Buchenwald

„Für mich ist einfach noch nicht die Zeit gekommen, wo nur die Rosen blühen.“

Józef Szajna und sein Environment „Reminiszenzen“

Józef Szajna wäre am 13. März dieses Jahres neunundneunzig Jahre alt geworden. Ich habe ihn am 19. Mai 1989 kennengelernt, während einer Tagung an der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema „Kunst und Holocaust“. Er, der sich als siebzehnjähriger Gymnasiast nach dem deutschen Überfall auf Polen 1939 dem polnischen Widerstand angeschlossen hatte, war 1940 verhaftet worden und hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt. Nun sprach er 44 Jahre später in Loccum über „Künstlerische (Protest-)Aktionen gegen den Terror“. Die Tagung zu dem damals noch mehr als ungewöhnlichen, wenn nicht Ablehnung hervorrufenden Thema hatte Detlef Hoffmann, Professor für Kunstgeschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, organisiert. Wir bereiteten damals gemeinsam mit dem, in Bochum lehrenden Geschichtstheoretiker und -didaktiker Jörn Rüsen ein Forschungsprojekt vor, das sich erstmals – und in europäisch vergleichender Perspektive – mit der Frage beschäftigen sollte, wie aus ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern Gedenkstätten geworden waren und welche politischen und ästhetischen Positionen, auch Vorgaben, Ausblendungen und Widerstände dabei eine Rolle gespielt hatten. Dabei war uns aufgefallen, dass es zu den teils unter schwierigsten Umständen und unter unmittelbarer Lebensgefahr von Häftlingen heimlich in den Konzentrations- und Vernichtungslagern angefertigten Kunstwerken wie Zeichnungen, Aquarellen, kleinen Plastiken, in denen sie ihren Erfahrungen und der Wirklichkeit der Lager Ausdruck gaben, kaum umfassende Dokumentationen, geschweige denn fundierte historisch-kunstgeschichtliche Untersuchungen gab. Diese Leerstelle betraf auch Józef Szajna. Auch von ihm, mittlerweile einer der bedeutendsten, international bekannten und geehrten polnischen Theatermacher und bildenden Künstler, hatten sich zumindest einige im KZ Buchenwald entstandene, in Deutschland so gut wie unbekannte Arbeiten erhalten. Sie befanden sich in der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz.

Porträt Józef Szajna
Józef Szajna, Nowa Huta 1965

Józef Szajna, der sich am 11. April 1945 während eines Todesmarsches aus dem Buchenwalder Außenlager Schönebeck bei Magdeburg – dort mussten die Häftlinge Zwangsarbeit für die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke leisten – durch Flucht rettete, hat nach der Befreiung von 1947 bis 1952 an der Kunstakademie Krakau studiert und sein künstlerisches Leben der Reflexion des nationalsozialistischen Zivilisationsbruchs und dessen Auswirkungen gewidmet und dafür in intensiver Auseinandersetzung auch mit den künstlerischen Entwicklungen des Zwanzigsten Jahrhunderts – insbesondere Dada und Collage, Surrealismus, Informel und abstraktem Expressionismus – eine ganz eigene Formsprache gefunden, die sich keineswegs darauf beschränkt, die Wirklichkeit der Lager nur zu dokumentieren oder zu kommentieren. „Ich bin ein ehemaliger Häftling. Trotzdem sage ich: Ich kommentiere den Holocaust nicht, das ist mir zu wenig. […] Meine Werke sind nicht als Illustrationen einer bestimmten Zeit zu verstehen. Ich möchte stets etwas aktualisieren.“1 Wie Primo Levi, Jean Améry, Imré Kertész, Jorge Semprún oder Ivan Ivanji als Überlebende und Autoren zielt auch Józef Szajna als bildender Künstler nicht auf die äußerliche Nachbildung des Grauens, sondern auf die künstlerisch-reflexive Darstellung und Durchdringung dessen, was Auschwitz als Tatsache war und als geschichtliches Phänomen für unsere Vorstellungen vom Menschen, von der Kultur und von der Gestaltung der Gesellschaft – damit sie nicht neuerlich zur menschengemachten Hölle werde –, bedeutet. „Mir sind schöne Menschen wichtiger als schöne Straßen. Das heisst, Menschen die human sind. Menschen die einander die Hand reichen. Ich habe in meiner Jugend Mörder gesehen und war selbst Opfer; ich kann keine Mörder mehr sehen. […] Ich stehe auf der Seite der Menschen, nicht auf der der Macht und ihrer Repräsentanten; die Führer dieser Welt gehen mich nichts an.“2

1989 allerdings kannte sein Werk in der Bundesrepublik noch kaum jemand, auch wenn sein bildkünstlerisches Hauptwerk – das 140 Quadratmeter umfassende Environment „Reminiszenzen“ – bereits 1970 durch den privaten Ankauf des Sammlerehepaares Gertrud und Karl Friedrich Johnssen nach Recklinghausen gekommen war und dort 1971 im Rahmen der 25. Ruhrfestspiele Recklinghausen unter dem Thema „Gegenwart einer Vergangenheit“ gezeigt worden ist3, zwei Jahre nach seiner Entstehung 1969 in Krakau4 und ein Jahr nach seiner Präsentation auf der Biennale in Venedig 19705. 1980 war dieses Zentralwerk der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Zivilisationsbruch noch einmal für wenige Wochen an prominentem Ort – nämlich in Westberlin in der Nationalgalerie – zu sehen, und zwar im Rahmen der Jubiläumsausstellung 150 Jahre Preußische Museen Berlin 1830 bis 1980 Bilder vom Menschen in der Kunst des Abendlandes.6 1989 allerdings waren die „Reminiszenzen“, für die sich trotz – oder gerade wegen – Józef Szajnas künstlerischer Haltung und Zielsetzung und des konkreten, unsentimentalen Bezugs auf die deutschen Verbrechen und deren Aus- und Nachwirkungen kein dauerhafter Zeigeort in einem Museum der Bundesrepublik finden wollte, im Kunstmuseum Bochum eingelagert. Dort hatte der damalige Direktor Heinz Spielmann diesem die Möglichkeiten und den Rahmen einer Privatsammlung überfordernden raumgreifenden Werk gleichsam Asyl geboten. Auch in der DDR war Józef Szjana, obwohl die Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bereits 1958 eingeweiht worden war und obwohl in ihre Sammlung auch viele künstlerische Arbeiten von ehemaligen Häftlingen aufgenommen worden waren und Polen bis zum Umbruch 1989/90 offiziell zu den „sozialistischen Bruderländern“ gezählt worden ist, nicht von Interesse. Dort passten seine Arbeiten weder politisch noch ästhetisch in das Bild des staatlich funktionalisierten, von Brüchen, Widersprüchen und Ambivalenzen bereinigten Antifaschismus der SED. Zudem hatte Józef Szajna 1982 aus Protest gegen die Verhängung des Kriegsrechts in Polen durch General Jaruzelski alle seine Ämter niedergelegt, darunter auch das des Direktors des von ihm gegründeten Kunstzentrums Studio (Centrum Sztuki) aus Autorentheater, Kunstsammlung und Ausstellungsräumen. War er in der Bundesrepublik einer, der den Finger in die Wunde legte und der sich weigerte, Kultur und Barbarei als hermetisch voneinander getrennt zu betrachten und mittels dieser durch den Nationalsozialismus endgültig ad absurdum geführten Aufspaltung Ausflüchte und falsche Sicherheiten zu bedienen, musste er in der DDR als zu unheroisch, aufsässig und dissidentisch erscheinen, denn er sah im „real existierenden Sozialismus“ keineswegs die definitive Antwort auf Auschwitz und ein Bollwerk der Humanität. Zeitlebens hat sich Józef Szajna gegen jede Form der Uniformierung gewendet.

Józef Szajna mit Friedrich Karl und Gertrud Johnsson
Józef Szajna (links) mit Friedrich Karl und Gertrud Johnsson, 1990
©Lukasz Szajna

Acht Jahre nach der Tagung in Loccum – am 8. November 1997 – sind die „Reminiszenzen“ als Leihgabe des damals in Essen lebenden Ehepaares Johnssen, dem Józef Szajna lebenslang freundschaftlich verbunden gewesen ist, an die Gedenkstätte Buchenwald gekommen, nachdem sie im Januar und Februar 1995 vom gerade gegründeten Fritz Bauer Institut. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust aus Anlass des 50. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz noch einmal im Schauspiel Frankfurt gezeigt worden waren.7 1998 hat Józef Szajna das Environment in der Gedenkstätte Buchenwald mit eigener Hand eingerichtet, in einem von ihm dafür bestimmten Raum – dem ehemaligen Sammelraum der Bekleidung der Häftlinge – des 1942 wegen der in immer größerer Zahl eingelieferter Häftlinge errichteten Desinfektionsgebäudes im KZ Buchenwald, in dem sich seit 1998 die ständige Kunstausstellung der Gedenkstätte befindet. Seitdem ist die Arbeit dort zu sehen. Allerdings war ihr dauerhafter Verbleib in der Gedenkstätte – und in Deutschland – wegen ihres Status als Leihgabe zwangsläufig unsicher. Anfang 2020 konnte die Arbeit endlich mit erheblicher finanzieller Unterstützung der Beauftragten für Kultur und Medien, der Ernst von Siemens Kunststiftung, des Freistaates Thüringen, der Kulturstiftung der Länder und Einzelspenden allein in Höhe von 150 000 Euro von der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora angekauft werden, um so ihren Verbleib in Deutschland dauerhaft zu sichern. So steht die Arbeit heute für zwei Geschichten: die des Nationalsozialismus und seiner Auswirkungen und die der Schwierigkeiten, für das Environment einen dauerhaften und angemessenen Zeigeort in Deutschland zu finden und darüber hinaus seine herausragende Bedeutung als Geschichtszeichen und Kunstwerk anzuerkennen. Von beiden Geschichten soll im Folgenden genauer die Rede sein. Schauen wir aber zunächst noch einmal etwas ausführlicher auf Józef Szajnas Leben und seine hinter den Reminiszenzen stehenden Erfahrungen zurück.

Józef Szajna ist am 13. Mai 1922 in der heute in Südostpolen gelegenen Stadt Rzeszów geboren worden. Bereits eine Woche nach dem deutschen Überfall auf Polen besetzte die Wehrmacht am 10. September 1939 die Stadt, die nach der Niederlage Polens dem Generalgouvernement zugeschlagen worden ist. Nachdem Józef Szajna sich dem Widerstand gegen die deutschen Besatzer angeschlossenen hatte, wurde seine Situation bald in zweifacher Hinsicht prekär. Denn Rzeszów lag unweit der in den geheimen Zusatzprotokollen des Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakts vom 24. August 1939 der Sowjetunion zugeschlagenen Gebiete Ostpolens. Von den Deutschen schnell unmittelbar bedroht, die Flucht nach Osten durch die sowjetische Besetzung ab dem 18. September 1939 versperrt, versuchte der kaum Achtzehnjährige über die Slowakei und Ungarn nach England zu gelangen, um sich der Armee der polnischen Exilregierung anzuschließen. „So fing mein zweites Leben an. Mein erstes Leben war ein schönes Haus, voll Geschwister, ich war Schüler des Gymnasiums, ein bißchen Sportler, hatte viele Freunde, Kollegen. Ich dachte niemals, daß ich mich mit so etwas riskanten wie KRIEG, dann Kunst beschäftigen würde. Der Krieg ist gekommen. Dann wurde es gefährlich […] Auf der einen Seite die GPU und hier die Gestapo. Natürlich bin ich dem Untergrund […] beigetreten. Ich machte Sabotage bei der Arbeit. Deshalb wurde ich von der Gestapo gesucht. Ich musste nach Ungarn mit einem Kollegen fliehen. Das ist aber nicht gelungen. In der Slowakei wurden wir geschnappt, verhaftet und deutschem Grenzschutz übergeben in dem Ort Musryna, im sogenannten Generalgouvernement […] Gefängnisse und dann später im Sommer 1941 Auschwitz […].“8 Sommer 1941, das meint auf den Tag genau den 25. Juli 1941. In Auschwitz – so Szajna später – habe er den „Namen 18729“ erhalten. Auschwitz war zum Zeitpunkt seiner Einlieferung noch ein auf das sogenannte Stammlager in den ehemaligen Habsburgischen Kasernen am Westrand der Stadt Oswiecim beschränktes Konzentrationslager, das dort am 27. April 1940 auf Anordnung des Reichsführer der SS Heinrich Himmler gegründet worden war. Aber bereits im Oktober 1941 mussten Häftlinge, darunter viele sowjetische Kriegsgefangene, mit dem Aufbau eines weiteren Komplexes, dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, beginnen. Józef Szajna hat als Häftling beide Lagerkomplexe kennengelernt: als Mitglied im Wäschereikommando und als zweimal – 1942 wegen einer Hilfsaktion und 1943 wegen eines Fluchtversuchs – zur Strafkompanie Verurteilter. Die Strafkompanie war in einer Baracke in Auschwitz-Birkenau untergebracht.

Der Fluchtversuch zusammen mit zwei weiteren Häftlingen sollte nach dessen Scheitern eigentlich mit dem Tod bestraft werden. Józef Szajna hat ihn als Häftling im Todesblock 11 des Stammlagers erwartet. „Alle drei sollten wir aufgehängt werden, eine Propagandasache: Drei wollten flüchten, also sollten drei aufgehängt werden. Aber der dritte lag noch im Krankenhaus (gemeint ist die Häftlingskrankenstation im Lager. Der Häftling war bei dem Fluchtversuch von SS-Wachmännern angeschossen worden. V.K.), er musste zuerst gesund werden. Wir zwei haben gebetet, dass er länger krank liegt, damit wir unser Leben verlängern können. Wir wussten, wenn er aus dem Krankenhaus in den Block 11 kommt, werden wir in den nächsten Tagen aufgehängt. […] Wir lebten also vom 17. August (1943 V.K.) bis zum 11. Oktober im Bunker, davon 15 Tage in Stehzellen, 90 cm breit, 90 cm tief, 190 cm hoch […] eingemauert und ohne Fenster, eine kleine Tür, 80 cm hoch; man ging hinein lebendig wie in einen Schornstein, und man konnte nur stehen, ohne Licht, ohne nichts.“9 Dass er nicht exekutiert worden ist – „Ich bin auf einmal wieder befreit für das Lagerleben. Schlimm. Und davon kommen manche Erinnerungen, die ganz tief in mir geblieben sind.“10 – hat Józef Szajna auf den Zufall zurückgeführt, dass seine Haft im Block 11 zeitlich ins Vorfeld des Kommandantenwechsel in Auschwitz gefallen ist. Im November 1943 nämlich folgte auf den ersten Kommandanten Rudolf Höß Arthur Liebehenschel, der auf Grund der Kriegslage – die verheerende deutsche Niederlage bei Stalingrad lag wenige Monate zurück – der Erhaltung der Arbeitskraft von nichtjüdischen Häftlingen eine höhere Priorität einräumte als sein Vorgänger. Sein Überleben hat Józef Szajna niemals für selbstverständlich gehalten oder es ausschließlich seinem Mut und seinem Überlebenswillen zugeschrieben. Mut und Überlebenswillen steht in seiner Erfahrung das Angewiesensein auf helfende Andere, stehen einerseits Solidarität und andererseits auch der Zufall gegenüber. Dass der „blaue Himmel“ wohl zu klein gewesen sei für ihn, den zum Tode verurteilten Bunkerhäftling in Auschwitz im Jahr 1943, ist eine seiner ironisch-sarkastischen Bemerkungen, mit denen er den Zufall kommentiert hat.11 „Solidarität und Terror! Mir haben viele geholfen“12, formuliert prägnant die andere Seite seiner Erfahrung, ohne dass diese Erfahrung die Erfahrung des Zufalls auslöschen könnte: „Wie in Trance gehe ich an den Meistern meines Lebens vorbei“ – beschreibt er den entscheidenden Moment in Block 11 –, „Weder sehe ich sie, noch kümmern sie mich, ruhig gehe ich zum Waschraum. Einige Stufen sind noch vor mir. Ich weiß, dass Hose und Hemd im Waschraum zu lassen sind, da erwartet wird, dass man nackt stirbt. Dann halten sie mich an. Ich leiste keinen Widerstand. Sie bedeuten mir, dass ich zurück in die Zelle gehen soll. […] Ich habe meinen eigenen Tod überlebt und weiß nicht warum!“13

Am 21. Januar 1944 ist Józef Szajna im KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar angekommen, zur Nummer 41408 gemacht und anschließend zur Zwangsarbeit in das Außenlager Schönebeck überstellt worden. Dort sind seine ersten Bilder entstanden. Für den Anstrich der Flugzeugteile gab es Nitro-Farben und da die Häftlinge für den totalen Krieg der Deutschen arbeiten mussten, waren ihre Erhaltungsbedingungen etwas besser. So konnte Józef Szajna in günstigen Momenten zeichnen, aber ohne jede Gewissheit, ob er oder die Bilder das Lager überstehen würden. Außerdem spielte wiederum der Zufall eine Rolle. Denn im Auftrag eines SS-Mannes konnte er für ein kleines Mehr an Nahrung den Verdunkelungsrollo in dessen Stube mit Blumen bemalen, mit den für die Flugzeugteile bestimmten Farben. „Das war der Chef der Küche. […] Und er sagt, weißt Du Halunke, zu mir kommt immer ein Mädchen und das Bett steht neben dem Fenster, dieses ist wie eine schwarze Wand. Es ist so traurig, male mir lustige Blumen, dass es dem Mädchen gefällt. Und da habe ich das angefangen. So lange ich malte, habe ich immer eine Schüssel Suppe bekommen.“14 Zwei mit Nitrofarben auf die Wände einer Baracke im Außenlager Schönebeck gemalten Bilder haben sich dort erhalten und sind – da befand sich die Baracke seit Jahrzehnten schon in Privatbesitz und wurde als Schuppen benutzt – 1996 von der Gedenkstätte Buchenwald geborgen worden: das Bild eines Blumenstraußes in einer Vase (100 x 59,5 cm) und eine Karpatenlandschaft (100 x 144 cm). Józef Szajnas späteres Kunstschaffen hingegen nimmt sich auf eindringliche Weise in zwei ebenfalls 1944 aber illegal entstandenen, glücklicherweise erhalten gebliebenen Werken vorweg: der Tuschzeichnung „Der Appell“ dauert sehr lange. „Die Füße tun mir weh“ (29,8 x 21 cm) und der aus Kohlestrichen und seinen Fingerabdrücken gefertigten Arbeit „Unser Curriculum Vitae“ (34 x 29,8 cm). Beide befinden sich heute in der Sammlung des Staatlichen Museums Auschwitz. Beiden gemeinsam ist die Konkretion der Erfahrung der Entindividualisierung, der Depersonalisierung und des tagtäglichen Zwangs durch lakonische Abstraktion. Nicht wie das frühmorgendliche und allabendliche Appellstehen sich äußerlich – naturalistisch – darstellte, wollen die Bilder festhalten und zeigen, sondern sie vermitteln von innen her die Erfahrung der Uniformierung, die Erfahrung nur noch Nummer zu sein und vernutzbares Material – und doch Menschen. Still zeigen sie an, was mit dem Nationalsozialismus menschenmöglich geworden ist und damit eine historische Möglichkeit bleibt. Statt Mitleid oder Erbarmen zu fordern, konfrontieren sie, fordern sie hinzusehen und sich zu dem nunmehr Menschenmöglichen zu verhalten. Obwohl oder gerade weil diese Bilder nicht illustrieren, strafen sie – wie die „Reminiszenzen“ auch – die zur Leerformel gewordene, entlastende Redeweise von der Unvorstellbarkeit, von der Undarstellbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen Lüge.15

Ausstellungsfoto
Reminiszenzen in der Ausstellung „Überlebensmittel - Zeugnis - Kunstwerk - Vermächtnis“ der Gedenkstätte Buchenwald
©Peter Hansen

Auch die 1969 entstandenen Reminiszenzen beziehen sich auf ein konkretes Gewaltereignis: das Environment ist – exemplarisch für die nationalsozialistischen Mordaktionen an der polnische Intelligenz – der Vergegenwärtigung und dem Gedächtnis der Verhaftung und Ermordung von 169 Professoren und Absolventen der Kunstakademie Krakau gewidmet. Die Verhaftungen fanden am 16. April 1942 in Krakau statt. Teils wurden die Maler, Bildhauer und anderen Künstler direkt in ihrem Club vom Mittagstisch weg ohne Angabe von Gründen festgenommen. Unter dem Sammelbegriff „sogenannte Künstlergruppe“ sind diese Menschen dann nur einige Tage später, am 24. und 25. April, in das kaum 70 Kilometer entfernt gelegene Konzentrationslager Auschwitz verfrachtet und dort am 27. Mai 1942 ermordet worden. Ihre Namen und das „Sterbedatum“ sind penibel und in grotesk anmutender Schönschrift im „Stärkebuch“ des Konzentrationslagers Auschwitz vermerkt. Vergrößert und auf Bahnen aufgebracht, hinterfangen aneinandergefügte Abbildungen der originalen Seiten mit den Namen der Ermordeten und dem Datum, an dem ihnen brutal ihr Leben genommen worden ist, das Environment. Das Environment im Ganzen mutet auf den ersten Blick wie eine trostlose Ansammlung verlassener kaputter Dinge an, wie ein Raum, wie eine Bühne, dem die Menschen, die hier einmal weilten und schafften, abhandengekommen sind. Lässt man sich genauer auf den vermeintlichen Müll und die wie bloßes Gerümpel erscheinenden Dinge ein, dann entdeckt man, dass es sich um Blöcke für Bildhauerarbeiten handelt, um Staffeleien, eingetrocknete Pinsel und andere Atelierutensilien sowie aus Holzstäbchen und Drähten gebildete, dem menschlichen Körper nachempfundene Gerüste, wie Bilderhauer sie etwa zur Gestaltung von Modellen für Skulpturen des Menschen gebrauchen. Hier, in der bestürzenden Atelieranmutung, wirken sie wie zerbrechliche Marionetten, wie Erinnerungen an die Erinnerung vom Menschen. Den Eindruck elementarer Abwesenheit verstärken ausgetretene Schuhe und in große Platten eingeschnittene menschliche Silhouetten. Diese Silhouetten entstehen durch Wegnahme, entstehen dadurch, dass etwas fehlt. Menschen sind da, aber als Leerstelle. Sie sind aber auch da in Gestalt der vergrößerten Namenslisten und in den zahllosen wie von der Zeit angefressenen und doch gut erkennbaren Fotos von nach Auschwitz verbrachten Menschen. Józef Szajna verwendet hier, wie in vielen anderen seiner Arbeiten, Reproduktionen von vom Erkennungsdienst in Auschwitz angefertigten Fotos der jeweils neueingelieferten Frauen, Männer und Kinder. Diese Fotos sind ihrem Zweck nach Fahndungsfotos und keine Porträts, die den Menschen, die sie zeigen, nachspüren und gerecht werden wollen. Grell ausgeleuchtet, zweckhaft und kalt – aber doch auch letzte Bilder der nach Auschwitz aussortierten, in Auschwitz ermordeten Menschen. Die Fotografien repräsentieren aber nicht nur den Blick der Täter auf ihre Opfer, sondern – ungewollt – auch den Blick der Opfer zurück auf die Täter. Ein Antlitz, ein Blick konterkariert die Aura der Verlorenheit und Trostlosigkeit, denen die „Reminiszenzen“ Ausdruck geben. Es sind das Antlitz und der Blick von Ludwig Puget, 1877 in Krakau geboren und seinerzeit einer der renommiertesten Professoren an der Krakauer Kunstakademie. Als er in Auschwitz in die Kamera der SS schauen muss, ist Ludwig Puget 65 Jahre alt und er weiß, was ihn erwartet. Józef Szajna hat das erkennungsdienstliche Foto, das Ludwig Puget von vorn, von der Brust aufwärts zeigt, stark vergrößert, den Konturen seines Körpers und Kopfes folgend ausgeschnitten und dementsprechend aufmontiert. Aus der Negativsilhouette des Menschen ist so ein individuelles Positiv geworden, aus dem Fahndungsfoto das Porträt eines Menschen, der aufrecht, ohne Angst und klaren Blickes dem Blick seiner Verfolger begegnet. Die Melancholie, die Trostlosigkeit und Ungetröstetheit, die Evidenz der Abwesenheit und des Verlustes, die die „Reminiszenzen“ als zwar ereignisbezogene und darüber hinaus aber auch beispielhafte Erfahrung zum Ausdruck bringen, werden damit nicht heroisierend abgemildert – Józef Szajna stellt ihnen aber einen Kontrapunkt gegenüber. Diesem Kontrapunkt entspricht ein zweiter, nämlich die Arbeit selbst oder genauer: der Akt, dass sie geschaffen worden ist. Dieser Akt künstlerischen Schaffens ist nicht nur ein Dagegen, weil er ein Verbrechen anprangert, Opfern ein Gedächtnis gibt und das Environment auch ein Epitaph ist für Menschen, die spurlos ausgelöscht werden sollten. Er ist ein Dagegen auch darin, dass es ihn überhaupt gibt und dass ein Überlebender den Faden der Kunst und des Schöpferischen dort weiterspinnt, wo er ein für alle Mal abgeschnitten werden sollte. In der Buchenwalder Einrichtung der „Reminiszenzen“ hat Józef Szajna das Environment dementsprechend unmissverständlich signiert – mit seinem Namenszug und seiner Buchenwalder Häftlingsnummer auf einem extra dafür 1998 aus dem ehemaligen Steinbruch des Konzentrationslagers gebrochenen Stein.

Die „Reminiszenzen“ verweigern sich als gestaltete Abwesenheit, als Indiz eines gewaltsam herbeigeführten Abbruchs und Verlustes jeder nachträglichen Sinngebung des Leidens und Sterbens in den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern. Stattdessen erzeugen sie Evidenz, sind eine Stellungnahme und fordern auf, den durch die künstlerische Arbeit und Form geschaffenen Raum der Abwesenheit und des Verlustes nicht nur anzuschauen, sondern auch leiblich zu betreten, für einen Moment gleichsam ein Teil von ihm zu werden. Environments wie die „Reminiszenzen“ sind räumliche Bilder, Szenen. Sie fordern und stimulieren die Vorstellungskraft, Nachdenklichkeit, Anteilnahme, sind performativ, bringen buchstäblich in Bewegung. 1969, als Józef Szajna die Reminiszenzen in Krakau, in Polen schuf, bedeutete dies zugleich einen wegweisenden Bruch mit den traditionellen ästhetischen Formen des Opfergedenkens. Wo diese durch nachträgliche Sinngebung des Sinnlosen menschengemachtes Leid und die Folgen politisch intentionaler Verbrechen im Sinne eines „gestorben für …“ erträglicher machten, glätteten oder metaphysisch überhöhten, formulierte Józef Szajna den Verlust, den Bruch, die Wunde. Mit den Mitteln einer Kulturvorstellung und Ästhetik, die durch die Möglichkeit des nationalsozialistischen Zivilisationsbruch selbst zutiefst in Frage gestellt worden waren, ließ sich die Erfahrung von Auschwitz für ihn ungeglättet, ungeschönt nicht mehr darstellen. Kunst konnte keine unangetastete höhere Wahrheit und Wirklichkeit mehr sein, die man nur mehr hätte revitalisieren müssen. Kunst musste, wie die Nachlebenden auch, den Bruch aushalten, ihn formulieren, ihn als Anstoß nehmen und als Anstoß für Gegenhandeln jetzt gestalten. Auschwitz – das war für Józef Szajna gleichzeitig eine beendete und eine unabgeschlossene Geschichte. „Ich finde, die Welt ist krank und destruktiv, und am stärksten trifft das die Menschen. […] Das, was ich tue, ist mein Schrei. […] Ich möchte Euch zeigen, was ein Leben wert ist, was es mich gekostet hat. Ich brauche kein Mitleid. […] Meine Kunst zeigt das, wovon wir uns im Leben befreien sollten. Meine Kunst ist eine Selbstverteidigung gegen die Resignation.“16

Es hat von 1970 bis 2020, es hat 50 Jahre gedauert, bis die „Reminiszenzen“ einen dauerhaft gesicherten Standort in Deutschland gefunden haben. Es fällt schwer, diesen Umstand nicht mit der historischen Konkretheit und der ästhetischen Radikalität des Werkes in Verbindung zu bringen. So sehr Józef Szajna, mit dem ich bis zu seinem Tod im Jahr 2008 befreundet war, Brücken zwischen Menschen baute und Versöhnung durch Wahrheit lebte, so entschieden war er als Künstler. Auschwitz nicht begreifen zu wollen, darüber hinwegzureden und die Gegenwart von dieser Erfahrung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen wie auch immer abschotten zu wollen, das wäre ihm nicht in den Sinn gekommen. Er hätte es als Verrat nicht nur an den Ermordeten sondern auch an der Gegenwart verstanden. Das Fabrikanten- und Sammlerehepaar Johnssen hat die „Reminiszenzen“ auf der Biennale in Venedig gesehen und vom Fleck weg gekauft. 1970 war Gertrud Johnssen 54 Jahre alt und hatte ab Ende der 1950er-Jahre mit Unterstützung ihres Mannes begonnen, eine Sammlung moderner Kunst aufzubauen. Ihr Augenmerk lag auf der Nachkriegsavantgarde mit US-amerikanischem Schwerpunkt und nicht etwa auf dem, was man heute eher oberflächlich zuordnend als analytisch inhaltlich und ästhetisch erschließend „Lagerkunst“, „Erinnerungskunst“, „Holocaust-Kunst“ nennt. Zu ihrer Entscheidung, die „Reminiszenzen“ zu erwerben, sagte sie nur, die Arbeit habe sie getroffen, sie gehöre nach Deutschland – wo, wenn nicht hier, müsse sie gesehen werden und wirken. Ohne den Privatkauf des Ehepaares Johnnssen wären die „Reminiszenzen“ wohl kaum je dauerhaft in die Bundesrepublik gekommen. Der Kauf erstaunt noch heute, so sehr sticht er aus der zu der Zeit noch weit verbreiteten Haltung, es müsse endlich einmal Schluss sein mit dem „Aufrühren“ der NS-Vergangenheit, heraus. Zwar fällt auch Willy Brandts große und eindrucksvolle Geste der Schuldanerkennung und Bitte um Vergebung – sein Kniefall als Bundeskanzler vor dem Denkmal in Erinnerung an den Aufstand im jüdischen Ghetto 1943 in Warschau – in das Jahr 1970 und nicht zuletzt die Frankfurter Auschwitzprozesse 1963 bis 1965 hatten einige Jahre zuvor der selbstkritischen Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer NS-Vergangenheit Auftrieb gegeben. Gleichwohl galt diese Aufarbeitung nach wie vor breit als „Nestbeschmutzung“. Aber nicht nur der Inhalt des Werkes war geeignet, Anstoß und Abwehr zu erregen, sondern auch seine ästhetische Form. Westliche Künstler wie Joseph Beuys, Allen Kaprow, Edward Kienholz, Claes Oldenburg oder Wolf Vostell, zu denen sich künstlerische Bezüge herstellen lassen, trafen in dieser Zeit keineswegs nur auf Bewunderer sondern gleichfalls auf heftige Ablehnung. Und welchen Rang hatte Gegenwartskunst aus dem „Ostblock“ in der Zeit des Kalten Krieges und den Jahren einer gerade beginnenden, auf heftige Gegnerschaft stoßenden neuen Ostpolitik der sozial-liberalen Regierung? Und schließlich: 140 Quadratmeter Auschwitz in einer Privatsammlung? Dieser Ankauf ist wohl einzigartig. Zudem war er nicht billig. Wenn man Józef Szajna fragte, was denn die „Reminiszenzen“ damals gekostet hätten, pflegte er mit einem freundlichen Lächeln zu sagen, es habe gereicht, für die Familie einen VW-Käfer zu kaufen und für seine Frau einen warmen Pelzmantel. Dass man wusste, dass noch ein Betrag für den staatlichen Kunsthandel der Volksrepublik Polen hinzukam, setzte er dabei voraus.

Dass die „Reminiszenzen“, nachdem sie 1971 öffentlich im Rahmen der Ruhrfestspiele gezeigt worden waren, kaum mehr in der Öffentlichkeit gezeigt werden konnten, habe ich bereits erwähnt. Es gab aber intensive Bemühungen dazu, die alle gescheitert sind. Es lohnt sich, den Gründen für dieses Scheitern nachzugehen. 1989 ist das Vorhaben gescheitert, die „Reminiszenzen“ dauerhaft im damals sich im Aufbau befindenden „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Bonn zu zeigen. Das 1994 eröffnete Museum ging auf eine Forderung von Bundeskanzler Helmuth Kohl aus dem Jahr 1982 zurück, die ab 1986/87 mit dem Aufbau einer entsprechenden Sammlung, der Errichtung eines Museumbaus und der Planung der Dauerausstellung unter der Leitung des Gründungsdirektors Hermann Schäfer umgesetzt wurde. Hermann Schäfer – der von den Johnssens auf die „Reminiszenzen“ aufmerksam gemacht worden war und deren geschichtspolitische Bedeutung erkannte – war bereit, für das 140 Quadratmeter beanspruchende Werk einen Raum von 100 Quadratmetern Größe zu Verfügung zu stellen. Ein Schreiben Schäfers vom 26. Januar 1989 an Friedrich Karl Johnssen erhellt sein Interesse: „Wie Sie bin ich der Meinung, daß diese bedeutende künstlerische Installation, gleichsam als Mahnmal der Verbrechen des Nationalsozialismus, hier in Deutschland ihren Ausstellungsplatz erhalten sollte. Anders als im Ausland zwingen die ٫Reminiszenzenʻ in Deutschland zu einer mehrdimensionalen Interpretation. Hier können sie am besten in der auch von Jozef Szajna beabsichtigten Weise das Nachdenken der jüngeren Generation anstoßen und den Gedankenaustausch fördern, zwischen den damals wissend oder unwissend Betroffenen und deren Nachkommen, den heute über Erbe und Verantwortung der Geschichte nachdenkenden jüngeren Deutschen.“17 Signifikant ist die Reduktion der „Reminiszenzen“ auf die Funktion eines Mahnmals und der Hinweis darauf, dass das Werk im Ausland – deutscher Deutungshoheit entzogen – anders interpretiert werden würde als in der Bundesrepublik. Mit der Einengung des Kunstwerks als Mahnmal traten der geschichtliche Zeugniswert der „Reminiszenzen“ und die forensisch-konfrontierende, anklagende Dimension in den Hintergrund und die die Arbeit ausmachende unbequeme, verstörende, aufrüttelte Ästhetik ist mit der Einordnung des Werkes als Mahnmal gleichzeitig beschwichtigt worden. Denn für diese gab und gibt es – im Gegensatz zu mit Konventionen brechenden Kunstwerken – vorgezeichnete Rezeptions- und Gebrauchsweisen, anders gesagt: Rituale und Sprachformen, die von Auseinandersetzung entlasten können.

Unser Curriculum Vitae. Buchenwald 1944.
Kohle 34 x 29,8 cm.
©Staatliches Museum Auschwitz/Oświęcim

Der Hinweis darauf, dass die „Reminiszenzen“ in Deutschland gezeigt eine mehrdimensionale Interpretation erzwängen, schließt hier an. Während die „Reminiszenzen“ im Ausland in erster Linie als Vergegenwärtigung und Repräsentation der deutschen Verbrechen und Schuld gestanden hätten, ließen sich das Werk und seine Präsentation in Deutschland vor allem als Zeichen der Überwindung und damit des Abschlusses der Vergangenheit deuten. Diese verkürzende und einengende Interpretation hätte gut in die Geschichtspolitik Helmut Kohls gepasst, in der die Gründung des Haus der Geschichte der Bundesrepublik ein wichtiger Baustein war. Denn dieses Geschichtsmuseum sollte nicht zuletzt unter Beweis stellen, dass die Bundesrepublik ganz aus den „Schatten der Vergangenheit“ herausgetreten war und die Deutschen sich geläutert und „normalisiert“ hatten. Gleichwohl fanden sich 1989 nicht die Mittel, die Arbeit anzukaufen, zudem die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten und die damit verbundenen erinnerungs- und denkmalpolitischen Initiativen nun in Berlin – etwa die Umgestaltung der Neuen Wache zur Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft oder der Beschluss, ein Denkmal für die ermordeten Juden in der Nähe des ehemaligen Reichstags zu errichten – den Fokus verschoben hatten, weniger inhaltlich aber doch topografisch. Aber auch die alsbald in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre sich anschließenden Bemühungen der Johnssens in Berlin – nämlich in der Nationalgalerie bzw. im 1987 gegründeten, 1994 eröffneten Deutschen Historischen Museum – einen dauerhaften Zeigeort für die „Reminiszenzen“ zu finden, scheiterten. Für die Nationalgalerie beschied ihr damaliger, für die Betreuung des neuen Museums für Gegenwartskunst im Hamburger Bahnhof nach Berlin berufene Hauptkustos Wulf Herzogenrath an die Familie Johnssen: „Wir schlagen deshalb vor, daß Sie – weil für uns die Arbeit doch einfach zu groß ist, aber der historische Wert ebenso wie der künstlerische hoch zu bewerten ist – sich an Herrn Prof. Stölzl, Direktor des Deutschen Historischen Museums, Zeughaus, Unter den Linden, zu wenden.“18 Die Antwort des Direktors des Deutschen Historischen Museums wiederum lautete: „Wir sind der falsche Ort für die ‚Reminiszenzen'. Unsere eigentliche Aufgabe ist die Darstellung der Geschichte mit authentischen Geschichtszeugnissen, die in engem zeitlichen Zusammenhang mit den Ereignissen stehen, von denen sie erzählen.“ Das schließe selbstverständlich „auch Kunstwerke als historische Zeugnisse“ ein. Aber „das Historienbild, also die spätere Interpretation, wird die Ausnahme in unserer Ausstellung sein.“19 Der in dieses Hin und Her schließlich eingeschaltete Bundeskanzler Helmut Kohl ließ der Tochter Gertrud Johnssens, Irmelin Cloppenburg, über seinen Staatsminister Anton Pfeiffer am 3. Mai 1993 antworten: „Der Herr Bundeskanzler bittet Sie herzlich um Ihr Verständnis, daß er in einer Frage, in der es vor allem um museumsfachliche Argumente geht, nicht persönlich eingreifen möchte.“20 Allerdings zeigte sich der Bundeskanzler im gleichen Jahr auch durchaus weniger regelbewusst, als er mit Nachdruck „anregte“, im Zuge der Neugestaltung der Neuen Wache in deren Innenraum als Denkmalselement eine stark vergrößerte Kopie der Plastik von Käthe Kollwitz Mutter mit Sohn aufzustellen, und wenig später griff er zudem deutlich in die Gestaltung des Denkmals für die ermordeten Juden ein: 1995 kippte er den von den Vertretern Berlins, des Bundes und des Förderkreises im Wettbewerb favorisierten und zur Ausführung bestimmten Entwurf von Caroline Jackob-Marks und zwei Jahre später verlangte er die Ergänzung des nun zur Ausführung bestimmten Entwurfs von Peter Eisenman und Richard Serra um einen Grüngürtel. Dass sich weder die Nationalgalerie als Kunstmuseum noch das Deutsche Historische Museum als Geschichtsmuseum für die „Reminiszenzen“ zuständig erklärt haben, wirft nicht nur Licht auf die geschichtskulturellen und geschichtspolitischen Entwicklungen nach der Vereinigung in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre, sondern auch darauf, wie schwer es fiel, den doppelten – und darin wesentlichen – Charakter der „Reminiszenzen“ anzuerkennen, nämlich ihren Charakter als Zeugnis und als Kunstwerk. Wo die einen zu viel Kunst sahen, sahen die anderen zu viel Geschichte. Dabei wären die „Reminiszenzen“ – wie andere Werke von Häftlingen auch – geradezu dazu prädestiniert, an ihnen ernsthaft und empirisch konkret über visuelle ästhetische Praktiken, Formate und Vermittlungsformen nachzudenken – und sie (weiter-) zu entwickeln –, die der vergegenwärtigenden, reflexiven Repräsentation des nationalsozialistischen Zivilisationsbruch gerecht würden – mit Gewinn auch für die künstlerische Auseinandersetzung mit extremer politischer und gesellschaftlicher Gewalt überhaupt.

Ernstliches Interesse an der Übernahme und Ausstellung der „Reminiszenzen“ zeigte 1993 allein die Leiterin des Jüdisches Museum, damals noch eine Abteilung des Berlin Museum, Vera Bendt. Am 9. September 1993 schrieb sie an Irmelin Cloppenburg: „[…] über Ernst Cramer vom Axel Springer-Verlag erfuhr ich, daß Sie für das Werk des Künstlers Józef Szajna, „Reminiszenzen“, einen festen Platz in Berlin suchen. Nach meiner Überzeugung ist dieser Platz im Jüdischen Museum (Abteilung des Berlin Museums) gegeben. Ich werde im Museum über das Werk berichten, und den Senator für Kulturelle Angelegenheiten, Herr Roloff-Momin, davon informieren, daß die Möglichkeit besteht, dieses Werk für das Jüdische Museum zu bekommen. […] Außerdem werde ich mit dem Architekten, Herrn Daniel Liebeskind, sprechen.“21 Es springt ins Auge, dass es Ernst Cramer war, der sich ausdrücklich für die Ausstellung der „Reminiszenzen“ in Berlin einsetzte und der die Leiterin des Jüdischen Museums auf die Arbeit aufmerksam gemacht hat. Wie Józef Szajna war auch Ernst Cramer Häftling im KZ Buchenwald gewesen. 1938 hatte er im Alter von 25 Jahren zu den 9.845 deutschen Juden gehört, die nach den Pogromen vom 9. November in das KZ Buchenwald verschleppt worden waren. Nach sechs Wochen frei gelassen, konnte er 1939 gerade noch in die USA emigrieren. Seine Eltern und Geschwister jedoch waren in der Shoa ermordet worden.22

Es ist evident, dass sich die Geschichte der „Reminiszenzen“ in Deutschland, dass sich die Geschichte der Bemühungen, dieses Werk öffentlich dauerhaft sichtbar zu machen, weder von der Geschichte der selbstkritischen noch von der Geschichte einer beschwichtigenden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik abtrennen lässt und das es gerade die diese Arbeit auszeichnende herausragende Verschmelzung von Zeugniswert und Kunstwert ist, die aufrüttelt und den Schmerz wachhält – und für Unbehagen gesorgt hat. Weil sich die „Reminiszenzen“ weder in der Schublade der Geschichte noch der der Kunst ablegen lassen, lässt sich ihre Aussagekraft auch nicht abschließend historisieren oder mit Pathos besänftigen. Dies ernstgenommen, wird die Frage, ob die „Reminiszenzen“ – und vergleichbare Arbeiten – in ein Kunstmuseum oder in ein Geschichtsmuseum gehören, zur Frage ihrer angemessenen historischen und kunstgeschichtlichen Erschließung, Präsentation und Vermittlung. Die aber muss man wissenschaftlich und gesellschaftlich wollen. Mehr als fragwürdig und unangemessen ist es hingegen, den Doppelcharakter des Werkes – und damit dessen spezifische Qualität – gegen das Werk auszuspielen und es so in das Niemandsland eines Dazwischen zu verbannen und es dann und wann daraus für Gedenktage oder Gedenkfeiern hervorzuholen.

Nun sind die „Reminiszenzen“ dort wieder angekommen, wo Józef Szajna sein künstlerisches Leben begann: in Buchenwald. Das ist gut und das ist angesichts der Bedeutung und Geschichte der „Reminiszenzen“ auch ein wenig bitter. Natürlich habe ich mich im Frühjahr 2020 als Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora mehr als gefreut, nach fast zweijährigem Ringen um Finanzierung diese exzeptionelle Arbeit nun sicher im eigenen Haus zu haben und sie in Deutschland halten zu können. Zumal sie in Buchenwald noch von Józef Szajna selbst und in kongenialer Verbindung mit dem historischen Raum der Lagerdesinfektion eingerichtet worden ist. Aber ich hätte sie genauso gerne, wenn nicht lieber in einem der bedeutendsten Kunstmuseen der Bundesrepublik gesehen. Denn dorthin gehörten sowohl der Künstler Józef Szajna als auch – in ihrer künstlerischen Qualität ernstgenommen – die „Reminiszenzen“.

Großer Dank ist den Förderern des Ankaufs – der Beauftragten für Kultur und Medien, der Ernst von Siemens Kunststiftung, dem Freistaat Thüringen, der Kulturstiftung der Länder und den Einzelspender:innen – auszusprechen, wie auch den Gutachterinnen und Gutachtern, die sich intensiv mit den „Reminiszenzen“ befasst haben: Anda Rottenberg in Warschau, Gertrud Pickhan in Berlin und Armin Zweite in München. Dieser Dank bezieht sich nicht allein darauf, dass alle – Förderer und Gutachterinnen und Gutachter – dazu beigetragen haben, der „Odyssee“ der Reminiszenzen ein Ende zu setzen, sondern der Dank bezieht sich insbesondere auch darauf, dass im Prozess der Bewertung der „Reminiszenzen“ Zeugniswert und Kunstwert nicht mehr auseinanderdividiert worden sind. Denn es gibt noch, wie angedeutet, eine Vielzahl weiterer künstlerischer Artefakte aus der Hand von Frauen und Männern, die die nationalsozialistischen Lager erlitten und erfahren haben und die einer integralen Erschließung und Würdigung ihrer Zeugnis- und Kunstwerke harren.

Volkhard Knigge war von 1994 bis 2020 Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und seit 2008 auch Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Seit Mitte der 1990er-Jahre mit Jòzef Szajna befreundet, hat er in der Gedenkstätte Buchenwald die erste große Ausstellung der Bundesrepublik zu dessen Werk realisiert.

Fußnoten

1 Józef Szajna in einem Gespräch mit Ingrid Scheurmann, Warschau 14. und 15. Oktober 2000, in: Ingrid Scheurmann, Volkhard Knigge (Hg.): Józef Szajna. Kunst und Theater, Göttingen 2002, S. 22-47, S. 28 und S. 25.

2 Ebd., S. 24.

3 Siehe dazu die Katalogbroschüre: Józef Szajna – Reminiszenzen. Gegenwart einer Vergangenheit. 25. Ruhrfestspiele Recklinghausen 1971. 29. April bis 27. Juni 1971 im Haus der Ruhrfestspiele, o. O., o. J.

4 Die Reminiszenzen entstanden aus Anlass der 150. Jahrestages der Gründung der Kunst Akademie, an der auch Józef Szajna studiert hatte.

5 Dazu erschien eine Katalogbroschüre in mehreren Sprachen, hier der Hinweis auf die mir vorliegende französische Ausgabe: Bureau Central des Expositions d`Art à Varsovie: Józef Szajna. XXXV Biennale de Venise, Section Polonaise, o. O., o. J.

6 Siehe dazu den Katalog: Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz: Bilder vom Menschen in der Kunst des Abendlandes. Jubiläumsausstellung der Preußischen Museen Berlin 1830 bis 1980, Berlin 1980, S. 368 (Text) und Kat. Nr. 36 (Abbildungen).

7 Fritz Bauer Institut. Studien- und Dokumentationszentrum zur Geschichte und Wirkung des Holocaust (Hg.:) Reminiszenzen. Ein Environment von Prof. Józef Szajna. Zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau, Materialien Nr. 12, Redaktion und Ausstellungsorganisation Andrzej Bodek, Frankfurt/M, o. J.

8 Replika – Erinnerungen. Gespräch zwischen Detlef Hoffmann, Oldenburg und Józef Szajna, Warschau, in: Detlef Hoffmann (Hg.): Kunst und Holocaust. Bildliche Zeugen vom Ende der westlichen Kultur, Loccumer Protokolle 14/89, Rehburg-Loccum 1990, zitiert nach der zweiten Auflage 1993, S. 80f.

Ebd., S. 83f.

10 Ebd., S. 84.

11 Ebd., S. 84.

12 Ebd., S. 85.

13 Józef Szajna: Der Abgrund, in: Ingrid Scheurmann, Volkhard Knigge (Hg.): Józef Szajna. Kunst und Theater, Göttingen 2002, S. 21.

14 Replika – Erinnerungen. Gespräch zwischen Detlef Hoffmann, Oldenburg und Józef Szajna, Warschau, in: Detlef Hoffmann (Hg.): Kunst und Holocaust. Bildliche Zeugen vom Ende der westlichen Kultur, Loccumer Protokolle 14/89, Rehburg-Loccum 1990, zitiert nach der zweiten Auflage 1993, S. 89f.

15 Dies gilt im Übrigen für alle in den Konzentrations- und Vernichtungslagern von Häftlingen heimlich angefertigten künstlerischen Artefakte, von denen sich nach Schätzung von Jane Blatter und Sybil Milton mindesten 30.000 erhalten haben. (siehe: Jane Blatter, Sybil Milton: Art of he Holocaust, New York 1981).

16 Józef Szajna in einem Gespräch mit Ingrid Scheurmann, Warschau 14. und 15. Oktober 2000, in: Ingrid Scheurmann, Volkhard Knigge (Hg.): Józef Szajna. Kunst und Theater, Göttingen 2002, S. 22-47, S. 46.

17 Zitiert nach der Kopie eines Briefes vom 26. Januar 1989 von Hermann Schäfer an Friedrich Karl Johnssen, den mir Gertrud Johnssen für mein Privatarchiv zur Verfügung gestellt hat.

18 Zitiert nach dem Artikel von Otto Köhler „Vergrabene Erinnerung. Während über ein zentrales Holocaust-Mahnmal gestritten wird, gibt es für die an Auschwitz erinnernde Installation „Reminiszenzen von Józef Szajna in Deutschland keinen Platz. Das Kunstwerk des Auschwitz-Überlebenden verschwindet nach einem kurzen Gastspiel in Frankfurt jetzt wohl wieder im Depot.“ In: Freitag, 17. Februar 1995, Nr. 8, S. 9.

19 Ebd.

20 Zitiert nach einer Kopie des Briefes, die mir Gertrud Johnssen für mein Privatarchiv zur Verfügung gestellt hat.

21 Zitiert nach einer Kopie des Briefes in meinem Privatarchiv, die mir Gertrud Johnssen zur Verfügung gestellt hat.

22 Ernst Cramer ist am 28.1.1913 in Augsburg geboren worden und am 19.1.2010 in Berlin verstorben. Nach seiner Emigration in die USA meldete er sich bei Kriegseintritt der USA zur US Army. Nach Kriegsende kam er als Soldat nach Deutschland. Dort blieb er und arbeite seit 1948 als Journalist. 1993 hatte er einen Sitz im Aufsichtsrat des Springer Verlags (1983 bis 1999) und war Vorsitzender des Vorstandes der Axel Springer Stiftung (1981 bis 2010). Ihn habe ich 1995 in Buchenwald kennengelernt.


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