Buchenwald

Die sowjetische Verwaltungsbaracke vor dem Lagertor

Neue Erkenntnisse zu einem bislang übersehenen Gebäude

Am sogenannten Carachoweg, gegenüber dem Überrest der ehemaligen „Kommandantur“ des Konzentrationslagers Buchenwald, liegt ein einstöckiges, braungrau verputztes Gebäude, das vermutlich nicht viele Besucher:innen auf ihrem Weg in das ehemalige Lager bewusst wahrnehmen. Die Baracke schließt unmittelbar an den Gehweg an. Die gegenüberliegende ehemalige Kommandantur hingegen liegt mehrere Meter vom Weg zurückgesetzt.

Ansicht Buchenwald vor Lagertor mit der sowjetischen Verwaltungsbaracke am rechten Rand
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Sowjetische Verwaltungsbaracke vor dem Lagertor (rechts)
US-amerikanisches Luftbild, Juni 1945. Markierung: Überreste der „Politischen Abteilung“.
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US-amerikanisches Luftbild, Juni 1945. Markierung: Überreste der „Politischen Abteilung“.

Das Gebäude wird heute als Verwaltungsbaracke bezeichnet. Es weist eine wechselvolle Entstehungs-, Nutzungs- und Deutungsgeschichte auf: Zur Zeit des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 (1945-50) für dessen Verwaltung, den „Stab“, errichtet, ist es zunächst ein materielles Zeugnis der Nachnutzung von Teilen des ehemaligen Konzentrationslagergeländes. Nach der Räumung des Speziallagers 1950 war das Gelände noch bis 1953 von der sowjetischen Armee belegt. Nach deren Abzug blieb die Verwaltungsbaracke zurück. Der zweckmäßige kleinräumige Bau mit Heizung und Wasseranschluss fand in der entstehenden Nationalen Mahn- und Gedenkstätte rasch Verwendung. So diente er z. B. als Rückzugsmöglichkeit für ehemalige KZ-Häftlinge, die Besucher:innen durch das Lager führten. Später, in den 1970er-Jahren, fand hier u. a. das erste Archiv der Gedenkstätte sein Domizil. In dieser Zeit wurde die Baracke in die Rundgänge über das ehemalige Lagergelände durchaus mit einbezogen. Dabei wurde sie jedoch als Zweigstelle der Geheimen Staatspolizei, als „politische Abteilung“ der Gestapo, bezeichnet. Erst in den frühen 1990er-Jahren wurden Luftbilder u. a. vom Juni 1945 zugänglich, die diese Erzählung widerlegten: Auf ihnen ist die Verwaltungsbaracke noch nicht errichtet. Hingegen sind die Überreste jener Holzbaracke erkennbar, die von der Gestapo als Zweigstelle genutzt und bei einem Luftangriff 1944 zerstört worden war. Wie die Kommandantur stand sie jedoch vom Carachoweg einige Meter zurückgesetzt hinter dem Standort der Verwaltungsbaracke. Seit den 1990er-Jahren blieb die Verwaltungsbaracke weitgehend unbeachtet. Erst durch die Erschließung vorhandener und neu zugänglicher Quellen konnte sie historisch eingeordnet werden. Das Gebäude ist nach heutigem Wissenstand das einzige noch erhaltene Gebäude im Bereich der Gedenkstätte, das in der Zeit des sowjetischen Speziallagers gebaut wurde.

Im Februar 2017 stellte eine erste eingehende Bauuntersuchung durch den Restaurator Michael Matz fest, dass die Baracke weitgehend „bauzeitlich“ erhalten ist und im Laufe ihres Bestehens nur wenige Umbaumaßnahmen erfahren hat. Eine von der Denkmalpflegerin Anke Binnewerg erstellte Chronologie notiert eine erste Umbauphase bereits Mitte der 1950er-Jahre. Dabei wurden einzelne Durchgänge zwischen den Räumen geschaffen, der Flur in der Eingangssituation verkleinert und die dem Lagertor zugewandte Seite durch einen neuen Zugang erschlossen. 1960 wurde begonnen, die Baracke als Verkaufsraum für Ansichtskarten und Literatur zu nutzen, in den 1970er-Jahren wurden schließlich große, dem Lagertor zugewandte Fenster eingefügt. In der neu verputzten und gestrichenen Baracke entstanden Arbeitsräume für Mitarbeiter:innen des Archivs und seine Benutzer:innen. Noch in den 1980er-Jahren nutzte die historische Abteilung der Gedenkstätte die Räume als Büros, für das Archiv und die Bibliothek.

Die bauarchäologische Untersuchung stellte in dem schlichten Gebäude einige Besonderheiten fest: So waren die zwölf Räume – vom Eingang aus gesehen auf jeder Seite sechs – ursprünglich vollständig identisch angelegt. In den jeweils zwölf Quadratmeter großen Räumen befindet sich gegenüber der Zimmertür ein quadratisches Fenster. Jede der zwölf Eingangstüren war mit einem Nummernschild versehen. Umlaufend war ein Sockel mit farbigen Linien abgesetzt, diese variierten von Raum zu Raum. Im Zuge der Sanierung konnten diese farbigen Linien in „archäologischen Fenstern“ sichtbar gemacht werden, ebenso wie die Nummern über den Türrahmen. Doch wann genau wurde die Baracke errichtet und zu welchem Zweck wurde sie ursprünglich genutzt?

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Farbige Linien
Raute mit der Nummer 4 innen
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Nummern über dem Türstock

Aufgrund des vorliegenden Kartenmaterials lässt sich der Bau der Verwaltungsbaracke mit großer Wahrscheinlichkeit auf die Jahre 1948/49 datieren, denn die bis 1948 entstandenen Lagepläne der sowjetischen Lagerverwaltung verzeichnen das Gebäude noch nicht. Auch die im Juli/August 1948 entlassenen Häftlinge des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 können sich an kein Gebäude an dieser Stelle erinnern. Allerdings geben viele von ihnen zu bedenken, dass sie die Zone außerhalb des Lagertors nur zu ihrer Entlassung betreten haben und angesichts der langen Zeitspanne ihre Erinnerungen auch trügen können. Vor der Auflösung des sowjetischen Speziallagers 1950 und der Übergabe an die sowjetische Armee ließ die Verwaltung einen Übersichtsplan und ein genaues Aufmaß der einzelnen Gebäude anfertigen. Auf dem Plan ist das Gebäude als „Stabsgebäude“ eingezeichnet. Es liegt in der mit einem Bretterzaun abgeschlossenen „Vorzone“, in der neben der diensthabenden Leitung des Lagers auch eine Wirtschaftsgruppe, Gruppen für Finanzen, Nachweisführung und Sanitätswesen und die operative Gruppe einschließlich einer Telefonstation untergebracht waren. Der Lagerkommandant Konstantin P. Andreev (April 1947 – März 1950) nannte außerdem als Teil der „Vorzone“ „ein gut ausgebautes Klubhaus mit einer Bühne, einem Saal für 250-300 Personen, einer Bücherei, einem Billardraum und weiteren Spielräumen, ausgestattet mit Fernheizung, Wasserleitung und Kanalisation.“ (GARF f. 9409, op. 1, d. 31, S. 46-49.) Während das Klubhaus – in der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald ab 1957 zunächst als „Einführungsmuse[1]um“ genutzt – 1960 abgebaut und in Weimar als Turnhalle weitergenutzt wurde, blieb die Verwaltungsbaracke als letztes Gebäude der Speziallagerverwaltung stehen.

Die Errichtung des Gebäudes 1948 fällt in die Zeit der grundlegenden Umstrukturierung des Speziallagersystems: In diesem Jahr wurden die Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone formal der Gulag-Behörde des sowjetischen Innenministeriums untergeordnet. Mit der neuen Unterstellung, die keine tatsächliche Eingliederung in das Lagersystem in der Sowjetunion bedeutete, ging die Entlassung eines Teils der Häftlinge einher: Aus dem Speziallager Nr. 2 wurden etwa 9.150 Internierte entlassen. Von den bestehenden sechs Speziallagern verblieben drei: Buchenwald, Bautzen und Oranienburg – die beiden letzteren schienen geeignet, um Verurteilte mit langjährigen Haftstrafen unterzubringen. (GARF f. 9409, op. 1, d. 214, l. 43/44.) Während im Speziallager Nr. 2 bis zu dessen Auflösung 1950 nur Internierte ohne Verurteilung untergebracht waren, wurden Verurteilte mit Haftstrafen von unter zehn Jahren in Sachsenhausen inhaftiert, zu längeren Haftstrafen Verurteilte in Bautzen. Nach Buchenwald wurden aus anderen, aufgelösten Speziallagern, wie Fünfeichen und Mühlberg/Elbe, 6.300 Häftlinge gebracht, unter ihnen auch zahlreiche Jugendliche.

Vor der Übergabe an die Gulag-Behörde untersuchte eine Kommission die Verhältnisse in den Speziallagern. Dabei stellte sie insbesondere den schlechten Gesundheitszustand der Inhaftierten fest, ein Aspekt, der für einen möglichen Arbeitseinsatz der Häftlinge in der Sowjetunion von Bedeutung war. Das sowjetische Lagerpersonal wurde ebenfalls stark kritisiert: Stellen seien nicht besetzt, viele Wachleute und Kommandeure korrupt und „disziplinlos“. Eine Untersuchung hatte die geringe Schulbildung der Wachleute festgestellt: Zwei Drittel von ihnen hatten nur drei bis sechs Jahre die Schule besucht. Mängel wurden genannt „in Bezug auf Haftregime und Isolierung der Verbrecher, ihre Registrierung, die medizinisch-sanitären Zustände, Einsatz und Überprüfung der Kader sowie die politische Parteiarbeit.“ In neuen Stellenplänen sollte das Wachpersonal zum Teil ausgetauscht und aufgestockt werden. Um dessen politische Schulung zu verbessern, forderte der stellvertretende Innenminister Serov in den Lagern „kleine Politapparate“ zu schaffen.

Durch die Entlassungen 1948 und die Unterstellung unter das Innenministerium der Sowjetunion, bzw. die dortige Gulag-Behörde, entstanden neue bürokratische Kontroll- und Begründungszusammenhänge. Die Anforderungen an Organisation und Registratur machten vermutlich einen zusätzlichen, schnell zu errichtenden Verwaltungsbau in unmittelbarer Nähe des Lagers notwendig. Eine weitere mögliche Erklärung für die Errichtung der Verwaltungsbaracke ist der Zuwachs des medizinischen Bereichs. Durch die Vergrößerung der Sanitätsgruppe, die in der ehemaligen Kommandantur untergebracht war, wurde ein zusätzliches Gebäude gebraucht. Die geforderte Aufstockung der Stellen, insbesondere beim Wachpersonal, wurde jedoch bis zur Auflösung der Lager nicht umgesetzt: Noch das endgültige Übergabeprotokoll an die Gulag-Abteilung vom 14. Mai 1949 bezifferte die Unterbesetzung der im Stellenplan vorgesehenen Stellen auf fast 30 Prozent. (GARF, f. 9409, op. 1, d. 32, S. 4-17.)

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Sowjetischer Plan der „Vorzone“, GARF f. 9409, op. 1, d. 127, l. 41.
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Typenbau des sowjetische Innenministeriums: Baracke für einen Stab von 24 Personen.
GARF f. 9414, op. 7, d. 113

Über das verantwortliche sowjetische Lagerpersonal und dessen Tätigkeiten ist bisher nur wenig bekannt. Die Baracke ließ vermutlich Lagerkommandant Major Konstantin P. Andreev errichten. Er war zuvor Leiter des Speziallagers Ketschendorf gewesen. Der 1907 im Gouvernement Pskov/Russland geborene Andreev lernte nach siebenjährigem Schulbesuch zunächst das Schusterhandwerk. Nach seiner Ausbildung für die Truppen der Geheimpolizei (OGPU) leitete er im Zweiten Weltkrieg Einheiten der Grenztruppen im Fernen Osten und war für Spionageabwehr zuständig. Zu seinem Stellvertreter wurde im Oktober 1948 Hauptmann Vasilij D. Ivčakov ernannt (Okt. 1948 – März 1950), der gleichzeitig auch Leiter einer neu eingerichteten Abteilung für „politische Arbeit“ war. Zu der Abteilung „Stab“, die in der Verwaltungsbaracke untergebracht war, gehörte der diensthabende Lagerleiter („Kommandant“). In dieser Position war der 1925 geborene Leutnant Jurij A. Sadikov eingesetzt. Zum „Stab“ gehörte weiterhin eine Registrierabteilung, die die Stärkemeldungen der Häftlinge verzeichnete, die Wirtschafts- und Finanzabteilung, die die Versorgung des Lagers regelte sowie die Gruppe „Schutz und Ordnung“, die das Wachpersonal einteilte und beaufsichtigte. Hinzu kam eine „operative Gruppe“, deren Aufgabe es war, Ermittlungen im Lager aufgrund von NS- und Kriegsverbrechen oder auch aufgrund von Vergehen gegen sowjetisches Recht einzuleiten. Zu den Tätigkeiten dieser unterschiedlichen Abteilungen gehörte auch eine ausführliche Korrespondenz mit übergeordneten Behörden, der Leitung der Speziallager in Berlin oder mit dem zuständigen sowjetischen Innenministerium.

Die Verwaltungsbaracke erscheint als typisches, standardisiertes Bauwerk. Im sowjetischen Innenministerium war in der Nachkriegszeit eine eigene Hauptabteilung für die Projektierung von Lagern geschaffen worden, die Typen für Baracken wie auch für die gesamte Anlage von Gulag-Lagern entwarf. Diese Abteilung gewann insbesondere 1948/49 an Bedeutung, als in der Sowjetunion an den Baustellen für Kanäle große Lagerstandorte errichtet wurden. In den erhaltenen Unterlagen des Russischen Staatsarchivs findet sich ein Plan für ein Stabsgebäude für 24 Personen, das einige Ähnlichkeiten mit dem Verwaltungsgebäude in Buchenwald aufweist: Vermutlich wurde für den Bau der Baracke ein solcher Typenplan variiert und den Bedürfnissen des Speziallagers Nr. 2 angepasst.

Zur Zeit der DDR wurde die Verwaltungsbaracke nicht als baulicher Überrest aus der Speziallagerzeit behandelt. Während die Baracke in den Umbauplänen 1955 noch als „Verwaltungsbaracke“ benannt wurde, nahm das Museum für Deutsche Geschichte, Berlin, das Gebäude Ende der 1950er-Jahre in den Rundgang durch die Gedenkstätte auf und bezeichnete es als „Politische Abteilung“, der Zweigstelle der Gestapo im KZ Buchenwald. Eine massive Tafel aus Aluminiumguss wurde rechts neben dem Eingang befestigt, die in Großbuchstaben den Text trug: „Politische Abteilung. Die Aufforderung, zur politischen Abteilung zu kommen, bedeutete oft ein Todesurteil.“ Ob die Bezeichnung als „Politische Abteilung“ bewusst oder unbewusst erfolgte, ist bislang noch ungeklärt. Bis zum Ende der DDR behielt die Verwaltungsbaracke diese falsche Zuschreibung und hatte in der Dramaturgie des Rundgangs über das Gedenkstättengelände ihren festen Platz. Als baulicher Ankerpunkt diente sie der Erzählung der Einlieferung und Registrierung im KZ und der Verantwortlichen für die Folter. Allerdings wurde das Gebäude dabei nicht weiter musealisiert und erschlossen. Auch der knapp und unkonkret gehaltene Text der Tafel entspricht dem sehr allgemeinen und nicht auf die historischen Zusammenhänge zielenden Umgang mit den Tätern. Das Gebäude wurde somit zu einer Art „Objektträger“ für eine Behauptung, die nicht weiter belegt werden musste.

Zeichnung zum Ausbau der Verwaltungsbaracke in eine nationale Mahn- und Gedenkstätte
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Nationale Mahn- und Gedenkstätte: Ausbau der Verwaltungsbaracke, Berlin 1955
Tafelaufschrift: Die Aufforderung, zur politischen Abteilung zu kommen, bedeutete oft ein Todesurteil.
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Tafel: „Politische Abteilung“ der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald

Erst mit der Neubeschilderung der Gedenkstätte in den 1990er-Jahren wurde auf die fälschliche Benennung des Gebäudes als „politische Abteilung“ verwiesen. Das Gebäude selber blieb weitgehend ungenutzt. In der Neuverfilmung des DEFA-Klassikers „Nackt unter Wölfen“ von 2015 wurde es noch einmal zur Kulisse für eine der ersten Szenen im Film, in der die brutale Einlieferung und Registrierung der Häftlinge durch die Konzentrationslager-SS geschildert wird. Erst seit der eingehenden bauarchäologischen, denkmalpflegerischen und historischen Untersuchung ab dem Jahr 2017 ist die Zuordnung des Gebäudes in die Zeit des sowjetischen Speziallagers gesichert. Die neuen Erkenntnisse sind in seine behutsame Restaurierung und Instandsetzung eingeflossen. Als „bauliche Informationsquelle“ kann es nun für die Bildungsarbeit genutzt werden und zur Reflexion über den Ort und seine Geschichten anregen.

Für Hinweise, Diskussionen und Überlassung von Material danke ich herzlich Denkmalpflegerin Anke Binnewerg, Dr. Galina Ivanova, wiss. Direktorin Gulag-Museum Moskau, Restaurator Michael Matz, Weimar und meinem Kollegen Dr. Harry Stein.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.


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