In der Gegend um die altmärkische Kleinstadt Gardelegen fallen sie Reisenden entlang der Straßen und Feldwege auf: kleine quaderförmige Gedenksteine, weiß angestrichen, markiert mit einem roten Dreieck und der Datumsangabe „13.4.1945“ in schwarzer Aufschrift, viele umgeben von einer Steineinfassung in Form eines Dreiecks. Egal aus welcher Himmelsrichtung heute die Anreise nach Gardelegen erfolgt: Der Weg führt unausweichlich an diesen Steinen vorbei. Ursprünglich waren es 75 Steinquader, alle in diesem identischen Erscheinungsbild. Unter der Bezeichnung „Nationaler Mahn- und Gedenkweg“ wurden sie entlang unterschiedlicher Straßen und Wegeverbindungen auf einer Länge von mehr als 36 Kilometern Mitte der 1960er Jahre errichtet.²
Schwerpunkt: 80 Jahre Kriegsende
m April 1945 wurden Tausende KZ-Häftlinge aus den Lagerkomplexen Mittelbau und Neuengamme auf Räumungstransporten und Todesmärschen in oder durch die Altmark getrieben1. Viele von ihnen überlebten nicht: Sie starben an Entkräftung oder wurden unterwegs vom KZ-Wachpersonal und von Mitgliedern lokaler NS-Organisationen ermordet. Viele dieser nationalsozialistischen Endphaseverbrechen, die zumeist nur wenige Tage oder gar Stunden vor dem Eintreffen US-amerikanischer Truppen verübt wurden, sind gut bekannt und dokumentiert. Nähere Details zur Täterschaft allerdings wurden nach Kriegsende lange Zeit verschwiegen oder verdrängt.
Ihre Standorte waren nicht zufällig gewählt. Ausgehend von den Bahnhöfen in den beiden Ortschaften Mieste und Letzlingen, auf denen im April 1945 drei Transportzüge aus Außenlagern der KZ-Komplexe Mittelbau und Neuen gamme mit insgesamt mehreren Tausend verschleppten Häftlingen und dem KZ-Wachpersonal ungeplant zum Stehen kamen, markiert dieses Wegenetz die einstigen Todesmarschstrecken von dort bis in die nahegelegene Stadt Gardelegen. Und weiter bis zur an ihrem nordöst lichen Stadtrand gelegenen damaligen Mahn- und Ge denkstätte Isenschnibber Feldscheune, dem historischen Tatort und Ehrenfriedhof für die Ermordeten des Massakers von Gardelegen am 13. und 14. April 1945. Ursprünglich sollte die Gedenksteinkette sogar noch viel länger reichen: Sie sollte Gardelegen mit der Gemeinde Rottleberode verbinden und perspektivisch auch über niedersächsisches Gebiet verlaufen.3
Mit der Errichtung des steingesäumten Gedenkwegs verband sich die gestalterische Absicht, möglichst publikumswirksam im öffentlichen Raum an die Todesmärsche der KZ-Häftlinge aus Neuengamme und Mittelbau zu erinnern. Und damit auch an die Endphaseverbrechen an KZ-Häftlingen, die unterwegs entlang der Marschwege ermordet wurden. Zugleich würde durch diese Monumente, so hieß es im Konzeptpapier der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald und des Deutschen Kulturbundes, ganz im Sinne des staatlich verordneten Antifaschismus „besonders unserer Jugend auch deutlich vor Augen geführt, wie die Bürger unserer Deutschen Demokratischen Republik unter der Führung der Partei der Arbeiterklasse die Vergangenheit bewältigt haben und wie in Westdeutschland die Globkes und die Blutrichter, auf deren Konto die Massaker der Antifaschisten kommen, heute wie damals, die Naziideologie durchsetzen wollen“.⁴
Heute sind immer noch fast 70 Steine dieser kilometer langen Gedenkanlage erhalten. Außerdem sind in rund 20 Ortschaften, die heute als Teilgemeinden zur Hanse stadt Gardelegen gehören, große Steinwürfel erhalten, die in den 1960er-Jahren in den Dörfern auf zentral gelegenen Plätzen errichtet wurden. Ihre Aufschriften verweisen auf die im Frühjahr 1945 hindurchziehenden Todesmärsche von KZ-Häftlingen und auf Morde an Entkräfteten, die nicht mehr Schritt halten konnten. In fast allen dieser Ortschaften befinden sich auch lo kale Friedhöfe, auf denen insgesamt mehrere Hundert KZ-Häftlinge in gekennzeichneten Einzel- oder Sammel grabanlagen bestattet sind. Die größte Grabanlage die ser Art mit insgesamt 1.023 Einzelgräbern ist der Ehren friedhof für die Ermordeten des Massakers in der Isen schnibber Feldscheune am Rand der Stadt Gardelegen. Im Stadtgebiet selbst befinden sich an einigen Hausfas saden rechteckige Gedenktafeln, die auf Erschießungen von KZ-Häftlingen durch SS-Wachleute im April 1945 vor den jeweiligen Häusern hinweisen: eine sogar an einer Gaststätte, die heute „Schützenhaus“ heißt.
Trotz der beeindruckenden Sichtbarkeit und Dichte von Gedenkzeichen in der Region, die Schulen und außerschulische Bildungseinrichtungen regelmäßig zur Vermittlung der Geschichte der lokal verübten Todesmarsch- und Endphaseverbrechen nutzen, herrscht vielerorts noch historische Unkenntnis zu deren tat- und ereignisgeschichtlichem Hintergrund vor. Selten informieren die Aufschriften an den Gedenk- und Begräbnisorten detailliert. Zu lesen ist dort oftmals von „antifaschistischen Widerstandskämpfern“ oder von „Opfern des Faschismus“, die „von der SS“ oder schlichtweg „von Faschisten“ ermordet wurden. Die kollektiven Gruppenzuschreibungen im Duktus der bei ihrer Errichtung offiziellen DDR-zeitgenössischen Agitprop-Sprache sind Zeugnisse der damaligen Gedenk- und Erinnerungskultur.
Sowohl auf der Seite der Ermordeten als auch auf Seite der Täter anonymisie ren, verschleiern oder pauschalisieren sie affirmativ, an statt den konkreten Verlauf von Ereignissen und die mit diesen Endphaseverbrechen verbundene NS-Täterschaft zu verdeutlichen. Viele Gedenkzeichen in dieser Region sind damit bis heute sichtbare Relikte des damals staat lich verordneten Antifaschismus. Dessen Fokus auf den „planmäßigen Aufbau des Sozialismus“ ließ wenig Raum für die Thematisierung der weit verbreiteten gesellschaft lichen Mittäterschaft an NS-Verbrechen.
Zeitlich lassen sich die Räumungstransporte und Todesmärsche aus den KZ-Komplexen Mittelbau und Neuengamme in die Altmark in die letzte Phase der Auflösung des KZ-Systems im Frühjahr 1945 einordnen. Für das Wachpersonal von SS und Wehrmacht, das die Häftlinge in Transportzügen und auf Todesmärsche aus beiden KZ-Komplexen weiterzwang, war diese Region lediglich ein Transitraum auf dem Weg zu anderen Zielorten. Größere Häftlingsgruppen durchquerten sie vor allem in Zügen auf den Bahnstrecken aus Hannover und Magdeburg in Richtung Stendal und Salzwedel und zwischen Salzwedel und Stendal selbst, dort in beide Fahrtrichtungen.5 Auch die Elbe wurde als Weg für Räumungstransporte auf Lastkähnen aus den beiden Außenlagern Blankenburg-Oesig und Blankenburg-Regenstein des KZ-Komplexes Mittelbau flussabwärts in Richtung Hamburg und Schleswig-Holstein genutzt. Tote Häftlinge wurden bei Zwischenhalten in der Nähe von Bahnhöfen oder irgendwo auf freier Strecke zurückgelassen. Sie wurden entweder in provisorischen Massengräbern verscharrt oder – wie etwa beim Transportzug aus dem KZ Mittelbau-Dora in Richtung Ravensbrück an der Ritzer Brücke in Salzwedel – in ganzen Waggons abgekoppelt und zurückgelassen.6
Alliierte Luftangriffe auf Gleisanlagen, die in der ersten Aprilhälfte 1945 dem Vorrücken der US-Bodentruppen vorangingen, zerstörten viele Abschnitte der Bahnstrecken in der Region. Getroffene Munitionszüge wurden ebenfalls zu unüberwindbaren Hindernissen. Deshalb waren viele vormals für Häftlingstransporte genutzte Transitwege durch die Altmark schrittweise ab dem 7. April 1945 nicht mehr passierbar. Davon betroffen waren insbesondere drei Transportzüge, die zwischen dem 7. und dem 11. April 1945 kurz vor Gardelegen in den Bahnhöfen der Ortschaften Mieste und Letzlingen ungeplant zum Stehen kamen: ein Transportzug mit rund 2.000 Häftlingen aus den Außenlagern Rottleberode, Stempeda, Ilfeld und Ellrich-Bürgergarten des KZ Mittelbau-Dora; ein zweiter Transportzug mit etwa 1.100 Häftlingen aus den Außenlagern der SS-Baubrigade III in Mackenrode, Nüxei, Osterhagen und Wieda des KZ Mittelbau-Dora; schließlich ein dritter Transportzug mit ungefähr 400 Häftlingen aus dem Außenlager Hannover-Stöcken des KZ Neuengamme. Als wahrscheinlich ursprüngliche Ziele dieser Transportzüge werden heute die Konzentrationslager Neuengamme und Sachsenhausen vermutet. Doch die Verkettung situativer Ereignisse und unvorhergesehener Hindernisse unterwegs zwangen das Wachpersonal in den drei Räumungstransporten, die Streckenverläufe zu ändern und schließlich kurz vor Gardelegen anhalten zu müssen.
Dort kam es zu ersten Kontakten der KZ-Wachmannschaften in den Zügen mit Angehörigen lokaler NS-Organisationen und örtlichen Entscheidungsträgern in den Gemeinden. Außerdem trafen KZ-Häftlinge und die lokale Zivilbevölkerung aufeinander. Lokale Volkssturmgruppen und bewaffnete Zivilisten beteiligten sich daran, sowohl die Häftlinge in mehreren Gruppen auf Todesmärschen zu Fuß weiterzutreiben als auch Jagd auf diejenigen zu machen, die zu fliehen versuchten oder nicht mehr Schritt halten konnten. Eindrücklich beschrieb Albert van Dijk (1924–2021), Überlebender des KZ Mittelbau-Dora, seine damaligen Beobachtungen, als er sich nach einem erfolgreichen Fluchtversuch für kurze Zeit unter einer Brücke verstecken konnte: „Und dann sehe ich, wie Häftlinge über die Felder gehetzt werden, hinter ihnen die Hitlerjugend und Volkssturmleute mit Karabinern. Sie treiben die Häftlinge zurück zum Bahnhof Letzlingen. Und diejenigen, die sie nicht erwischen, werden gnadenlos abgeknallt.“7 Beim Anblick dieser Gewalt von lokaler Seite beschloss Albert van Dijk, sich den SS-Wachmannschaften aus dem Transportzug zu ergeben und zu ihnen zurückzukehren, da er glaubte, ihr Verhalten besser einschätzen zu können und so höhere Überlebenschancen zu haben. Andere Überlebende berichteten, von einheimischen Zivilisten Hilfe erhalten oder zumindest keine Gewalt erfahren zu haben. Das zeigt, dass es für die lokale Bevölkerung hinsichtlich des eigenen Verhaltens gegenüber den KZ-Häftlingen durchaus individuelle Entscheidungs- und Handlungsräume gab.8
In den Tagen nach ihrer Ankunft in den drei Transport zügen in Mieste und Letzlingen wurde etwa die Hälfte der rund 3.500 Häftlinge aus den KZ-Komplexen Mittelbau und Neuengamme in Gardelegen oder in der Umgebung ermordet. Bereits die beiden Bahnhöfe waren Schau plätze des Tötens und Sterbens.
In Mieste wurden 86 tote KZ-Häftlinge in einem Massengrab am Bahnhof verscharrt. Rund 800 Häftlinge wurden in insgesamt drei Gruppen unterteilt und auf unterschiedlichen Wegen weitergetrieben: einige erst in Richtung Norden, dann wegen der von dort nahenden US-amerikanischen Truppen in östlicher Richtung in die Stadt Gardelegen. Das KZ-Wachpersonal ließ diejenigen Häftlinge, die es als „marschunfähig“ betrachtete, von lokalen Bauern mit Pferdefuhrwerken in Richtung Gardelegen fahren.9 Fast 200 dieser rund 800 Häftlinge wurden unterwegs Opfer von Endphaseverbrechen: Mitglieder einer Fallschirmjägereinheit aus Gardelegen, die zusammen mit dem Wachpersonal aus dem KZ Mittelbau-Dora, lokalen Volkssturmverbänden und der Hitlerjugend die Bewachung dieser Todesmarschgruppen übernahmen, erschossen bei und in Estedt 112 KZ-Häftlinge, teils sogar mitten im Dorf.10 Die Bewacher ermordeten weitere 76 Häftlinge entlang der Wegstrecke über Solpke, Zichtau, Wiepke und Berge.11
Am Bahnhof in Letzlingen kam es zu einer Massenpanik, als ein alliierter Tiefflieger den nicht als Häftlingstransport gekennzeichneten Zug überflog, die Lokomotive beschoss und diese daraufhin fahrunfähig war. Bei der anschließen den Jagd der Wachleute von SS und Wehrmacht zusam men mit Angehörigen des Volkssturms und der Hitler jugend auf rund 200 entflohene Häftlinge – Albert van Dijk war einer von ihnen – wurden etwa 50 von ihnen in der Gegend zwischen den Dörfern Letzlingen, Wan nefeld und Roxförde erschossen.12 Die wieder Zusam mengetriebenen wurden dann in mehreren Gruppen auf Fußmärsche in Richtung Gardelegen gezwungen, weitere 700 Häftlinge in andere Himmelsrichtungen verschleppt, insbesondere in östlicher Richtung durch die Colbitz Letzlinger Heide. Die Bewacher lockten eine Gruppe von etwa 125 Häftlingen zwischen den Dörfern Jävenitz und Hottendorf in eine tödliche Falle: Unter Andeutung eines baldigen Eintreffens von US-Truppen, denen sie übergeben würden, sammelten sie sie in einem Wald stück und eröffneten dann das Feuer. Dabei erschossen sie mindestens 35 Häftlinge. Mitglieder der lokalen Hitler jugend töteten bei Hottendorf mindestens vier Häftlinge, die zuvor aus der Marschkolonne geflohen waren.13
Aus anderen Häftlingsgruppen wurden in der Umgebung des Dorfes Dolle mindestens 66 KZ-Häftlinge ermordet und in mehreren anonymen Massengräbern verscharrt: teils neben den Wegstrecken, teils an abgelegenen Orten in den Wäldern. Gerüchte hierzu waren in der Umgebung von Dolle nach 1945 verbreitet. Erst im März 1949 brachte eine vom damaligen Landkreis Wolmirstedt und der lokalen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) initiierte Exhumierung mit kriminologischer Untersuchung der geöffneten Grablagen Erkenntnisse zum Tathergang: Fast alle Toten wiesen keine Einschussspuren, sondern stattdessen Schädelverletzungen auf, die auf Schläge mit schweren Werkzeugen, Spaten oder anderen stumpfen Gegenständen zurückgeführt wurden. Aus dieser Auffälligkeit zogen die Kreisbehörde und der VVN-Ortsverband im Dokumentationsbericht den Schluss, dass die Häftlinge nicht von bewaffneten SS- oder Volkssturmleuten, sondern vielmehr von der lokalen Bevölkerung erschlagen worden waren.14 Die exhumierten Toten wurden wenige Tage später, am 4. April 1949, in einem Massengrab am nördlichen Rand des Dorfes Dolle feierlich beigesetzt. Der Dokumentationsbericht skizziert auch die Reaktionen der damaligen Bevölkerung und erwähnt ihr auffälliges Desinteresse, ihre „spontane Schwerhörigkeit“ und ihren „auffälligen Gedächtnisverlust“, sobald die offiziellen Gespräche der ermittelnden Behörden die anonymen Massengräber rund um Dolle thematisierten.15
Mehr Glück hatten rund 500 Häftlinge, die am 12. April 1945 die Ortschaft Burgstall erreichten. Zwischen dem Befehlshabenden der sie treibenden SS-Wachmannschaften und dem Bürgermeister der Ortschaft entspann sich ein Streit um Befehlsgewalten und Zuständigkeiten. Während der SS-Angehörige vom Bürgermeister die Benennung eines Erschießungsortes zur Ermordung der KZ-Häftlinge einforderte, zog dieser seine Zuständigkeit für die Erteilung einer solchen Anordnung im Gemeindegebiet in Zweifel. Da sich die Diskussion lange hinzog, setzten sich schließlich die SS-Leute abends in östlicher Richtung ab, die Häftlinge verblieben in Burgstall. Eintreffende US-Truppen konnten sie am darauffolgenden Tag befreien.16 In der lokalen Überlieferung wird die Geschichte bis heute zu einer heldenhaften Rettungsaktion mystifiziert, basierend auf den subjektiv gefärbten Aussagen der Beteiligten. Ob diese Einschätzung zutrifft oder ob es sich bei der Situation eher um ein simples behördlich-militärisches Zuständigkeitsgerangel handelte, bleibt unklar.17
Die mehr als 1.000 KZ-Häftlinge, die direkt in die Stadt Gardelegen getrieben wurden, wurden dort zunächst in der Reithalle der lokalen Remonteschule, einer durch Rückzug der Wehrmacht sich in Auflösung befindenden Militärkaserne eines Reiterregiments, eingepfercht. Am Abend des 13. April 1945 wurden sie von dort zu Fuß an den Stadtrand zur Isenschnibber Feldscheune getrieben. Manche der Häftlinge glaubten, sie würden am darauffolgenden Tag den bereits nahen US-Truppen übergeben werden. Stattdessen wurden sie in die Scheune gezwängt. Bewaffnete Mitglieder von SS und Wehrmacht verriegelten die Tore und umstellten das Gebäude gemeinsam mit Mitgliedern der Polizei, des Reichsarbeitsdienstes, des Volkssturms und weiterer lokaler NS-Organisationen. Durch einen Spalt im Tor warfen sie Brandsätze ins Gebäude, die das zuvor mit Benzin getränkte Stroh in Brand setzten und eine tödliche Feuer- und Rauchentwicklung im Inneren entzündeten. Häftlinge, die aus dem brennenden Gebäude zu fliehen versuchten, wurden von den umstehenden bewaffneten Einheiten erschossen. Nur wenige überlebten das Massaker.18
Hinzu kam das zweite Verbrechen am histori schen Tatort am darauffolgenden Tag, dem 14. April 1945: Um die Spuren des Massakers vor den heranrückenden US-Truppen zu vertuschen, kehrten Volkssturmange hörige sowie Mitglieder der lokalen Feuerwehr und des Technischen Notdienstes der Stadt zur Scheune zurück. Sie erschossen noch lebende Häftlinge und begannen damit, die Ermordeten in einem großen Längsgraben neben dem Gebäude zu verscharren. Doch die Aktion musste abgebrochen werden: Die US-Truppen nahmen die Stadt Gardelegen am Abend desselben Tages ein und entdeckten am darauffolgenden Tag den Tatort in der Feldscheune. Während ihrer anschließenden Dokumen tation des Verbrechens zählten sie 1.016 ermordete KZ Häftlinge in der Scheune und im noch nicht zugeschütte ten Graben. Die lokale Bevölkerung wurde in den kom menden Tagen gezwungen, den Tatort zu besichtigen, einen Ehrenfriedhof für die Ermordeten anzulegen und ihr Andenken dauerhaft zu bewahren. Eine Anordnung, die die Stadt Gardelegen bis heute als Grundstückseigen tümerin der am historischen Tatort bestehenden Gedenk stätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen weiter führt.19
Insgesamt ist die Geschichte der nationalsozialistischen Endphaseverbrechen an Häftlingen aus den KZ-Komplexen Mittelbau-Dora und Neuengamme in der Region der Altmark sichtbar. Zahlreiche Gedenkzeichen im öffentlichen Raum machen auf die Ereignisse im April 1945 aufmerksam. Zudem kümmern sich die zwischen den Jahren 2015 und 2020 neu konzipierte Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen, die Hansestadt Gardelegen, lokale Bildungseinrichtungen sowie zivilgesellschaftliche Vereine und Initiativen um eine präsente Gedenk- und Erinnerungskultur. Dass damit der versuchten Vertuschung dieser NS-Verbrechen bis heute entgegengewirkt werden konnte, darf zurecht als ein Erfolg betrachtet werden. Trotzdem sind viele Wissenslücken zur arbeitsteiligen (Mit-)Täterschaft an den Endphaseverbrechen verbreitet, insbesondere zur aktiven Beteiligung der damaligen Zivilbevölkerung.
Diese Wissenslücken sind Folgen und Begleiterscheinungen vergangener erinnerungskultureller Zeitschichten. So beeinflussten die einseitigen und unvollständigen Geschichtsbilder des staatlich verordneten Antifaschismus aus DDR-Zeiten die Erinnerung an die Endphaseverbrechen. Lokal überwogen Erzählungen von Helden- und Rettungsaktionen. Zeugenvernehmungen vor dem Amtsgericht Gardelegen in den 1960er-Jahren boten vielen der Befragten eine willkommene Möglichkeit, die lokale Zivilbevölkerung und insbesondere sich persönlich als unbeteiligt und unwissend darzustellen, während Schuld und Verantwortlichkeiten für die Morde den ortsfremden SS-Angehörigen der KZ-Wachmannschaften zugeschrieben wurden. Diese Darstellung prägte auch die erste Dauerausstellung zur Geschichte der Todesmarsch- und Endphaseverbrechen im damaligen Stadtmuseum Gardelegen, die das in diesen Dokumenten zusammengetragene Narrativ der scheinbar unbeteiligten lokalen Bevölkerung und der ausschließlichen SS-Täterschaft der Öffentlichkeit präsentierte.
Auch der in der DDR verbreitete Antiamerikanismus wirkte nach und prägt das lokal verbreitete Geschichts bild der US-amerikanischen Truppen teilweise bis heute. Immer noch hält sich bei manchen hartnäckig der My thos, die Soldaten der 102. US-Infanteriedivision hätten angeblich aus Rache für das entdeckte Massaker die Stadt Gardelegen zerstören wollen und sich nur dank der Bitten des lokalen Pfarrers Friedrich Franz von diesem Plan abbringen lassen. Eine bequeme Legende, die sich zur Selbstviktimisierung der lokalen Bevölkerung anbietet und zur Täter-Opfer-Umkehr einlädt.
Entsprechend getrübt ist der Blick bis heute auf die tatsächlich heterogene Täterschaft in der damaligen NS-Gesellschaft. Doch zugleich zeigt das Beispiel der erinnerungskulturellen Thematisierung der Endphaseverbrechen in der Region um Gardelegen, wie eine professionelle Forschungs- und Bildungsarbeit in Gedenkstätten mit engagierten gebietskörperschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen konkret vor Ort zusammenwirken kann. Das gilt auch für die Gemeinde Dolle: Auf Initiative der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen, deren Außenstelle heute das im Jahr 1951 errichtete Todesmarschdenkmal über dem Massengrab der 66 ermordeten KZ-Häftlinge am Doller Ortsrand ist, ist dieses Sammelgrab seit 2023 offiziell als Kriegsgräberstätte anerkannt. Ein im selben Jahr durch die Gedenkstätte verfasstes Standortentwicklungskonzept zu beiden Gedenkorten in Gardelegen und Dolle sieht zeitgemäße forschungsbasierte digitale Informations- und Vermittlungsangebote vor, die partizipativ vor Ort zusammen mit lokalen Initiativen entstehen können.
Gerade mit Blick auf den gesellschaftlichen Rechtsruck, der sich aktuell auch in der Altmark zeigt, wäre es eine vertane Chance, von politischer Seite lediglich auf die Kosten und Ausgaben für eine Verwirklichung dieser Vorhaben zu schauen, anstatt sie als eine gewinnbringende Chance zu begreifen, eine geschichtsbewusst engagierte Zivilgesellschaft auch im ländlichen Raum zu stärken. Denn dem in offiziellen Gedenkreden oft beschworenen „Nie wieder!“ muss gerade auch dort eine konkrete politische Handlungsperspektive folgen.
Der Historiker Andreas Froese ist seit 2024 Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Zuvor war er von 2015 bis 2023 Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen.
1 Im Überblick zu den Todesmärschen nach Gardelegen: Diana Gring: Die Todesmärsche und das Massaker von Gardelegen. NS-Verbrechen in der Endphase des Zweiten Weltkriegs, Gardelegen 1993; Joachim Neander: Gardelegen 1945. Das Ende der Häftlingstransporte aus dem KZ Mittelbau, Magdeburg/Gardelegen 1998; Daniel Blatman: Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg 2011; Martin Clemens Winter: Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche, Berlin 2018; Lukkas Busche/Andreas Froese (Hg.): Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen, Gardelegen/Leipzig/Magdeburg 2022.
2 Konzeption der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald und des Deutschen Kulturbunds zu einem Nationalen Gedenkweg vom 9.7.1963, Stadtarchiv der Hansestadt Gardelegen, Bestand Stadtmuseum/Mahn- und Gedenkstätte, AZ Nr. 418, Bl. 85-95.
3 Ebd. Doch eine Umsetzung dieser großflächigen Projektvision scheiterte nicht nur finanziell, sondern vor allem an unterschiedlichen administrativen Zuständigkeiten und fehlender institutioneller Zusammenarbeit zwischen den Behörden in beiden deutschen Staaten.
4 Konzeption Nationaler Mahn- und Gedenkweg vom 9.7.1963, Bl. 85f.
5 Überblicke zu den Verläufen der Transport- und Todesmarschwege geben für den KZ-Komplex Neuengamme: Katharina Hertz-Eichenrode: Ein KZ wird geräumt. Häftlinge zwischen Vernichtung und Befreiung. Die Auflösung des KZ Neuengamme und seiner Außenlager durch die SS im Frühjahr 1945, Bremen 2000; für den KZ-Komplex Mittelbau: Regine Heubaum/Jens-Christian Wagner (Hg.): Zwischen Harz und Heide. Todesmärsche und Räumungstransporte im April 1945- Begleitband zur Wanderausstellung, Göttingen 2015.
6 Ulrich Kalmbach: Zwischen Vergessen und Erinnerung. Stätten des Gedenkens im Altmarkkreis Salzwedel, Salzwedel 2001, S. 63f.
7 Zeitzeugen-Interview mit Albert van Dijk (2006), Dokumentationsstelle der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
8 Eine lokale Berühmtheit erreichte das Handeln des Gardelegener Pfarrers Friedrich Franz, der vier niederländische KZ-Häftlinge in sein Haus aufnahm, um sie vor ihren Verfolgern zu verstecken, vgl. die Zeugenvernehmung von Pastor Ernst Olschewski vom 15.10.1985 durch das LKA Niedersachsen, in: Bundesarchiv Berlin, B 162/8657, Bl. 922f.
9 Aussage des KZ-Überlebenden Roger Maria vom 16.7.1947, in: Bundesarchiv Berlin, B162/8654, Bl. 281. Aus dieser Überlieferung entstand später der lokal verbreitete Mythos, die Bevölkerung habe die entkräfteten Häftlinge nicht auf Anordnung, sondern freiwillig aus eigener Mildtätigkeit auf Pferdefuhrwerken gefahren.
10 Aussage des damaligen Schmiedemeisters Heinrich Weber aus Estedt, in: Rupert Kaiser (Hg.): Tage im April, Gardelegen 1995, S. 20.
11 Die Ermordeten sind heute in Kriegsgräberstätten auf den Friedhöfen dieser Dörfer beigesetzt, vgl. Busche/Froese (Hg.): Gardelegen 1945. Das Massaker und seine Nachwirkungen, Gardelegen/Leipzig/Magdeburg 2022, S. 119.
12 Vermerk der Oberstaatsanwaltschaft Braunschweig vom 22.6.1959, Bundesarchiv Berlin, B 162/8658, Bl. 115.
13 Im offiziellen „Memorandum for Lieutenant Colonel Mize“ vom 2.8.1945 werden für rund 35 erschossene Häftlinge genannt, vgl. Nederlands Instituut voor Oorlogsdocumentatie (NIOD) 250k Nr. 121. Über die vier von Hitlerjungen getöteten Häftlinge berichtete der Anwohner Kurt Weigert aus Hottendorf, in: Tage im April, Gardelegen 1995, S. 23f. Auf den Friedhöfen in Jävenitz und in Hottendorf sind insgesamt 41 ermordete KZ-Häftlinge beigesetzt. Lokal wird aufgrund von sechs etwas abseits gelegenen Häftlingsgräbern auf dem Hottendorfer Friedhof vermutet, diese Häftlinge seien in einem Transportzug aus dem Neuengammer KZ-Außenlager Salzgitter-Watenstedt in die Altmark getrieben worden. Jedoch war die Bahnstrecke zwischen Mieste und Solpke zu diesem Zeitpunkt bereits unpassierbar und nicht zuletzt durch die beiden Transportzüge aus den Mittelbau-Außenlagern und dem Neuengammer KZ-Außenlager Hannover-Stöcken blockiert.
14 Bericht über Ausgrabungen in Dolle und Umgebung, 31.3.1949, Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen.
15 Ebd.
16 Protokoll der Untersuchungskommission der Sowjetischen Militäradministration zum Fall Burgstall, 14.2.1947, Sammlung der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen.
17 Fred Frome: Burgstall war nicht Isenschnibbe. Wie ein weiteres Massaker an KZ-Häftlingen verhindert werden konnte, in: Journal des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt 1-2021.
18 Die in Quellendokumenten und in der Forschungsliteratur genannten Zahlen gehen von 5 bis 8 Überlebenden des Massakers in der Scheune aus, unter Berücksichtigung von zuvor Entflohenen von rund 25 bis 33 Überlebenden. Den Verlauf des Massakers schildern die überlieferten Erinnerungsberichte von Überlebenden in einigen Details unterschiedlich, im groben Ablauf sehr ähnlich.
19 Deshalb ging mit der Aufnahme der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen in die landeseigene Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt im Mai 2015 nur die Trägerschaft, nicht jedoch die Eigentümerschaft von der Stadt Gardelegen auf das Land Sachsen-Anhalt über.