Am 26. April 1945 berichteten die Buchenwalder Nachrichten – eine der Lagerzeitungen, in denen Überlebende ihre befreiten Mitgefangenen über die Geschehnisse in der Welt und im befreiten Lager informierten – über den Besuch der amerikanischen Kriegsfotografin Thérèse Bonney in Buchenwald: „Die Korrespondentin der amerikanischen illustrierten Presse Miss Theres [sic!] Bonney, die sich besonders für das Schicksal der Jugend interessiert, hält sich heute im Lager auf.“1 Diese unscheinbaren Zeilen blieben für viele Jahrzehnte der einzige Hinweis auf die Anwesenheit der amerikanischen Kriegsberichterstatterin in Buchenwald, deren Name heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Denn im Gegensatz zu ihren beiden amerikanischen Kolleginnen Margaret Bourke-White und Lee Miller, die über eine Woche vor Bonney in Buchenwald Station gemacht hatten und deren Fotos später in den Bilderkanon über die nationalsozialistischen Verbrechen eingingen, veröffentlichte Thérèse Bonney ihre Fotos aus Buchenwald nie. Und auch in ihren zahllosen Reportagen und Artikeln erwähnte sie ihren Aufenthalt in dem befreiten Lager nicht – warum auch immer; über die Gründe lässt sich nur spekulieren.
In den Tagen und Wochen nach der Befreiung am 11. April 1945 wurde Buchenwald zu einem medialen Ereignis. Fotos und Filmaufnahmen gingen um die Welt. Die amerikanische Kriegskorrespondentin Thérèse Bonney veröffentlichte ihre Fotos aus dem befreiten Lager Buchenwald jedoch nie. Über Jahrzehnte schlummerten sie im Nachlass der Fotografin in einem amerikanischen Archiv.
Es war purer Zufall, als wir vor einigen Jahren bei einer Onlinerecherche in den Beständen der Bancroft Library der University of California in Berkeley auf den umfangreichen Teilnachlass von Thérèse Bonney stießen. Unter Tausenden Fotografien befanden sich auch nicht veröffentlichte Buchenwald-Fotos. Der Fund war spektakulär. Insgesamt waren es 67 Aufnahmen aus Buchenwald und vier Fotos aus dem befreiten Außenlager Ohrdruf bei Gotha, das Bonney ebenfalls besucht haben musste. Doch wer war die Frau, die sich insbesondere für das Schicksal der jugendlichen Überlebenden interessierte?
Mabel Thérèse Bonney wurde 1894 in Syracuse im US-Bundesstaat New York geboren2. Sie durchlief eine akademische Ausbildung mit Abschlüssen an der University of California in Berkeley und der Harvard University. Nach dem Ersten Weltkrieg ging sie nach Paris, wo sie 1921 an der Sorbonne mit einer Arbeit über die moralischen Ideen in den Theaterstücken von Alexandre Dumas promovierte. Zeit ihres Lebens blieb sie fortan eine Grenzgängerin zwischen ihrer Heimat, den USA, und Frankreich, wo sie zeitweise lebte. Eine Karriere als Fotografin oder Kriegsberichterstatterin war keineswegs vorgezeichnet. Thérèse Bonney war vielfältig interessiert und umtriebig. In Paris verkehrte sie in den Kreisen der zeitgenössischen Kunst- und Designelite, schloss Freundschaften mit zahlreichen Schriftsteller:innen und Künstler:innen und arbeitete zeitweise als Model.
Sie veröffentlichte Ratgeber und Reiseführer für Paris und gründete Mitte der 1920er-Jahre in der französischen Hauptstadt den ersten amerikanischen Bildpressedienst in Europa, eine Bildagentur namens „Bonney Service“. Neben der Designfotografie bildeten Fotografien der zeitgenössischen Kunst, der Architektur, der Mode und Wissenschaft Schwerpunkte der Agenturarbeit. Daneben setzte sie sich für den französisch-amerikanischen Kulturaustausch und die Kinderhilfe des Roten Kreuzes in Europa ein – ein Thema, das sie nicht mehr loslassen sollte.
Ernsthafte Versuche, eine Karriere als eigenständige Fotojournalistin zu starten, unternahm die erfolgreiche Geschäftsfrau erst mit Mitte 40. Für Furore sorgte 1938 eine Bilderstrecke über das Leben hinter den Mauern des Vatikan, die im Life-Magazin erschien. Nachhaltige Berühmtheit auf beiden Seiten des Atlantiks erlangte sie jedoch erst mit ihren Fotoreportagen von den europäi schen Kriegsschauplätzen. Es war vor allem der Zufall, der aus Thérèse Bonney eine Kriegsberichterstatterin werden ließ. Für mehrere geplante Fotoreportagen, die den Tourismus im Land ankurbeln und die Vorbereitungen der Olympischen Sommerspiele dokumentieren sollten, weilte sie ab Mitte 1939 in Finnland. Dort wurde sie von dem sich anbahnenden sowjetisch-finnischen Krieg, dem sogenannten Winterkrieg, überrascht. Bonney reagierte schnell und wurde zur Kriegsreporterin. Sie dokumen tierte die finnischen Manöver und Verteidigungsvorbe reitungen und fotografierte nach der sowjetischen Inva sion bis zum Frühjahr 1940 die Kriegshandlungen vor Ort. Durch Kontakte zu den obersten finnischen Behörden erhielt sie vielfach exklusiven Zugang zu den Orten des Geschehens. Bereits in Finnland entwickelte Bonney den Stil der Kriegsfotografie, der schon bald zu ihrem Markenzeichen werden sollte.
Bonneys Hauptinteresse galt nicht den typischen Motiven der Kriegsberichterstattung, den Schlachten, den Soldaten oder Waffen. Was sie mit der Kamera einzufangen suchte, waren die Auswirkungen des Krieges auf die Bevölkerung – “[...] to record with her camera what war does to the people”3, wie es in einer Pressemitteilung für ihre Ausstellung “War comes to the People. History written with the Lens” hieß, die Ende 1940 im Museum of Modern Art in New York erstmals gezeigt wurde. Ein besonderes Augenmerk legte sie hierbei auf die Situation der Kinder und Jugendlichen..
Aus Finnland reiste sie 1940 nach Belgien und Frankreich, wo sie die Folgen des deutschen Überfalls dokumentierte. Zu einem ihrer Leitmotive wurde die vor den deutschen Truppen flüchtende französische Zivilbevölkerung, erschöpfte Frauen, Kinder und Alte, die in Scheunen und anderswo Schutz suchten – Gruppen, die bis dahin nur selten Thema der Kriegsberichterstattung gewesen waren. In England fotografierte sie die Folgen des deutschen Luftkriegs. In den Jahren darauf pendelte Bonney zwischen den USA und Europa. Wiederholt bereiste sie das unbesetzte Frankreich. In Spanien ging sie den sozialen Langzeitfolgen des Bürgerkriegs nach, während sie 1941 wiederum aus Finnland berichtete. Bonney verstand sich hierbei nicht als eine bloße Dokumentarin des Leids der Bevölkerung. Gleichzeitig war sie immer auch eine humanitäre Aktivistin. Vor Ort unterstützte sie die Arbeit des Roten Kreuzes, half Hilfsgüter zu verteilen und organisierte Spenden. Zahlreiche öffentliche Auszeichnungen zeugten von ihrem Engagement.
Ihre Bemühungen, die Aufmerksamkeit der Welt auf die Not der Kinder zu richten, mündeten 1943 in dem bekanntesten ihrer zahlreichen Bücher: „Europe’s Children, 1939 to 1943“. Über 60 Fotos aus Frankreich, Spanien, England, Schweden und Finnland visualisierten das kriegsbedingte Leid. Das Buch und eine begleitende Ausstellung wurden zu einer medialen Sensation und steigerten ihre Bekanntheit einmal mehr. Im Juli 1944 wurde sie zur Titelheldin des amerikanischen True Comics „Photo Fighter“, der ihren Einsatz als Kriegsfotografin für ein primär junges Publikum nacherzählte.

©Thérèse Bonney (The Bancroft Library, University of California, Berkeley)
Die Umstände, unter denen Thérèse Bonney als akkreditierte Kriegskorrespondentin der US-Armee 1945 durch das befreite Deutschland reiste, sind bisher nur ansatzweise bekannt. Gleiches gilt für die Stationen ihrer Reise, die sich nur punktuell über die vorliegenden, undatierten und unbeschriebenen Fotos rekonstruieren lassen. Erst eine umfassende Auswertung ihres schriftlichen Nachlasses wird hier für Aufklärung sorgen können.
Vermutlich reiste Bonney über Frankreich nach Deutschland. Im Februar 1945 hielt sie sich in Ammerschwihr auf, einer zerstörten Kleinstadt im Elsass, wo sie fotografierte und sich tatkräftig für die notleidende Bevölkerung einsetzte. Eindrucksvolle Aufnahmen entstanden in Vaihingen an der Enz bei Ludwigsburg, wo Bonney im April Überlebende eines kurz zuvor befreiten Außenlagers des Konzentrationslagers Natzweiler fotografierte. Wann sie in Weimar bzw. Buchenwald eintraf und wie lange sie blieb, ist nicht mit letzter Gewissheit zu sagen. Die erwähnten Buchenwalder Nachrichten sprechen vom 26. April. Auf einigen Fotos sind jedoch Personen zu sehen, die Buchenwald zu dieser Zeit bereits wieder verlassen hatten. Vieles spricht deshalb dafür, dass sich Bonney bereits am 24. April oder einen Tag früher in Buchenwald aufhielt.
Thérèse Bonney betrat das Lager rund zwei Wochen nach dessen Befreiung. In dieser Zeit hatte sich das Lager bereits verändert. Neue Strukturen und Abläufe waren etabliert worden. Nachdem es in den ersten Tagen nach der Befreiung noch vom Internationalen Lagerkomitee kontrolliert und verwaltet worden war, unterstand das Lager nun den amerikanischen Behörden. Um die medizinische Versorgung der Überlebenden kümmerten sich die Ärzte und Sanitäter des 120th Evacuation Hospitals. Amerikanische Ermittlungsteams sicherten Beweismittel und täglich besuchten internationale Delegationen und Scharen von US-Soldaten das befreite Lager, um sich vor Ort ein Bild vom Ausmaß der Verbrechen zu machen. Der Großteil der rund 21.000 Männer und Jungen, die am 11. April befreit worden waren, befand sich noch vor Ort, doch die organisierte Repatriierung der westeuropäischen Überlebenden war bereits angelaufen.
Thérèse Bonney war eine von vielen Fotograf:innen und Berichterstatter:innen, die sich in diesen Tagen in Buchenwald aufhielten. Bonneys Fotokonvolut macht deutlich, worum es ihr ging. Zwar finden sich auch bei ihr die gleichsam klassischen Buchenwaldmotive, an denen keiner der Fotograf:innen vorüberging: die Öfen des Krematoriums; die aufgestapelten Leichname und den Berg aus Leichenbrand in den Krematoriumsinnenhöfen; menschliche Hautstücke mit Tätowierungen und der Blick in eine der geräumten Baracken des Kleinen Lagers. Rein quantitativ spielen diese Aufnahmen jedoch nur eine geringe Rolle.
Was Bonney wirklich interessierte, waren die Menschen in Buchenwald – der Blick auf die Menschen, der ihre Arbeit als Kriegskorrespondentin von Beginn an kenn zeichnete. Zum einen sind es Momentaufnahmen aus dem Leben im befreiten Lager: der amerikanische Lager kommandant Lorenz C. Schmuhl im Gespräch mit Ver tretern des Internationalen Lagerkomitees; Sanitäter des Evacuation Hospitals bei der Versorgung der Kranken; Gesprächssituationen; befreite Häftlinge bei ihrer Arbeit im Pressebüro des Internationalen Lagerkomitees im Torgebäude. Eine ganze Bilderstrecke widmete Bonney der Abreise von Überlebenden, die auf Lastwagen das Lager in Richtung Heimat verließen. Vielfach sind es Szenen und Akteure, zu denen es bisher keine fotogra f ische Überlieferung gab.
Zum anderen enthält das Buchenwald-Konvolut eine ganze Reihe eindrucksvoller Einzel- und Gruppenporträts von Überlebenden. Die Gruppenaufnahmen zeigen überwiegend französische Überlebende, zu denen Bonney in einer besonderen Beziehung stand. Daneben interessierte sie sich – wenig erstaunlich – vor allem für die Kinder und Jugendlichen von Buchenwald, von denen über 900 die Befreiung am 11. April erlebt hatten. Gestochen scharf und bewusst in Szene gesetzt, zeugen die Porträts vom geschulten Blick der professionellen Fotografin. Eines von ihnen zeigt den damals 16-jährigen Israel Sandowski (Abbildung links oben), ein jüdischer Überlebender aus dem polnischen Piotrków Trybunalski. Die meisten anderen Männer und Jungen sind bisher nur vereinzelt namentlich identifiziert.
Aus Buchenwald scheint Bonney über Leipzig in den Süden des befreiten Deutschlands gereist zu sein. Überliefert sind Fotos aus dem befreiten Konzentrationslager Dachau und zahlreichen anderen Stationen in Bayern.
Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen im kriegszerstörten Europa ließ Bonney in den Jahren nach Kriegsende nicht los. Sie besuchte zahlreiche Displaced Persons Camps der United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA), der Welthilfeorganisation der Vereinten Nationen. Dort sammelte sie Material über die entwurzelten Kinder und Jugendlichen, die meisten von ihnen waren Überlebende des Holocaust. Eine umfangreiche Fotoserie entstand in dem eigens für Minderjährige eingerichteten Children’s Center Aglasterhausen bei Heidelberg, das auch einzelne jugendliche Überlebende aus Buchenwald durchliefen. Ihr gesammeltes Wissen und ihre Erfahrungen mit den jugendlichen DPs ließ Bonney in die Vorbereitungen des 1948 erschienenen semidokumentarischen Spielfilms The Search (deutsch Die Gezeichneten) einfließen.4 Ihr Buch Europe’s Children war eine der Inspirationsquellen für den Film, der in einer Zusammenarbeit des Schweizer Produzenten Lazar Wechsler mit dem renommierten amerikanischen Hollywoodregisseur Fred Zinnemann entstand. Thérèse Bonney engagierten sie als Fachberaterin.
In fiktionalisierter Form zeichnete der Film den Weg eines jungen KZ-Überlebenden nach, der als Displaced Person durch das Nachkriegsdeutschland irrte. Grundlage des Drehbuchs bildeten die Berichte der Überlebenden in den verschiedenen DP Camps und Children’s Centern. Viele der dort lebenden Kinder und Jugendlichen agierten zudem als Komparsen in dem Film, der zu großen Teilen an Originalschauplätzen in Deutschland gedreht wurde. Die Mitarbeit an dem Film, der vielfach ausgezeichnet wurde, entsprach Bonneys Anliegen, das Schicksal der durch Krieg und Holocaust entwurzelten Jugendlichen einer breiten Öffentlichkeit diesseits und jenseits des Atlantiks nahe zu bringen. Neben der Mitarbeit an dem Film engagierte sie sich weiterhin aktiv in der Kindernothilfe.
Als Kriegskorrespondentin arbeitete Thérèse Bonney nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs nicht mehr. Sie war als Reiseschriftstellerin aktiv, sammelte Kunst und widmete sich humanitären Projekten. Im Januar 1978 starb sie in ihrer französischen Wahlheimat. Bis zuletzt blieb sie eine Grenzgängerin zwischen den USA und Europa. Ihr umfangreiches Werk und ihr Wirken als Kriegskorrespondentin harren einer umfassenden Aufarbeitung und Würdigung.
Michael Löffelsender ist Kustos für die Geschichte des KZ Buchenwald an der Gedenkstätte Buchenwald.
1. Buchenwalder Nachrichten vom 26.4.1945, abgedruckt in: Buchenwalder Nachrichten Nr. 1 (14. April 1945) – Nr. 28 (16. Mai 1945). Herausgegeben und eingeleitet von Bodo Ritscher im Auftrag des Direktors der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte, Weimar-Buchenwald 1983, S. 24.
2. Die folgenden biografischen Angaben nach Carol McCusker, Buried Treasure. Rediscovering Thérèse Bonney, in: dies. (Hg.), Breaking the Frame. Pioneering Women in Photojournalism, San Diego 2006, S. 19-50; Henry Oinas Kukkonen, Miss Bonney Reporting from the Arctic Front, in: G. Kurt Piehler/Ingo Trauschweizer (Hg.), Reporting World War II, New York 2023, S. 55-84; Michael Kruse, Wer war Thérèse Bonney?, in: Kwerfeldein – Magazin für Fotografie, https://kwerfeldein.de/2023/08/15/theresebonney/ [letzter Aufruf am 23.12.2024].
3. Presseankündigung des New Yorker Museum of Modern Art, 5.12.1940, https://assets.moma.org/documents/moma_press-release_325205.pdf [letzter Aufruf 23.12.2024].
4. Zum Folgenden ausführlicher: Lawrence Baron, Projecting the Holocaust into the Present. The Changing Focus of Contemporary Holocaust Cinema, Lanham 2005, S. 29ff. Der Film erhielt einen Oscar. In die Kinos der Bundesrepublik gelangte er erst 1961.