Mittelbau-Dora

Literatur, Kolonialismus und der Nationalsozialismus

Sharon Dodua Otoos Roman „Adas Raum“

Sharon Dodua Otoo verbindet in ihrem Erstlingsroman vier Geschichten in verschiedenen Jahrhunderten miteinander. In unterschiedlichen Erscheinungsformen sind ihre vier Protagonistinnen – alle heißen Ada – der Gewaltförmigkeit von Rassismus und Sexismus ausgesetzt. Für eine dieser Episoden ist das KZ Mittelbau-Dora zentral.

Sharon Dodua Otoo liest aus ihrem Buch in Mittelbau-Dora vor
Sharon Dodua Otoo in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 1. Juli 2021

Am Abend des 1. Juli 2021 fand die erste Veranstaltung in der KZ-Gedenkstätte nach dem Ende des mehrmonatigen Corona-Lockdowns statt. Die britisch-deutsche Autorin Sharon Dodua Otoo las aus ihrem ersten Roman „Adas Raum“, der nicht nur sehr breit und weitgehend positiv besprochen wurde, sondern es sogar zu einer Platzierung auf der SPIEGEL-Bestseller-Liste brachte. Dieser Erfolg ist für einen literarisch ambitionierten Roman mit ausgesprochen ernstem Thema bemerkenswert.

Die Autorin hat sich seit Jahren mit der Geschichte des KZ Mittelbau-Dora beschäftigt. Bereits Otoos Erzählung „Herr Gröttrup setzt sich hin“, für die sie im Jahr 2016 in Klagenfurt mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, weist einen Bezug zum Lager auf. Beim titelgebenden Protagonisten Helmut Gröttrup handelt es sich um einen Peenemünder Raketeningenieur, der im Februar 1945 mit seiner Abteilung in den Südharz versetzt wurde. Auch kurz vor Kriegsende gab das NS-Regime seine aberwitzigen Rüstungspläne nicht auf und wollte sie – völlig realitätsfern – unter fortgehender Ausbeutung der Zwangsarbeit von Häftlingen des KZ Mittelbau-Dora mit dieser im Südharz geplanten „Entwicklungsgemeinschaft Mittelbau“ weiter ausbauen.

Wie Sharon Otoo bei ihrem Besuch berichtete, entstand über diesen Bezug ihr vertieftes Interesse an der Geschichte des Konzentrationslagers. In ihrem nun erschienenen Roman „Adas Raum“ ist das KZ Mittelbau-Dora ein zentraler Ort der vielschichtigen Handlung. Auch formell gibt es einen Anschluss an ihre preisgekrönte Erzählung über eine fiktive Begebenheit im Nachkriegsleben des Herrn Gröttrup: Die Dinge erzählen die Geschichte. War es in der Erzählung noch ein Frühstücksei, das sich weigert, trotz ausreichender Kochzeit von exakt siebeneinhalb Minuten hart zu werden, und damit den rationalistischen Ingenieur nahezu in den Wahnsinn treibt, erzählen nun unterschiedliche Gegenstände die Geschichten vier unterschiedlicher Adas über mehrere Jahrhunderte hinweg. Auch der Name Ada taucht bereits in der Erzählung auf; Gröttrups Putzfrau trägt ihn.

Buchcover "Adas Raum"
Otoo, Sharon Dodua (2021): Adas Raum. Roman, Frankfurt a. M.

Sharon Otoo folgt ihren vier Protagonistinnen im verwobenen Aufbau des Romans von der westafrikanischen Küste im 15. Jahrhundert bis zur Wohnungssuche in der Berliner Gegenwart. Die chronologisch dritte Ada wird gezwungen, im Häftlingsbordell des KZ Mittelbau-Dora zu arbeiten. Die Erzählstimme dieser Episode gehört dem Zimmer des Bordells, in dem Ada die Männer empfangen muss – „Adas Raum“: „Kleidung, Frisuren, Mahlzeiten, Pausen, Stellungen – alles war vom Lagerkommandanten festgelegt und angeordnet worden. Nur die Belegung der Zimmer nicht. Ada landete allerdings des Öfteren in dem linken Zimmer am Ende des Ganges, wo, falls sie zur richtigen Zeit ihre Augen geöffnet hatte, die Abenddämmerung besonders schön erschien. So oft befand sie sich dort, dass es schließlich den Namen ‚Adas Raum‘ erhielt. Ausgerechnet dieses Zimmer war ich.“ (S. 48)

Otoos Darstellung ist nie didaktisch, immer genuin literarisch. Sie gelangt dabei in Bereiche, über die Historiker:innen aus methodischen Gründen schweigen müssen. Sie hat gründlich recherchiert, bedient jedoch nicht das gefällige Genre des historischen Romans. Stattdessen fängt Otoo die kleinen unmöglichen Gedankenfluchten der Gefangenen im KZ ein. Die Leistung des Romans besteht jedoch vor allem in seiner Gesamtkomposition: Der koloniale Raub eines Armbands führt uns – und die verschiedenen Adas mit dem jeweiligen Gegenpart Wilhelm – von Westafrika nach London, in das KZ Mittelbau-Dora und schließlich ins Berlin der Gegenwart. Teilweise scheinen vielversprechende Möglichkeiten für die Protagonistinnen auf – der vermeintliche gesellschaftliche Fortschritt im 19. Jahrhundert verspricht der fiktionalisierten Figur der Computerpionierin Ada Lovelace eine wissenschaftliche Karriere –, enden aber in den ersten drei Episoden stets tödlich.

Gerade die gleichzeitige Thematisierung der kolonialen und der nationalsozialistischen Verbrechen hat Otoo den vereinzelten Vorwurf eingebracht, sich mit ihrem Roman an dem nicht zu leugnenden Trend eines neuen Relativismus bzw. der „Holocaust-Verharmlosung“ zu beteiligen. Gewicht bekommt dieser Vorwurf dadurch, dass er von dem ausgesprochen klugen Gegenwartsdiagnostiker und einer der wichtigsten Stimmen der Gegenwartsliteratur, nämlich von Maxim Biller, in der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 36/2021) erhoben wurde. In diesem Fall zielen seine Vorwürfe jedoch ins Leere: Dass in „Adas Raum“ keine jüdischen Häftlinge ins Bordell gehen, ist schlicht der SS-Direktive geschuldet, die es ihnen untersagte. Es geht Otoo also keinesfalls darum, „einen Holocaust ohne Juden“ zu erzählen. Vielmehr lässt es sich als eine gezielte Wahl der Romankonstruktion verstehen, dass die NS-Verbrechen im Konzentrationslager – und eben nicht der Holocaust in einem Vernichtungslager wie Auschwitz – in einer Episode thematisiert werden. Sharon Otoo zielt gar nicht auf zweifelhafte historische Parallelisierungen: Der Sexismus der viktorianischen Epoche gleicht nicht dem Rassismus der Gegenwart; genauso wenig gleicht der Kolonialismus dem Nationalsozialismus. Derartig simplen Gleichsetzungen widersetzt sich der Roman bereits in seiner Komposition. Dabei gelingt es ihm beeindruckend, das historische Apriori einzufangen: Die jeweilige Zeit lässt sich nur durch ihre Vergangenheit als etwas Gewordenes verstehen. Darüber hinaus freut es den rezensierenden Ausstellungsmacher, dass den Dingen eine Stimme gegeben wird.

Der Historiker Karsten Uhl leitet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.


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