman, die er im Vernichtungslager Auschwitz kennengelernt hatte und deren Wege seitdem gleich verliefen, beschloss er eine Zeitung herauszugeben. Diese trug den programma tischen Titel „Unzer Sztyme“. Die erste Ausgabe erschien am 12. Juli 1945 und war handgeschrieben. Auf zwölf Sei ten berichteten die Autoren über das aktuelle Leben im Land der Täter und die damit verbundenen Schwierigkei ten. Die Zeitung erschien in Jiddisch mit hebräischen Let tern. Dadurch waren weder der britischen Militärregierung noch der deutschen Bevölkerung die Inhalte zugänglich. Es gab jedoch Ausnahmen: Am Ende der ersten Ausga be stand ein ausdrücklicher Dank in deutscher Sprache an Josef Rosensaft als „Vorsitzenden des Centralen [sic!] Jüdischen Komitees“ für die „bereitwillige Mithilfe bei der Herausgabe“ der Zeitschrift.5 Beim hier genannten Komi tee handelte es sich um das am 24. Juni 1945 gegründete Zentralkomitee der befreiten Juden in der britischen Zone (ZK). Neben der Leitung des jüdischen Komitees in Bergen Belsen oblag Josef Rosensaft, der in der Kaserne verblie ben war, auch die Leitung des ZK.6 Es verstand sich als Selbstvertretungsorgan der jüdischen Überlebenden und warb beständig für die Anerkennung als eigene Nation und die Einwanderung nach Palästina. Die Brüder Olewski ge hörten ebenfalls diesem Komitee an, das durch Wahlen im September 1945 während des 1. Kongresses der befreiten Juden in der britischen Zone legitimiert worden war.
Innerhalb kurzer Zeit gingen aus den zunächst provisorischen Komitees institutionelle Strukturen hervor, die bis zur Auflösung des DP-Camps in Bergen-Belsen im Sommer 1950 bzw. in Upjever im Sommer 1951 bestehen blieben. Die Option, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, kam für die Mehrzahl der jüdischen Überlebenden, die hauptsächlich aus Polen, Ungarn und Rumänien stammten, nicht in Frage. Sie waren oftmals die einzigen der Familie, die überlebt hatten, waren ihrer Wurzeln beraubt und sahen sich mit dortigen antisemitischen Pogromen konfrontiert. Niemand ahnte 1945, dass aus der vorübergehenden Wartesituation im Land der Täter eine jahrelange werden sollte.
Etwa im Mai 1945 muss Heinz Galinski Bergen-Belsen in Richtung Berlin verlassen haben.
Er kam dort über Umwege im August 1945 an und musste feststellen, dass er der einzige Überlebende seiner Familie war: Ehefrau und Mutter waren in Auschwitz im März und April 1943 gestorben. Sofort engagierte er sich in der im Dezember 1945 neugegründeten jüdischen Gemeinde in Berlin, wobei er noch nicht wusste, ob er dauerhaft dort bleiben wollte. Im Sommer 1947 lernte Heinz Galinski die jüdische Überlebende Ruth Weinberg kennen. Noch im Oktober des Jahres heirateten sie in Berlin. Das Paar plante, in die USA auszuwandern, doch die Geburt der Tochter 1949 veranlasste sie schließlich, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Im selben Jahr übernahm Heinz Galinski den Vorsitz der jüdischen Gemeinde in Berlin – ein Amt, das er Jahrzehnte bis zu seinem Tod innehaben sollte. Er verschrieb sein Leben fortan dem Aufbau der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland. In dieser Funktion setzte er sich für die rechtliche Gleichstellung der aus rassistischen bzw. politischen Gründen Verfolgten ein.⁷ Unter seiner Beteiligung wurden erste Gesetze zur Entschädigung auf den Weg gebracht. Als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlins gehörte er auch zu den Gründungsmitgliedern des im Jahr 1950 gebildeten Zentralkomitees der Juden in Deutschland.
Die Motivation für sein Engagement begründete er später so: „Ich hatte mir im KZ vorgenommen, mein Leben in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen.“⁸ Das wurde für ihn zu einer Lebensaufgabe.
Deutliche Worte fand Rafael Olewski für sein Wirken: „Ich sah in der Organisierung eines neuen jüdischen Lebens eine Order von oben, eine Art Rache an einer Welt, die sich uns gegenüber feindlich gesinnt zeigte, einen Protestakt […]. Wir werden uns organisieren und in unser Zuhause zurückkehren – nach Zion: Genug Diaspora!“⁹
Die zügige Emigration nach Erez Israel und der Aufbau eines unabhängigen jüdischen Staats bestimmte die Tätigkeiten des Zentralkomitees der befreiten Juden in der britischen Zone, dem mehrheitlich Zionisten angehörten. Der Historiker Koppel S. Pinson befand bereits im April 1947, dass die Verfolgungserfahrung keinen anderen Schluss als die Auswanderung nach Palästina und den Kampf dafür zuließ.¹⁰
Josef Rosensaft als Leiter des jüdischen Komitees und des Zentralkomitees und Rafael Olewski als Leiter der Kulturabteilung und der Historischen Kommission des ZK nutzten ihre jeweiligen Funktionen, um nicht nur gegenüber der britischen Militärregierung, sondern gegenüber der Weltöffentlichkeit die Positionen der jüdischen Überlebenden zu verdeutlichen. Dafür reisten sie zu nationalen und internationalen Kongressen und organisierten eigene.
Eine von Rafael Olewski kuratierte Ausstellung mit dem programmatischen Titel „Unser Weg in die Freiheit“ mit mehr als 3.000 Exponaten fasste den Kampf bis dahin eindrucksvoll zusammen.¹¹ Die Ausstellung wurde eröffnet während des zweiten Kongresses der befreiten Juden in der britischen Zone, der im Juli 1947 im DP-Camp Bergen-Belsen und in Bad Harzburg stattfand. Dort begegneten sich alle vier Gründungsmitglieder des ersten jüdischen Komitees wieder. Es blieb vermutlich das einzige gemeinsame Wiedersehen.
Zu diesem Zeitpunkt hatten Josef Rosensaft und die Olewski-Brüder bereits den Bund der Ehe geschlossen. Rosensaft heiratete die Auschwitz- und Bergen-Belsen-Überlebende Hadassa Bimko, die als einzige Frau dem Zentralkomitee angehörte. Rafael Olewski ehelichte die Überlebende Rachela Zelmanowicz, die dem Frauenorchester Auschwitz angehörte, und sein Bruder die Überlebende Zlata Posner. Die drei Ehen wurden in Lübeck bzw. Celle geschlossen und die Geburt von Kindern ließ nicht lange auf sich warten: Jochevet, die Tochter von Rafael Olewski, und Menachem, der Sohn von Josef Rosensaft, erblickten im März 1947 und Mai 1948 im DP-Camp Bergen-Belsen das Licht der Welt. Samuel und Jehuda Leib, die Söhne von Israel Mosche Olewski, wurden im Februar 1948 und Juli 1949 in Celle geboren. Dort gründete er die jüdische Gemeinde neu. Die Synagoge, die aufgrund ihrer Lage inmitten von Fachwerkhäusern und zum Schutz der deutschen Bevölkerung im November 1938 nicht zerstört worden war, entwickelte sich unter ihm als Gemeinderabbiner rasch zum religiösen Zentrum in Celle und Umgebung.
Insbesondere die ultra-orthodoxen Bewohner des DP-Camps Bergen-Belsen nahmen eine kritische Haltung gegenüber dem Zentralkomitee ein. Sie sahen sich durch das Organ nicht vertreten und forderten u. a. eine orthodoxe Lebensweise ein. Auch kam für die meisten Ultraorthodoxen eine Auswanderung nach Erez Israel nicht in Betracht. Inwieweit der ultra-orthodoxe Israel Mosche Olewski der zionistischen und liberalen Ausrichtung des Zentralkomitees zustimmte, ist nicht bekannt. Zumindest im Sommer 1945 hatte er noch angegeben, nach Palästina auswandern zu wollen.¹² Die Mehrheit der Ultraorthodoxen bevorzugte, in die USA auszuwandern, wie es letztlich auch Israel Mosche Olewski im November 1950 tat. Seine Frau und er bekamen noch drei weitere Söhne. Im New Yorker Stadtteil Brooklyn gründete der Rabbiner eine berühmte Jeschiwa, die in der Tradition der Chassidim von Ger steht.
Sein Bruder Rafael war bereits anderthalb Jahre zuvor, im April 1949, nach Israel emigriert. Hier gehörte er im Jahr 1950 zu den Mitbegründern und später Vorsitzenden der Vereinigung der Überlebenden Bergen-Belsens in Israel, dem „Irgun Sheerit Hapleita“. Der Verband existiert noch heute. Im Dezember 1950 erblickte Sohn Arie das Licht der Welt.
Das Jahr 1950 war auch für Heinz Galinski und Josef Rosensaft prägend: Beide nahmen in ihrer jeweiligen Funktion als Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Berlin bzw. in der vormaligen britischen Besatzungszone als Delegierte am 19. Juli an der Gründung des Zentralrats der Juden in Frankfurt am Main teil. Galinski gehörte dem ersten vierköpfigen Direktorium an. Zweimal bekleidete er die Führungsposition im Zentralrat: von 1954 bis 1963 und von 1988 bis 1992.
Im Sommer 1950 schloss sich das Kapitel des jüdischen DP-Camps in Bergen-Belsen. Die noch etwa 800 dort lebenden Personen wurden in das extra dafür geschaffene DP-Camp Upjever im Landkreis Friesland verlegt. Das Camp wurde im August 1951 aufgelöst. Bis zum letzten Tag fungierte auch dort Josef Rosensaft als Leiter, obwohl seine Ehefrau und sein Sohn zu diesem Zeitpunkt bereits in der Schweiz lebten. Bis zur Emigration in die USA im Jahr 1958 bestritt Rosensaft seine Vorhaben mit der gleichen Vehemenz wie zuvor. Zum Beispiel engagierte er sich bei der Gestaltung einer Gedenkstätte in Bergen-Belsen oder beim sogenannten Gräberstreit mit Frankreich. Die Überlebenden selbst waren es, die das ehemalige Lager zum Ort der Erinnerung machten. Auch Rosensaft, ein glühender Verfechter der Gründung des Staates Israel, entschied sich gegen eine Auswanderung dorthin. Letztlich spielten bei der Entscheidung persönliche Motive und private Umstände eine größere Rolle als die politische Überzeugung.
In den USA gründete Josef Rosensaft, oder „Yossele“, wie ihn viele seiner Wegbegleiter nannten, zusammen mit weiteren Überlebenden die „World Federation of Bergen-Belsen Associations“, deren Vorsitz er einnahm.¹³
Wie Rafael Olewski und Heinz Galinski setzte sich Josef Rosensaft zeitlebens für die Belange der Überlebenden ein, nahm an zahlreichen Kongressen und Gedenkveranstaltungen teil, richtete solche aus und förderte Projekte, die sich mit der Shoah und den Folgen auseinandersetzten.
Israel Mosche Olewski starb 1966 in Brooklyn und fand seine letzte Ruhestätte in Jerusalem. Josef Rosensaft starb 1975 während einer Reise in London und wurde in New York beigesetzt. Rafael Olewski starb 1981 in Ramat Gan. Heinz Galinski starb in seinem 80. Lebensjahr 1992 in Berlin. Seine vom Zentralrat der Juden in Deutschland ausgerichtete Beerdigung fand unter großer Anteilnahme statt.¹⁴
Jeder der hier Porträtierten hat nach der gemeinsamen Gründung eines jüdischen Komitees im befreiten Konzentrationslager Bergen-Belsen auf unterschiedliche Weise zum Wiederaufbau einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft und Kultur nach der Shoah beigetragen. Die Spuren sind bis heute in Deutschland, in den USA und in Israel sichtbar: Nach Heinz Galinski sind eine Schule und eine Straße in Berlin benannt. Israel Mosche Olewski, der noch heute in der chassidischen Welt als „Celler Rav“ verehrt wird, stand im letzten Sommer im Mittelpunkt der vom Israel Jacobson Netzwerk für jüdische Kultur und Geschichte e. V. organisierten 5. Jüdischen Kulturtage zwischen Harz und Heide.¹⁵
Auch die nächsten Generationen der Olewski-Brüder und Josef Rosensafts sehen sich ihrem Erbe verpflichtet: Arie Olewski ist im Sommer 2024 zum Vorsitzenden des Irgun Sheerit Hapleita ernannt worden. Zuvor hatte diesen Posten seine Schwester Jochevet Ritz-Olewski inne, die im Februar 2024 im Alter von 76 Jahren gestorben ist. Beide Geschwister haben im Gedenken an ihren Vater und der Zeitung „Unzer Sztyme“ die Herausgabe der Zeitschrift Our Voice initiiert. Einer der Söhne Israel Mosche Olewskis stand bis zu seinem Tod im Jahr 2020 als Rabbiner der chassidischen Gemeinde der Ger in Brooklyn vor. Nach seinem Tod übernahm dessen Sohn, der die Vornamen seines Großvaters trägt, diese Funktion.
Menachem Rosensaft wiederum ist Vorsitzender der World Federation of Bergen-Belsen Associations und setzt sich mit demselben Engagement wie sein Vater für die Belange von Überlebenden und im DP-Camp Bergen-Belsen Geborenen ein.
Katja Seybold ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Bergen-Belsen und Expertin für die Geschichte des Displaced-Persons-Camp Bergen-Belsen.
1 Für einen allgemeinen Überblick über die Geschichte der Lager in Bergen-Belsen, siehe: Stiftung niedersächsische Gedenkstätten (Hrsg.) (2019): Bergen-Belsen. Kriegsgefangenenlager 1940–1945. Konzentrationslager 1943–1945. Displaced Persons Camp 1945–1950. Katalog der Dauerausstellung, 2. Auflage, Celle.
2 Zu den Todesmärschen und Räumungstransporten des Mittelbau-Dora-Komplexes, siehe: Heubaum, Regine / Wagner, Jens-Christian (Hrsg.) (2015): Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945. Begleitband zur Ausstellung, Gera.
3 Zur Geschichte der Wehrmachtkaserne Bergen-Hohne, siehe: Wagner, Jens-Christian (Hrsg.) (2020): Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehrmacht und die Kaserne Bergen-Hohne. Begleitband zur Ausstellung, Göttingen.
4 Das polnische DP-Camp wurde im September 1946 aufgelöst.
5 Unzer Sztyme, Nr. 1, 12. Juli 1945, siehe: https://jplarchives.org/unzer-sztyme-issue-1 (Zugriff 31.10.2024).
6 Die britische Militärregierung verweigerte Josef Rosensaft auch in den Folgejahren die Anerkennung als Leiter des Zentralkomitees. Lediglich als Leiter bzw. Sprecher des Jüdischen Komitees in Bergen-Belsen akzeptierte sie ihn.
7 Im Oktober 1979 fand in der Gedenkstätte Bergen-Belsen eine Gedenkfeier und Großkundgebung zur Erinnerung an den Völkermord der Sinti und Roma statt. Galinski sendete ein Grußwort, das verlesen wurde, da er aufgrund des Schabbats nicht persönlich teilnehmen konnte. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es ihm nicht allein um jüdische Belange ging.
8 Galinski, Heinz (1995): Neubeginn jüdischen Lebens in Berlin, in: Brenner, Michael: Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945–1950, S. 147–150, hier: S. 148.
9 Wiehn, Erhard Roy (Hrsg.) (2014): Rafael Olewski. Tor der Tränen. Jüdisches Leben im Schtetl Osięciny in Polen, Leiden unter NS-Terror und in Auschwitz, Überleben im KZ Bergen-Belsen, dort im DP-Camp und in Celle 1914–1981, Konstanz, S. 310. Es handelt sich hier um die posthum veröffentlichte Autobiografie Rafael Olewskis, die dieser in Jiddisch verfasst hatte. Es ist auch eine Gedenkschrift für seinen früh verstorbenen Bruder Israel Mosche.
10 Vgl. Pinson, Koppel S. (1947): Jewish Life in Liberated Germany. A Study of Jewish DP’s, in: Jewish Social Studies, Volume 9, No. 2, S. 101–126, hier: S. 114ff., https://www.jstor.org/stable/4464750 (Zugriff 31.10.2024).
11 Seybold, Katja (2022): „Unser Weg in die Freiheit“. Blick zurück nach vorn. Eine Ausstellung der Displaced Persons (DPs) im Jahr 1947 in Bergen-Belsen, in: Tobias, Jim G. / Livnat, Andrea (Hrsg.): nurinst – Jahrbuch 2022. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Kultur in der Zeit der Verfolgung und danach, Nürnberg, S. 61–77.
12 Siehe A.E.F. D.P. REGISTRATION RECORD (1945), https://collections.arolsen-archives.org/de/search/person/124267416?s=Mosche%20Olewski&t=2741043&p=0 (Zugriff 31.10.2024).
13 Zur Biografie Josef Rosensafts siehe: Rosensaft, Hadassah (2004): Yesterday. My Story, Washington, D.C.
14 Umfassende Informationen zu Galinskis Biografie und dessen Wirken finden sich hier: Berndt, Juliane (2012): „Ich weiß, ich bin kein Bequemer…“. Heinz Galinski – Mahner, Streiter, Stimme der Überlebenden, Berlin. Eine Festschrift, die ursprünglich zum 80. Geburtstag Galinskis herausgegeben werden sollte, wurde kurzerhand zu einer Gedenkschrift umgewidmet: Nachama, Andreas / Schoeps, Julius H. (Hrsg.) (1992): Aufbau nach dem Untergang. Deutsch-jüdische Geschichte nach 1945. In memoriam Heinz Galinski, Berlin.
15 Siehe: https://ij-n.de/aktivitaeten/juedische-kulturtagezwischen-harz-und-heide/juedische-kulturtage-zwischenharz-und-heide-2024/ (Zugriff 31.10.2024).