„Gedenkstein paßt nicht mehr“ titelte die „Thüringische Landeszeitung“ im Mai 1991. In Tannroda bei Bad Berka plante der Bürgermeister Theo Bloß (CDU) den Abriss einer Stele zum Gedenken an einen Todesmarsch des Außenlagers Ohrdruf (S III) in das KZ Buchenwald. Erst 1984 eingeweiht, sollte sie einem universellen „Mahnmal“ für die Buchenwaldhäftlinge, die Opfer des Zweiten Weltkrieges und des Stalinismus weichen. Die Stele war schnell abgerissen. Breiter Protest und die schwierige Haushaltslage verhinderten jedoch die Realisierung des geplanten neuen Denkmals. Stattdessen wurde die alte Todesmarsch-Stele nach vielen Querelen 1999 erneut aufgestellt. Eine örtliche Initiative weihte zudem 2002 ein Denkmal für die Toten des Zweiten Weltkrieges aus Tannroda ein. Unter den aufgeführten 100 Namen finden sich auch drei Personen, die nach mündlicher Überlieferung im Sowjetischen Speziallager Nr. 2 in Buchenwald ums Leben gekommen sein sollen, was sich nach neueren Forschungen nicht bestätigen ließ. Zu den drei Genannten gehört Kurt Ernst Völker. Der SS-Oberscharführer war von Oktober 1944 bis April 1945 Kommandoführer des Buchenwalder Frauen-Außenlagers Elsnig (Sachsen). Er wurde 1946 in Tannroda verhaftet, jedoch nicht in das Speziallager Nr. 2 in Buchenwald gebracht. Das Sowjetische Militärtribunal Thüringen klagte ihn wegen Kriegsverbrechen an und verurteilte ihn zum Tode. Im November 1946 wurde er vermutlich durch Erschießung hingerichtet.
Buchenwald
Das oben skizzierte Beispiel illustriert die Herausforderungen, vor denen das Erinnern und Gedenken an sowjetische Verhaftungen seit 1989/90 steht, recht deutlich. Mit dem Ende der DDR war es Betroffenen und Angehörigen möglich, über die bisher tabuisierten Verhaftungen und Speziallager nach dem Zweiten Weltkrieg zu berichten. Unabhängige Initiativgruppen gründeten sich, Erinnerungszeichen wurden gesetzt und Ausstellungen an Orten ehemaliger Lager – so etwa in Buchenwald, Sachsenhausen und Bautzen – eröffnet. In russischen Archiven konnten erstmals Unterlagen zum Thema gehoben und ausgewertet werden.
Während einerseits der Forderung nach öffentlicher Sichtbarkeit des Gedenkens an sowjetische Verfolgungen Raum gegeben wurde, entwickelte sich die Forschung zu den Umständen der Verhaftungen weiter. Sowohl die Präsentation neuer Forschungsergebnisse als auch die Einweihung von Denkmälern sorgte in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder für heftige Diskussionen – etwa wenn es um die Totenzahlen und die Funktion der Speziallager ging oder wenn Personen durch ihre Namensnennung auf einer Tafel öffentliche Ehrung erfuhren, obwohl sie vor ihrer Verhaftung in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft verstrickt waren.
Seit 2019 beschäftigt sich ein Forschungsteam an der Gedenkstätte Buchenwald mit diesen öffentlichen Denkmalsetzungen und Deutungskämpfen. Es ist Teil des Forschungsverbundes „Diktaturerfahrung und Transformation. Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“. Dem Verbund gehören auch die Universitäten in Jena und Erfurt sowie die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße mit thematisch unterschiedlichen Projekten an. Förderung erhält der Verbund vom Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Die 2024 im Kölner Böhlau Verlag erschienene Publikation „Transformation des Gedenkens. Lokales Erinnern an sowjetische Verhaftungen der Nachkriegszeit“ ist ein Resultat dieser Projekt- und Verbundarbeit. Dem Buch gingen intensive Vorarbeiten voraus: 2020 konzipierte das Projektteam um Dr. Julia Landau bereits die Internetseite „Zumutbare Wahrheiten“ zur Speziallager-Aufarbeitung in der Gedenkstätte Buchenwald seit 1989/90. Zwei Jahre später folgten die Herausgabe des Arbeitsmaterials „Wie erinnern?“ zum regionalen Forschen vor Ort und die Stadtrundgangs-Broschüre „Nach dem Krieg. Spuren der sowjetischen Besatzungszeit in Weimar 1945–1950“ (ISBN: 978-3-935-59829-3).
Der Band „Transformation des Gedenkens“ versammelt 14 Beiträge von neun Autor:innen. Er ist in zwei Teile gegliedert: Zu Beginn werden grundsätzliche Fragen aufgeworfen und diskutiert, im zweiten Teil wird an einzelnen Fallbeispielen die oft kontroverse Geschichte von Denkmalen zur Erinnerung an sowjetische Verhaftungen dargestellt.
Jens-Christian Wagner plädiert einleitend für ein reflexives Geschichtsbewusstsein: An die Stelle von versteinerter Ritualisierung und selektiver Deutung sollen intensives forschendes Lernen und eine kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte – und ihren Deutungen und Instrumentalisierungen – treten. Nicht Bekenntnis, sondern Erkenntnis sei das Ziel. Er unterstreicht die didaktischen Potentiale, die die Beschäftigung mit den Erinnerungszeichen für die Opfer des Nationalsozialismus und des Stalinismus für die historisch-politische Bildungsarbeit hat. Anhand des Lebensweges eines jugendlichen Internierten und Verurteilten der Waldheimer Prozesse von 1950 gibt Julia Landau anschließend einen Überblick zur Geschichte der alliierten Verhaftungen und sowjetischen Speziallager. Dass das Thema auch auf sprachlicher Ebene seit dem Kalten Krieg heiß umkämpft ist, zeigen Dorothee Riese und Franz Waurig in einem Beitrag zur Begriffsgeschichte. Die Wahl der Bezeichnung für die Lager war und ist noch immer verbunden mit der politischen Deutung dieser Orte.
Aber auch einzelne Personengruppen stehen im Fokus der Untersuchungen. So widmet sich Annette Weinke in ihrem Beitrag der umstrittenen Erinnerung an Mitglieder des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft, die nach Kriegsende von der sowjetischen Besatzungsmacht verhaftet wurden. 1957 setzte ihnen der Bundesgerichtshof in Karlsruhe eine Gedenktafel, die Ausdruck einer fragwürdigen Traditionssetzung war. Die Beteiligung der Richter und Anwälte an Unrechtsurteilen während des Nationalsozialismus wird derzeit in einem von der BGH-Präsidentin Bettina Limperg initiierten Forschungsprojekt untersucht.
Umstritten ist vielerorts auch die Erinnerung an verhaftete NS-Bürgermeister, die auf lokaler Ebene neben den Politischen Leitern der NSDAP das NS-Regime repräsentierten. Die Diskussion um den ehemaligen Reichenbacher Oberbürgermeister Otto Schreiber (1897–1946) gab für Christina Ramsch und Franz Waurig den Anstoß zu einer näheren Betrachtung unterschiedlicher Fälle in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. In ihren Artikel beziehen sie darüber hinaus Biografien von Bürgermeistern ein, die erst nach Kriegsende ihr Amt übernahmen. Ein Beispiel mit aktueller Relevanz ist der ehemalige Zeitzer Bürgermeister Arthur Jubelt, der bereits kurz nach seinem Amtsantritt 1945 verhaftet wurde und zwei Jahre später im Speziallager Nr. 2 Buchenwald verstarb. Ihm setzte Memorial Deutschland 2023 im Rahmen des Projektes „Letzte Adresse“ eine Gedenktafel.
Im zweiten Teil beschäftigen sich die Autor:innen mit ausgewählten Erinnerungszeichen, die seit 1989/90 zumeist in Thüringen und Westsachsen gesetzt wurden. Wie stark in den frühen 1990er-Jahren die Initiierung neuer Gedenktafeln mit den Forderungen nach strafrechtlicher und materieller Rehabilitierung verbunden war, zeigt Jörg Ganzenmüller am Beispiel von Erfurt. Dort setzte die Vereinigung der Opfer des Stalinismus im zeitlichen Umfeld der Diskussion um das 1. SED-Unrechtsbereinigungsgesetz 1991 zwei Erinnerungszeichen. Ein Jahr später gedachten Betroffene auch am Weimarer Amtsgericht der „unschuldigen Opfer des stalinistischen Terrors“. Der Umstand, dass die dort gesetzte Tafel heute nahezu unbekannt ist, gab Franz Waurig Anlass zu einer näheren Untersuchung.
Führen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu Formen kritischen Gedenkens? Zwei von Julia Landau aufgeführte Beispiele aus Meiningen und Chemnitz lassen dies eher nicht vermuten. So wurde der Name Josef Ebenhöh, 1944–45 Leiter des Frauen-Außenlagers Penig des KZ Buchenwald, auf der Gedenkstele für die „Opfer der sowjetischen Militärjustiz“ in Meiningen nach Protesten der Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen zwar herausgefräst, Informationen oder historische Einordnungen fehlen jedoch – auch zu den übrigen auf der Stele genannten Personen, denen zum Teil die Beteiligung an Kriegsverbrechen zur Last gelegt wurde. Ein ähnlicher Befund lässt sich auch für ein 1993 eingeweihtes „Ehrengrab“ in Chemnitz feststellen: Auch hier fehlen weitergehende Informationen zu den namentlich genannten Speziallager-Insassen, die 1950 an die DDR-Volkspolizei übergeben und in Gefängnisse überstellt wurden.
Dass das Gedenken an sowjetische Verhaftungen nicht nur in Deutschland verhandelt wird, sondern geplante Ehrungen auch zu internationalen Protesten führen können, zeigt Enrico Heitzer am Fall einer Straßenbenennung nach der ehemaligen Speziallagerinsassin Gisela Gneist in Oranienburg. Entgegen dem Protest von NS-Opferverbänden und trotz eines wissenschaftlichen Gutachtens zu Gneist und ihren Kontakten zum „rechten Rand“ der SBZ-/DDR-Aufarbeitung hielt die brandenburgische Stadt an einer Ehrung fest. Aber nicht nur Neusetzungen von Erinnerungszeichen spielen im Sammelband „Transformation des Gedenkens“ eine Rolle, auch Umgestaltungen bereits bestehender Denkmäler werden in den Blick genommen, so durch Franziska Mendler am Beispiel des bereits zu Beginn skizzierten Kriegstotengedenkens in Tannroda. In einem weiteren Artikel widmet sie sich darüber hinaus der deutsch-deutschen Erinnerung an Verhaftungen im Eichsfeld.
Einige Fragen und Themen können in den Beiträgen nur am Rande angeschnitten werden, etwa wenn es um die künstlerische äußere Gestaltung der Erinnerungszeichen geht. Gleiches gilt für die verhafteten Jugendlichen, die die Speziallager-Aufarbeitung in den 1990er-Jahren massiv unterstützten und prägten. Die zukünftige Forschung wird sich dieser und weiterer Themen annehmen.
Franziska Mendler ist wissenschaftliche Assistenz im Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen?“ an der Gedenkstätte Buchenwald. Sie schrieb für den Sammelband zwei Beiträge über das Gedenken in Tannroda und im Eichsfeld.
Franz Waurig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen?“ an der Gedenkstätte Buchenwald. Er ist Mitherausgeber des Sammelbandes.

Das diesem Bericht zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen FKZ 01 UJ 1907 AY gefördert.
Internetseite „Zumutbare Wahrheiten“: www.speziallageraufarbeitung.de
Gefördert durch das Bundesminesterium für Bildung und Forschung, die Friedrich-Schiller-Universität, und den Forschungsverbund Diktaturerfahrung + Transformation.