SCHWERPUNKT

Modernisierung und Zwangsarbeit

Ein Gespräch mit dem Historiker Maximilian Schulz über Zwangsarbeit in der Leipziger Luftfahrtindustrie

Die Erla-Maschinenwerk GmbH war ein im Sommer 1934 gegründetes Luftfahrtunternehmen. Nach der Hugo Schneider AG (HASAG) handelte es sich um den zweitgrößten Rüstungsproduzenten im Stadtgebiet von Leipzig. Zwischen 1937 und 1945 stellte der Konzern in Lizenz über 11.000 Jagdflugzeuge vom Typ Messerschmitt Bf/Me 109 her. Damit waren die Erla-Werke nach der Messerschmitt AG der zweitgrößte Produzent sämtlicher Bf/Me 109 im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich, rund ein Drittel aller Maschinen stammte aus Sachsen.

 

Kriegsbedingt kompensierte der staatliche Rüstungskonzern ab 1940 seinen stetigen Arbeitskräftemangel mit verschleppten Männern und Frauen aus Europa, 1943 kamen erstmals KZ-Häftlinge aus Buchenwald hinzu. Ende des Jahres 1943 arbeiteten knapp 25.000 Menschen in Leipzig, Sachsen und Belgien für den Flugzeugbauer – davon fast zwei Drittel (16.000) unter Zwang. Mindestens 5.400 Häftlinge wurden bis zum Kriegsende in Europa in vier KZ-Außenlagern ausgebeutet.

Aus Perspektive der Erla-Maschinenwerke war Zwangsarbeit in den eigenen Fabrikhallen ein dynamischer Prozess. Erstmals lassen sich 1940 an den belgischen Standorten in Antwerpen und Brüssel „ausländische Arbeitskräfte“ nachweisen, ein Jahr später erreichten die ersten Männer aus Belgien und Italien die Werksgelände in Leipzig. Im Jahr 1942 wurde der „Ausländereinsatz“ deutlich ausgeweitet und Zwangsmaßnahmen wurden intensiviert, was sich besonders in der Ausbeutung sowjetischer Kriegsgefangener und von „Ostarbeiter:innen“ niederschlägt. Als im März 1943 erstmals KZ-Häftlinge hinzukamen, waren sie zunächst nur eine von mehreren Gruppen. Später lassen sich noch italienische Militärinternierte und zivile Strafgefangene aus staatlichen Gefängnissen und Zuchthäusern belegen. Die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen unterscheidet sich ab dem Frühjahr 1943 jedoch deutlich von der Arbeit der anderen genannten Gruppen. Erstens waren es ausschließlich Männer, was auf die Struktur der beiden KZ-Hauptlager Buchenwald und Flossenbürg zurückzuführen ist. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede traten erst 1944 mit der Umstrukturierung des KZ-Systems in den Hintergrund.

Zweitens lag die neue Qualität hauptsächlich in der Art der Zwangsarbeit. Denn europäische Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene finden sich in allen Abteilungen und Ebenen des Rüstungskonzerns, egal ob es sich um die Kriegsproduktion oder die Unternehmensverwaltung gehandelt hat. Selbst die beiden Geschäftsführer mieteten 1944/45 von ihrem Unternehmen „Ausländerinnen“ für private hauswirtschaftliche Dienste. KZ-Häftlinge wurden hingegen streng isoliert und, wenn möglich, getrennt von den weiteren Zwangsarbeiter:innen ausschließlich in bestimmten Werkshallen zur Flugzeugproduktion gezwungen. Ihr Arbeitsplatz war in allen vier KZ-Außenlagern das Fließband. Dabei fällt die Errichtung des ersten KZ-Außenlagers Leipzig-Thekla vor 81 Jahren mit grundlegenden Rationalisierungen und Modernisierungen der Produktionsprozesse bei den Erla-Werken zusammen, denn der Rüstungskonzern stellte ab dem Jahreswechsel 1942/43 die gesamte Produktion auf die Fließbandfertigung um.

Die Einführung moderner automatisierter Massenproduktionsmethoden war Mitte 1943 abgeschlossen, sollte die Flugzeugfertigung erheblich steigern und war die Grundlage dafür, dass in großer Anzahl KZ-Häftlinge als ungelernte Arbeitskräfte an mehreren dezentralen Standorten in die wirtschaftlichen Prozesse integriert werden konnten. Ihr „Einsatz“ war deshalb langfristig von der Konzernleitung geplant. Aus Sicht des Unternehmens waren die Gefangenen aus den KZ-Komplexen Buchenwald, Flossenbürg, Sachsenhausen und später Groß-Rosen besonders austauschbare und billige Arbeitskräfte. Die Erla-Werke hatten ein erhebliches Interesse an der Arbeitskraft der Gefangenen, aber nicht am Erhalt ihrer Arbeitsfähigkeit. Neben der Rüstungsproduktion mussten sie zudem die gefährlichsten und schwersten Arbeiten verrichten, etwa die Räumung von Trümmerschäden und Bombenblindgängern, auch im Leipziger Stadtgebiet.

Fotografie des leerstehenden Gebäudes der früheren Möbelfabrik, ehemals KZ-Außenlager Johanngeorgenstadt
1/3
Ehemaliges KZ-Außenlager Johanngeorgenstadt, 16. August 2019. Das leerstehende Gebäude der früheren Möbelfabrik in der Georgistraße Ecke Anton-Unger-Straße befindet sich heute in Privatbesitz.
Fotografie der ehemaligen Textilfabrik, ehemaliges KZ-Außenlager Mülsen
2/3
Ehemaliges KZ-Außenlager Mülsen St. Micheln, 16. August 2019. Das ursprünglich als Textilfabrik genutzte Gebäude in der Otto-Boessneck-Straße 1 wird heute durch ein Textilunternehmen kommerziell genutzt.
Fotografie des ehemaligen KZ-Außenlagers Flöha, ursprünglich als Textilfabrik genutzt.
3/3
Ehemaliges KZ-Außenlager Flöha, 16. August 2019. Das ursprünglich als Textilfabrik genutzte Gebäude in der Heinrich-Heine-Straße 5 wird heute durch ein Textilunternehmen kommerziell genutzt.

Hierbei ist der Zeitpunkt der Errichtung der KZ-Außenlager entscheidend, denn bis zum Jahreswechsel 1942/43 stellten die bisherigen Kooperationen zwischen der SS und Industrie eher Ausnahmen dar. Erst ab 1943 breiteten sich KZ-Außenlager allmählich systematisch in Deutschland aus. Staatliche Unternehmen, wie es auch die Erla-Werke waren, erprobten vergleichsweise früh unterschiedliche Formen der Zwangsarbeit. Hinzu kommt, dass die Luftfahrtbranche einen besonders großen Arbeitskräftemangel zu verzeichnen hatte. Auf dem Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen liefen diese Faktoren, die Rolle von Staatsunternehmen sowie der Arbeitskräftebedarf der Flugzeugbauer, in den Erla-Maschinenwerken zusammen. Auf sie traf beides zu. Als am 6. März 1943 die ersten 65 Häftlinge aus Buchenwald Leipzig erreicht hatten, wurde nicht nur das erste KZ-Außenlager der Erla-Werke errichtet, sondern es war zugleich auch das erste in der sächsischen Großstadt – weitere Rüstungsunternehmen, wie etwa die HASAG, zogen erst im darauffolgenden Jahr nach. Und wenn wir den Blick auf den KZ-Komplex Flossenbürg lenken, so fällt auf, dass das im Dezember 1943 im erzgebirgischen Johanngeorgenstadt in Betrieb genommene Außenlager das zweite der Erla-Werke war. Sie betrieben hier seit 1939 ein Zweigwerk. Zudem war dieses Außenlager an der Grenze zum annektierten Tschechien das erste des KZ Flossenbürg, das ausschließlich dem Zweck der Rüstungsindustrie diente. Bis zur Bildung des „Jägerstabs“ am 1. März 1944 waren alle vier KZ-Außenlager der Erla-Werke entweder errichtet oder sie befanden sich, wie beispielsweise in Flöha, bereits im Aufbau. Die rasante und flächendeckende Expansion von KZ-Außenlagern erfolgte in Deutschland aber erst im weiteren Verlauf des Jahres 1944, weshalb die Erla-Maschinenwerke unbedingt als früher Vorreiter der KZ-Zwangsarbeit betrachtet werden müssen.

Schrittweise ab dem Herbst 1943, maßgeblich aber beschleunigt durch die britischen und US-amerikanischen Luftangriffe auf Leipzig vom 20. Februar 1944, begannen die Erla-Maschinenwerke ihre Flugzeugproduktion zu dezentralisieren. Aus fünf Werksstandorten in Leipzig und Johanngeorgenstadt entstand bis zum Kriegsende in Europa ein kleinteiliges, komplexes und weit verzweigtes Fertigungsgeflecht in über 40 Ortschaften und Städten. Die Verlagerungsstandorte befanden sich mehrheitlich in ländlichen Regionen Sachsens. Schrittweise ab dem Herbst 1943, maßgeblich aber beschleunigt durch die britischen und US-amerikanischen Luftangriffe auf Leipzig vom 20. Februar 1944, begannen die Erla-Maschinenwerke ihre Flugzeugproduktion zu dezentralisieren. Aus fünf Werksstandorten in Leipzig und Johanngeorgenstadt entstand bis zum Kriegsende in Europa ein kleinteiliges, komplexes und weit verzweigtes Fertigungsgeflecht in über 40 Ortschaften und Städten. Die Verlagerungsstandorte befanden sich mehrheitlich in ländlichen Regionen Sachsens. sälen oder etwa Turnhallen erhöhten die alltäglichen Berührungspunkte mit der lokalen Bevölkerung. Zwangsarbeit war einerseits ein alltägliches Massenphänomen. Anderseits nahm die Mobilität der Zwangsarbeiter:innen zu, da sie zwischen den einzelnen Werksstandorten 1944/45 immer wieder versetzt wurden. Zum Teil „pendelten“ sie regelrecht per Zug zwischen Leipziger Lagern und ihren Arbeitsplätzen im Umland, beispielsweise Naunhof. Auch hierbei waren Kontakte mit der deutschen Bevölkerung unvermeidlich. Besonders die KZ-Außenlager intensivierten die Integration in das administrative, soziale und ökonomische Leben vor Ort, ohne die ihre Existenz nicht möglich gewesen wäre. Die Spannbreite umfasste etwa die alltägliche Versorgung der Gefangenen, private Kontakte der SS zur Nachbarschaft oder den Umgang mit Verstorbenen.

Luftbild der Erla-Maschinenwerke nach US Air Force-Angriff
Werksgelände der Erla-Maschinenwerke in Leipzig-Heiterblick nach dem zweiten Angriff der US Air Force am 29. Mai 1944. Deutlich zu erkennen sind die zahlreichen Bombentrichter. Im westlichen (linken) Bereich befanden sich mehrere Baracken zur Unterbringung von Zwangsarbeiter:innen. Einer der drei Standorte des KZ-Außenlagers Leipzig-Thekla ist unbeschädigt an der nordwestlichen Ecke des Areals (oberer linker Bildbereich) zu erkennen.
©NARA, Record Group 243/ Entry 27/ Box 93/ III a (1638) – Folder 2 of 6

Das System der vier KZ-Außenlager der Erla-Maschinenwerke war zwar auf die beiden Hauptlager Buchenwald und Flossenbürg aufgeteilt, die meisten Gefangenen stammten jedoch vom Ettersberg. In der Regel wurden die Lagerinsassen ab März 1943 von Buchenwald nach Leipzig verschleppt. Hier wurden sie für die Rüstungsproduktion der Erla-Werke „ausgebildet“ und im Anschluss weiter nach Flöha (ab März 1944), Johanngeorgenstadt (ab Dezember 1943) oder Mülsen St. Micheln (ab Januar 1944) deportiert, wo sie auch ihre Flossenbürger Häftlingsnummern erhielten. Soweit es die fragmentarische Quellenlage überhaupt zulässt, waren für die Aufrechterhaltung dieses dezentralen Systems der Zwangsarbeit aus Sicht des Unternehmens eher das übergeordnete WVHA als die beiden KZ-Kommandanturen als zuständige Akteure entscheidend. Für die Erla-Werke „funktionierte“ diese doppelte Zuständigkeit trotz eines administrativen Mehraufwandes, was durchaus einen kriegsbedingten Pragmatismus widerspiegelt.

Für die KZ-Häftlinge waren die Unterschiede zwischen den jeweiligen Lagerregimen gravierend und sie konnten lebensbedrohlich sein. Dies zeigt sich etwa in der Art der Unterbringung mehr als deutlich. Denn während es sich beim Außenlager Leipzig-Thekla des KZ Buchenwald um einen Barackenlagerkomplex aus drei Standorten handelte, wurden die Gefangenen in den drei weiteren Außenlagern des KZ Flossenbürg in Dach- oder Kellergeschossen stillgelegter und umfunktionierter Möbel- und Textilfabriken untergebracht. Hier befanden sich die Stätten der Zwangsarbeit und die Schlafsäle im selben Gebäude. Die geschlossenen Räume wurden höchstens kurzzeitig für Appelle verlassen, was die Ausbreitung von Infektionskrankheiten wie Tuberkulose deutlich begünstigt hat und sich wiederum in einer höheren Sterblichkeitsrate als in Leipzig niederschlägt.

St. Micheln führte die überstürzte und improvisierte Errichtung des KZ-Außenlagers ab Anfang 1944 nicht nur zu furchtbaren Existenzbedingungen im Keller des Fabrikgebäudes, sondern auch zu einem Aufstand der Lagerinsassen, auf den die SS in der Nacht zum 1. Mai 1944 mit ausgesprochener Brutalität und Härte reagierte. Mindestens 198 Gefangene kamen vor Ort ums Leben, bis zum September 1944 wurde eine größere Gruppe Überlebender in Flossenbürg erschossen. Die wenigen Reibereien zwischen den SS-Lagerverwaltungen und dem lokalen Leitungspersonal der Erla-Werke waren anlassbezogen und betrafen etwa die hygienischen Bedingungen oder den Umgang mit Kranken. Dabei stand aber niemals die Gesundheit der Gefangenen oder die Verbesserung ihrer permanenten Unterversorgung im Vordergrund. Vielmehr galten die Konflikte der Absteckung von Kompetenzen und Zuständigkeitsbereichen. Da die Erla-Werke auf die Kooperationen mit der SS angewiesen waren und massiv von der Zwangsarbeit profitierten, galt es Verwerfungen zu vermeiden, etwa durch eine klar definierte Arbeitsteilung.

Ab dem Februar 1945 war das Außenlager Leipzig-Thekla gravierenden Veränderungen ausgesetzt gewesen, denn das KZ-System befand sich in genereller Auflösung. Bisherige Orte der NS-Zwangsarbeit wandelten sich zu Auffanglagern für Häftlinge aus „evakuierten“ KZ-Komplexen im besetzten Polen. Am 17. Februar 1945 hatte ein Transport mit 579 Gefangenen aus Jasień (Gassen) den Bahnhof Leipzig-Schönefeld erreicht, bis zur Übernahme in die „Lagerstärke“ des Außenlagers Leipzig-Thekla am 5. März 1945 waren mindestens 20 von ihnen verstorben. Bei den Männern aus Gassen handelte es sich um KZ-Häftlinge des Hauptlagers Groß-Rosen, die Zwangsarbeit für das Luftfahrtunternehmen Focke-Wulf verrichten mussten. Die Erla-Werke zielten nicht nur darauf ab, die KZ-Häftlinge als Arbeitskräfte zu übernehmen, sondern auch, die Produktion der polnischen Werksstandorte von Focke-Wulf in Sachsen fortzusetzen. Aber so weit ist es nicht mehr gekommen, denn die körperlich äußerst geschwächten und kranken Gefangenen aus Gassen mussten in Leipzig keine Zwangsarbeit mehr leisten. In einem vom restlichen Außenlager isolierten und überfüllten Bereich wurden sie unter katastrophalen Existenzbedingungen sich selbst überlassen und kaum versorgt, weshalb die Sterblichkeitsrate bis Mitte April 1945 sprunghaft anstieg. Als am 13. April 1945 die Todesmärsche Leipzig verließen, blieben mindestens 304 schwer kranke und körperlich geschwächte Häftlinge im KZ-Außenlager Leipzig-Thekla zurück. Allein rund 230 der „marschunfähigen“ Gefangenen stammten aus Gassen. Das Endphaseverbrechen vom 18. April 1945 markiert also den brutalen Schlusspunkt eines Funktionswandels, der Leipzig spätestens Mitte Februar 1945 erreicht hatte.

Schwarz-Weiß-Fotografie des befreiten KZ-Außenlagers Leipzig-Thekla mit US-amerikanischen Soldaten.
US-amerikanische Soldaten inspizieren das befreite KZ-Außenlager Leipzig-Thekla. Im Hintergrund Gebäude des Stadtteils Thekla, im Vordergrund Opfer des Massakers, 20. April 1945.
©Charles B. Sellers, Signal Corps der U. S. Army

Bereits seit dem Ende der 1920er-Jahre waren wesentliche Teile des späteren Leitungspersonals der Erla-Maschinenwerke, wie beispielsweise die kaufmännische und technische Geschäftsführung, Abteilungsleiter oder der Leiter der Lehrlingsausbildung, in Plauen in der sächsischen NSDAP und/oder SA fest verankert, wo sie unterschiedliche Funktionen ausübten. Von der Kleinstadt aus wurde während der Weimarer Republik unter Martin Mutschmann, dem späteren Gauleiter Sachsens, die sächsische NSDAP aufgebaut, deren politische Führung erst 1933 vom Vogtland nach Dresden wechselte. Das spätere Leitungspersonal der Erla-Werke bewegte sich somit früh in einem zutiefst völkisch-nationalistischen Milieu. In Einzelfällen lassen sich diese personellen Netzwerke bis hin zu den antidemokratischen Freikorps rückverfolgen. Die engen Kontakte zur NS-Gauleitung begünstigen 1934 die Unternehmensansiedlung in Leipzig und prägten den Rüstungskonzern maßgeblich bis 1945. Bis 1937 wurden die Erla-Maschinenwerke schrittweise verstaatlicht und komplett auf die Rüstungsproduktion ausgerichtet. Alle zentralen Entscheidungen wurden im Berliner Reichsluftfahrtministerium und ab 1944 in interministeriellen Gremien wie dem „Jägerstab“ getroffen. Die Firmenleitung setzte die Anordnungen dann intern durch und trug sie entschieden mit. Damit gingen auch verschiedene soziale Maßnahmen einher, womit die Stammbelegschaft langfristig an das Luftfahrtunternehmen gebunden werden sollte.

Völkische Ideologie und spezifische Arbeits- und Familienvorstellungen griffen eng ineinander und sie sollten den Einzelnen durch die Arbeit in der Rüstungsindustrie komplett vereinnahmen, womit gleichzeitig auch der Totalitätsanspruch des NS-Regimes durchgesetzt werden sollte. Die Verheißung einer „Volksgemeinschaft“ schlägt sich deshalb auch bei den Erla-Werken im Versuch zur Schaffung einer „Betriebsgemeinschaft“ nieder. Der Arbeitsalltag war einerseits durch strikte Hierarchieebenen und hohe Arbeitsnormen gekennzeichnet. Anderseits sollten verschiedene Sozialleistungen und berufliche Aufstiegsmöglichkeiten die Beschäftigten disziplinieren und an den Rüstungskonzern binden. Die Spannbreite reichte etwa von der Schaffung von Wohnraum, über die Kinderbetreuung für arbeitende Frauen bis hin zu Sonderurlaub oder finanziellen Anreizen. Die innerbetrieblichen Sozialleistungen und Inszenierungen spiegeln sich in der Selbstdarstellung und erhofften Außenwahrnehmung in NS-spezifischen Titeln wie „Nationalsozialistischer Musterbetrieb“ wider, den die Erla-Werke erstmals 1938 und durchgängig bis 1944 erhielten.

Es ist wichtig zu betonen, dass von der unternehmerischen „Fürsorge“ bestimmte Gruppen ausgeschlossen waren. Zunächst betraf dies in den 1930er-Jahren die jüdische Bevölkerung, die per „Betriebsordnung“ streng von den Erla-Werken ausgeschlossen war. Antisemitismus als ein Wesenskern der NS-Diktatur findet sich auch in den Fabriken der Kriegsökonomie. Zudem war während des Zweiten Weltkrieges den zahlreichen Zwangsarbeiter:innen der Zugang zu Sozialleistungen verwehrt. Die permanente Unterversorgung der Zwangsarbeiter:innen steht in einem gravierenden Widerspruch zu den Sozialleistungen, die der deutschen Belegschaft seit den 1930er-Jahren zugänglich waren. Die gegensätzliche Behandlung von deutschen und „ausländischen“ Arbeitskräften unterstreicht, dass Hunger und die zum Teil katastrophalen Existenzbedingungen bewusst von der Konzernleitung geschaffen wurden.

Schwarz-Weiß-Fotografie des NS-Gauleiters Mutschmann mit einigen anderen Männern zu Besuch in den Erla-Maschinenwerken.
Der sächsische NS-Gauleiter Martin Mutschmann (im Mittelpunkt der inszenierten Aufnahme) besucht im März 1938 die Erla-Maschinenwerke. Bei der Person am linken Bildrand in SA-Uniform handelt es sich höchstwahrscheinlich um den „Betriebsführer“ Wolff von Wedelstaedt, der zu diesem Zeitpunkt den Rang eines SA-Standartenführers innehatte.
©Deutsche Nationalbibliothek Leipzig

Zwischen den für die Stadt Leipzig wichtigen historischen Wegmarken, wie 1813 (Völkerschlacht) und 1989/90 (Friedliche Revolution), führt die Auseinandersetzung mit NS-Zwangsarbeit ein Schattendasein, das viele Jahre lang marginalisiert wurde und sich exemplarisch anhand der Erla-Maschinenwerke ablesen lässt. Die dezentralen und peripher am Stadtrand lokalisierten Werksstandorte spielten in der Erinnerung der Stadt Leipzig, wenn überhaupt, eine äußerst untergeordnete Rolle. Bis 1946 wurde der ehemalige Rüstungskonzern demontiert, 1947 wurde das Stammwerk gesprengt und 1949 erfolgte die Löschung des Unternehmens aus dem Handelsregister. Die Werksgelände sowie die großen Barackenlagerkomplexe wurden in der DDR für private, kommunale oder wirtschaftliche Zwecke umfunktioniert oder überbaut. Das bedeutet beispielsweise, dass in den 1960er/70er-Jahren sozialistische Wohnkomplexe auf ehemaligen Lagerstandorten entstanden. Der Tatort des Endphaseverbrechens vom 18. April 1945 wird seit dem Ende der 1940er-Jahre wieder durchgängig wirtschaftlich genutzt und auf dem stark überwachsenen Areal des Stammwerkes befindet sich heutzutage u. a. ein Recycling-Unternehmen. Der Pragmatismus der Nachkriegsjahrzehnte bestimmte die Nachnutzung und trug mit der frühen Abwesenheit von baulichen Zeugnissen im Stadtbild erheblich zu einem allmählichen kollektiven Vergessen bei.

Eine Ausnahme bildet jedoch das Mahnmal am ehemaligen Werk III im Stadtteil Abtnaundorf, das am 13. September 1958, einen Tag vor der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, eingeweiht wurde. Bis 1989 wurde das Areal für Jahrestage und politische Zeremonien genutzt, etwa am 7. Oktober. Wie die Gedenkstätte Buchenwald, so war auch der Obelisk in der Theklaer Straße ein wichtiger Bestandteil von „antifaschistischen“ Narrativen in der DDR. Mit der politischen Vereinnahmung wurden aber die Opfer des KZ-Außenlagers, insbesondere des 18. Aprils 1945, instrumentalisiert. Die staatliche Erinnerungskultur war losgelöst vom historischen Ort und die Zwangsarbeit bei den Erla-Werken spielte für die verantwortlichen Akteure keine Rolle.

Sie können die Frage bitte direkt an die heutigen Bewohner:innen der ehemaligen Werkssiedlung richten. Mich würde die Antwort auch sehr interessieren. Da die Siedlung bis heute im Volksmund unter der Bezeichnung „Erla-Siedlung“ bekannt ist, scheinen sich wohl nur die Wenigsten am historischen Entstehungskontext zu reiben. Die Straßennamen müssen insbesondere vor dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit betrachtet werden, spiegeln sie doch eine zutiefst völkische „Blut und Boden“-Ideologie wider. Als die Werkssiedlung ab 1937 im Leipziger Stadtteil Thekla entstand, wurden auch die Straßennamen vergeben. Interessanterweise überlebten diese auch die gesamte DDR. Neben der Schaffung von Wohnraum diente die Siedlung der Erla-Maschinenwerke vor allem der langfristigen Bindung von Personal an den Rüstungskonzern. Die nationalsozialistische Ordnung sollte somit vor Ort und „im Kleinen“ durchgesetzt werden. Dass das Angebot mit einem für die damalige Zeit recht hohen Lebensstandard von den Beschäftigten angenommen wurde, und durchaus auch eine Identifikation mit dem Flugzeugbauer und der nationalsozialistischen Weltanschauung bestand, legt der hohe Anteil von Bewohnern nah, die beispielsweise Mitglieder der NSDAP und/oder SA waren. Sie bewohnten knapp zwei Drittel aller Einzelhäuser. Es handelte sich also um eine gezielt ausgewählte und privilegierte Gruppe von Angestellten und Arbeiter:innen der Erla-Werke, die hier einst lebte. Sozial und rassistisch diskriminierte und verfolgte Menschen waren bei der Vergabe dieser Wohnungen und Häuser selbstverständlich ausgeschlossen.

Vielleicht kann meine Forschung langfristig dazu beitragen, die Straßenbezeichnungen im Stadtteil Thekla noch einmal zu überdenken. Ich persönlich empfinde diese als äußerst pietätlos und geschichtsvergessen und störe mich daran, dass im städtischen Raum Leipzigs – eine Großstadt, die sich selbst gern als weltoffen präsentiert – im Jahr 2024 immer noch derartige Kontinuitäten der nationalsozialistischen Ideologie unkommentiert vorhanden sind. Gleichzeitig ist in der Kamenzer Straße, nur wenige Kilometer von der Siedlung entfernt, mit dem ehemaligen Frauen-Außenlager der HASAG eine Immobilie lokalisiert, die sich heute im Besitz von Rechtsextremisten befindet. Zumindest an diesem extrem unsensiblen Umgang mit dem historischen Erbe hat sich aber inzwischen breiter zivilgesellschaftlicher Widerspruch gebildet. Vielleicht könnten die Straßen der ehemaligen Werkssiedlung ja eines Tages die Namen von Kindern, Jugendlichen, Frauen und Männern tragen, die aus den unterschiedlichsten europäischen Staaten zur Zwangsarbeit nach Leipzig verschleppt wurden?

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.

Seit November 2023 ist der Historiker Maximilian Schulz als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg tätig und erforscht die Geschichte des „Ehrenfriedhofs“ der Gedenkstätte. Er promoviert am Historischen Seminar der Universität Leipzig unter dem Thema „KZ-Alltag und Rüstungsschmiede. Das System der KZ-Außenlager der Erla-Maschinenwerk GmbH Leipzig 1943–1945“. Die Studie wurde im November 2023 eingereicht.

var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();