Colonia Dignidad

Der mühsame Weg von einer Folter- und Mordstätte zu einem Dokumentations- und Bildungsort

Die Colonia Dignidad (Kolonie Würde), heute Villa Baviera (Dorf Bayern), war zwischen 1961 und dem Beginn der 2000er-Jahre ein Ort massiver Menschenrechtsverletzungen. Gegründet wurde der kleine, von Deutschen besiedelte Ort 1961 durch den Laienprediger Paul Schäfer, nachdem dieser wegen Ermittlungen zu sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aus Deutschland geflüchtet war. Zusammen mit rund 300 Anhänger:innen, darunter zahlreichen Kindern, siedelten sich Schäfer und seine Sekte auf einem Landgut am Fuße der chilenischen Anden, rund 300 km südlich der Hauptstadt Santiago, an. Chilenische Landarbeiter und ihre Familien, von den deutschen Siedlern bis heute abwertend „Kaschuben“ genannt, wurden vertrieben. Weitgehend isoliert von ihrem Umfeld, errichtete die Sekte nach eigener Darstellung ein deutsches Mustergut mit einem kleinen Dorf in seinem Zentrum. Umgeben war das Gut von Zäunen, die Eindringlinge abwehren sollten, vor allem aber die Funktion hatten, Fluchten aus der Colonia Dignidad zu verhindern.

Nach außen inszenierte sich die Sekte als wohltätige Einrichtung. Symbolhaft stand dafür ein Krankenhaus, in dem chilenische Bauern aus dem Umland vermeintlich kostenlos behandelt wurden (tatsächlich ließen sich das die Sektenführer vom chilenischen Staat bezahlen). Nach innen herrschte ein totalitäres System aus umfassender Kontrolle, physischen und psychischen Misshandlungen und Zwangsarbeit. Männliche und weibliche Siedler:innen wurden getrennt, auch die Kinder. Erwachsene waren nur noch „Onkel“ und „Tante“, auch die eigenen Eltern. Paul Schäfer, umgeben von einem Zirkel von rund einem Dutzend willfähriger Männer, herrschte wie ein Gottkönig. Wer einen eigenen Willen oder gar oppositionelles Verhalten zeigte, musste mit kollektiven Demütigungen und auch brutalen körperlichen Strafen während der wöchentlichen Gemeindeversammlungen rechnen, wurde isoliert und mit Psychopharmaka und Elektroschocks auf den „rechten Weg“ gebracht.1

Insbesondere die Kinder und Jugendlichen litten unter diesem Terrorregime; fast alle Jungen und manche Mädchen waren zudem Opfer systematischer sexueller Gewalt durch Paul Schäfer. Die Verbrechen in der Colonia Dignidad wurden sowohl vom chilenischen als auch vom deutschen Staat geduldet oder sogar gefördert. Flüchtige Siedler etwa wurden von der deutschen Botschaft an Paul Schäfer ausgeliefert. Rentenzahlungen erfolgten auf ein Sammelkonto der Colonia Dignidad, die Empfänger:innen gingen leer aus.

Während der Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende fürchteten die Siedler die Enteignung durch die „gottlosen Kommunisten“, radikalisierten sich immer mehr in Richtung Rechtsextremismus und banden bald enge Kontakte zur rechtsterroristischen Gruppe „Patria y Libertad“ (Vaterland und Freiheit), die von einem Deutschstämmigen geleitet wurde. Die Colonia Dignidad diente der Terrorgruppe als geheimer Rückzugsraum, hier wurden Waffen und Munition gehortet. Den blutigen Militärputsch vom 11. September 1973 bejubelten die „Colonos“ als Befreiung vom kommunistischen Regime, dessen Schergen sie angeblich alle umbringen wollten (eine abstruse Legende, die aber noch heute von manchen Bewohnern der Villa Baviera verbreitet wird).

Unmittelbar nach dem Putsch und in direkter Folge der engen Kontakte zu Patria y Libertad entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit der Colonia mit der DINA, dem Geheimdienst von Diktator Pinochet. Die DINA betrieb zahllose Folter- und Mordzentren im ganzen Land. Eine der grauenhaftesten Haftstätten richtete sie in Kellern in der Colonia Dignidad ein. Hier wurden Mitte der 1970er-Jahre, unter tätiger Mithilfe der deutschen Bewohner:innen, Hunderte chilenische Regimegegner:innen brutal gefoltert und etliche ermordet. Ihre Zahl ist bis heute nicht bekannt. Dutzende Opfer gelten als „Verschwundene“, ihre Spuren enden in der Colonia Dignidad.

Sicher ist, dass die deutschen Siedler 1978 auf Befehl von Diktator Pinochet Sammelgräber von Ermordeten öffneten und die bereits halb verwesten Leichen verbrannten, um alle Spuren zu vernichten. Bis heute weiß man nicht, ob sich auf dem riesigen Gelände der Villa Baviera noch weitere Massengräber befinden. Nachforschungen der Polizei blieben bislang erfolglos.

Das offizielle Ende der Colonia Dignidad begann Ende der 1990er-Jahre. Nachdem die deutschen Kinder herangewachsen waren, hatten die Siedler ihrem Sektenchef chilenische Kinder als Missbrauchsopfer zugeführt: Kinder, die von ihren Eltern zur Behandlung in das Krankenhaus der Colonia Dignidad gebracht und von den deutschen Siedlern de facto entführt worden waren. Einigen von ihnen gelang als Jugendlichen die Flucht; sie zeigten Schäfer an, und die nach dem Ende der Diktatur 1990 wieder demokratisierte chilenische Justiz nahm Ermittlungen auf. Schäfer floh nach Argentinien, herrschte aber von dort aus weiterhin über die Sektensiedlung in Chile, bis er 2005 festgenommen werden konnte und an Chile ausgeliefert wurde. Dort starb er nach seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft 2010 in einem Gefängniskrankenhaus.

Vor Ort, in der Villa Baviera, konnten sich die Siedler:innen währenddessen nur mühsam an ein Leben in Freiheit anpassen. Etwa ein Drittel von ihnen kehrte nach Deutschland zurück, manche in ein Land, an das sie keine eigenen Erinnerungen hatten, da sie es als Kleinkinder verlassen hatten. Andere suchten sich mittellos irgendwo in Chile ein Zuhause. Sie leben bis heute in prekären Verhältnissen, einige mit chilenischer Sozialhilfe oder chilenischen Mindestrenten. Gut 100 Deutsche oder Deutschstämmige leben nach wie vor in der Villa Baviera, darunter auch etwa zwei Dutzend Kinder, die nach der Verhaftung Schäfers geboren wurden (bis dahin war den meisten Colonos von Schäfer eine Heirat verboten worden).

Gedenkstätten an Orten von Regime- und/oder Gesellschaftsverbrechen haben drei Funktionen: Erstens dienen sie – vor allem den Angehörigen der Opfer, aber auch der gesamten Gesellschaft – als Orte der Trauer; zweitens dokumentieren sie die Verbrechen und sind damit Beweismittel; drittens sind sie Orte historischen Lernens für nachwachsende Generationen.2

Trotz der von Chile und Deutschland staatlich geförderten und geduldeten Verbrechen, an deren Folgen Überlebende und Angehörige bis heute leiden, gibt es in der Villa Baviera weder eine seriöse kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte noch eine angemessene Würdigung der Opfer. An letztere erinnert seit 2016, als der Ort vom chilenischen Staat unter Denkmalschutz gestellt wurde, eine kleine Gedenktafel, die am ehemaligen Kartoffelkeller angebracht wurde, in dem Mitte der 1970er-Jahre Angehörige der DINA mit Hilfe der Sektenführung chilenische Gegner:innen der Pinochet-Diktatur gefoltert und ermordet haben.

Die Colonos selbst wiederum haben Mitte der 2010er-Jahre in einer ehemaligen Scheune ein Museum zur Geschichte der Colonia Dignidad eingerichtet, das sogenannte „Museo Colonial“. Die Ausstellung wurde seither laufend überarbeitet und erweitert und präsentiert sowohl dreidimensionale Objekte als auch zahlreiche Fotos und Zeitungsausschnitte. Das Narrativ ist ambivalent: Zwar werden weder die massive physische wie auch psychische Gewalt gegenüber den deutschen Bewohner:innen der Colonia noch die Folterungen und Morde an chilenischen Regimegegner:innen verschwiegen. Es überwiegt in der Erzählung aber der apologetische Mythos der aufopferungsbereiten deutschen Siedler:innen, deren Hauptinteresse der karitativen Arbeit gegolten habe – vor allem der Pflege armer chilenischer Bäuer:innen im Krankenhaus, dem ein großer Teil der Ausstellung gewidmet ist.³ Zudem wird Sektenchef Schäfer als omnipotenter Einzelherrscher dargestellt, dem sich alle Sektenmitglieder unterzuordnen hatten – eine Entlastungserzählung, die den Führungszirkel um Schäfer und die Mitverantwortung der meisten Sektenmitglieder im kollektiven Herrschafts- und Strafsystem ausklammert.

Schließlich erinnert außerhalb der Villa Baviera, an einer Brücke über den Fluss Perquilauquén, ein 2014 von lokalen chilenischen Opferverbänden angebrachter Gedenkstein an die in der Colonia Dignidad ermordeten bzw. „verschwundenen“ politischen Gefangenen, deren Asche 1978 mutmaßlich von den Siedlern in den Fluss verkippt wurde. Die Tafel wurde zu einem Zeitpunkt angebracht, als es den Angehörigen noch nicht erlaubt war, die Villa Baviera selbst zu betreten, die bis heute Privateigentum ist. Die Forderung der Angehörigen, auch die innerhalb der Ex-Colonia gelegenen ehemaligen Massengräber, die 1978 exhumiert wurden, als Gedenkorte zu kennzeichnen, blieben bislang erfolglos.

Seit dem Ende der Pinochet-Diktatur forderten Angehörige der chilenischen Folter- und Mordopfer, innerhalb der Villa Baviera eine Gedenkstätte zu errichten, um unmittelbar am historischen Ort an die Opfer erinnern zu können. Nach der Verhaftung Paul Schäfers 2005 und dem schrittweisen Übergang zu einem zumindest ansatzweise für die Öffentlichkeit zugänglichen Dorf mit Hotel, Restaurant und landwirtschaftlichen Betrieben nahmen die Rufe nach der Einrichtung einer Gedenkstätte zu. Sie soll außer an die chilenischen Folter- und Mordopfer auch an die Opfer unter den deutschen Siedlern und an die chilenischen Kinder und Jugendlichen erinnern, die hier bis in die 1990er-Jahre sexueller Gewalt ausgeliefert waren. Insbesondere störten sich die Opferverbände und die kritische Öffentlichkeit am deutschtümelnden Tourismusbetrieb in der Ex-Colonia samt Bierfesten und alpenländischer Folklore.

Als 2016 Florian Gallenbergs Kinofilm „Colonia Dignidad – es gibt kein Zurück“ mit Emma Watson und Daniel Brühl in die Kinos kam, mehrten sich auch in Deutschland die Stimmen, die nach einer Aufarbeitung der Geschichte der Colonia Dignidad und der Einrichtung einer Gedenk- und Dokumentationsstätte am historischen Ort riefen. Ende Juni 2017 forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung einstimmig auf, die in der Colonia begangenen Verbrechen inklusive der Verantwortung des Auswärtigen Amtes aufzuarbeiten, humanitäre Hilfe für die Opfer in die Wege zu leiten und die Errichtung einer Gedenkstätte voranzutreiben.⁴ Noch im selben Jahr setzten die deutsche und die chilenische Regierung eine „Chilenisch-Deutsche Gemischte Kommission zur Aufarbeitung der ,Colonia Dignidad‘“ (Comixta) ein, die sich aus Mitarbeiter:innen des Auswärtigen Amtes sowie des chilenischen Außen- und Justizministeriums zusammensetzt. Sie beauftragte im August 2018 eine deutsch-chilenische Expert:innengruppe mit der Erarbeitung eines Konzeptes für eine Gedenkstätte. Dieser Gruppe gehörten neben dem Autor dieses Beitrages die Politikwissenschaftlerin Dr. Elke Gryglewski (bis 2020 stellvertretende Direktorin des Hauses der Wannseekonferenz in Berlin und seither Geschäftsführerin der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten) sowie auf chilenischer Seite der Jurist Diego Matte und die Psychologin Prof. Dr. Elizabeth Lira an.

Unter Einbeziehung diverser chilenischer und deutscher Opfergruppen und der deutschen Bewohner:innen der Villa Baviera sowie mehrerer Seminare mit zivilgesellschaftlichen Gruppen und wissenschaftlich Forschenden erarbeitete die Gruppe ein umfassendes Konzept mit Vorschlägen für eine Gedenk- und Bildungsstätte auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera. Wiederholt war das Projekt Schwierigkeiten ausgesetzt, etwa durch den Umstand, dass von 2018 bis 2022 unter Präsident Piñera in Chile eine rechtsgerichtete Regierung im Amt war, die nur wenig Willen zur kritischen Auseinandersetzung mit der Pinochet-Diktatur zeigte. Der für die Gedenkstättenarbeit und Menschenrechtsbildung zuständige Minister war zu dieser Zeit Hernán Larraín, leitender Funktionär der Pinochet-treuen Partei Unión Democrática Independiente (UDI) und langjähriger Freund Paul Schäfers. Dass er wenig Interesse an einer kritischen Aufarbeitung der Colonia-Geschichte hatte, mag kaum überraschen.

Doch auch andere Entwicklungen behinderten den Prozess der Erarbeitung einer Gedenkstättenkonzeption: Im Herbst 2019 begann in Chile der „Estallido Social“ (sozialer Ausbruch), eine über Monate anhaltende, landesweite Protestwelle gegen das neoliberale und postdiktatorische Regierungs- und Gesellschaftssystem, die von der Regierung gewalttätig unterdrückt wurde. Damit hatten die Chilen:innen andere Prioritäten als eine Gedenkstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad. Und kaum war der Estallido abgeflaut bzw. gewaltsam niedergeworfen, begann die Corona-Pandemie, die den Prozess ebenfalls bremste und teilweise auch zurückwarf.

Trotz dieser Schwierigkeiten legten die vier Expert:innen im Frühjahr 2021 der Gemischten Chilenisch-Deutschen Kommission ihre Vorschläge für eine Gedenk- und Bildungsstätte in der ehemaligen Colonia Dignidad vor und stellten ihre Grundzüge in einer öffentlichen Videokonferenz allen Interessierten vor. Zudem diskutierten sie ihr Konzept bei einem Besuch im Dezember 2021 mit den chilenischen Opferverbänden und den Bewohner:innen der Villa Baviera.

Großen Wert legt das Konzept auf eine Erinnerungs- und Dokumentationsstätte unmittelbar am historischen Ort, in der heutigen Villa Baviera. Nur dort kann eine Gedenkstätte ihren Funktionen des Gedenkens, der Dokumentation und der Bildung gerecht werden. Ganz unmittelbar trifft das auf die Funktion des Gedenkens und der Trauer zu – Trauer um diejenigen, die hier Opfer schwerster Menschenrechtsverletzungen wie Folter und sexueller Gewalt wurden, vor allem aber um die Regimegegner:innen, die hier in den 1970er-Jahren ermordet wurden und heute als verschwunden gelten. Die ehemaligen Sammelgräber auf dem Gelände der heutigen Villa Baviera sind ihre letzten Spuren; nicht zuletzt deshalb haben sie für die Angehörigen als Stätten der Trauer und des Gedenkens eine zentrale Bedeutung. Das trifft auch auf die Orte zu, an denen Folterungen stattfanden und Morde begangen wurden. Hier ist insbesondere der Kartoffelkeller zu nennen. Hier sollten Gedenkzeichen an die Opfer erinnern.

Die Gräber, aber auch Orte wie der Kartoffelkeller, verweisen zudem auf die dokumentierende Funktion der Gedenkstätte. Sie sind Beweismittel, die es zu erhalten und zu kontextualisieren gilt. Gerade in einem Land wie Chile, in dem nicht unwesentliche Teile der Gesellschaft die Regimeverbrechen rechtfertigen oder leugnen, ist die dokumentierende Funktion von Gedenkstätten zentral. Gebäude, Gräber und andere Spuren sind historische Sachzeugnisse; sie sind Quellen, die im forensischen Sinne spurensichernd erschlossen und behutsam konserviert werden müssen. Ihre Kontextualisierung muss durch Hinweistafeln und Ausstellungen erfolgen, die die baulichen Relikte als Sachzeugnisse in ihren historischen Rahmen stellen und Hintergründe erläutern – sie für die Besuchenden also lesbar und verstehbar machen.

Dabei stehen verschiedene Orte und verschiedene Gebäude der ehemaligen Colonia Dignidad für unterschiedliche Verbrechenskomplexe und unterschiedliche Opfergruppen: Das „Frei-Haus“ etwa, in dem Sektenchef Schäfer wohnte, oder das „Zippelhaus“, in dem die „Gemeinschaftsabende“ mit kollektiven Strafen an einzelnen Bewohner:innen der Colonia stattfanden und in dem sich jetzt ein Restaurant im bayerischen Stil befindet, sind Orte, die exemplarisch für die systematische psychische und physische Gewalt unter den Bewohner:innen der Colonia Dignidad stehen. Das Frei-Haus ist zudem einer von mehreren Orten, an denen Paul Schäfer sexuelle Gewalt gegen Jungen ausübte. Der Kartoffelkeller wiederum steht für die Gruppe der chilenischen Folteropfer, und die Sammelgräber im Wald oberhalb der Villa Baviera erzählen das Schicksal der „detenidos desaparecidos“, der verschwundenen politischen Gefangenen.

Die Spuren der Verbrechen in der Ex-Colonia Dignidad sind nicht nur Beweismittel, sondern haben auch eine Bildungsfunktion. Zusammen mit den schriftlichen Quellen und den Berichten der Überlebenden sind es Quellen, die im Rahmen des forschenden Lernens erschlossen werden. Ziel ist es, anhand einer auf Reflexion setzenden Auseinandersetzung mit der Geschichte historische Urteilskraft zu stärken und Geschichtsbewusstsein zu vermitteln. Es geht um die kritische Aneignung und Interpretation von Geschichte und damit auch um die eigene soziale und politische Verortung im heutigen Leben sowie um die Frage, wie eine Gesellschaft aussehen kann, in der Menschenrechte und Demokratie geachtet werden.

Keine der drei Funktionen von Gedenkstätten kann isoliert betrachtet werden. Gedenken braucht Wissen, und Wissen prägt Geschichtsbewusstsein. Eine zeitgemäße Gedenkstätte ist also nicht nur ein Ort der Trauer und des Lernens, sondern auch ein modernes zeithistorisches Museum mit einer entsprechenden Infrastruktur und den nötigen museologischen, didaktischen und konservatorischen Standards. Ein solches integrales Gedenkstättenkonzept ist nach Auffassung der Expert:innengruppe nur am historischen Ort denkbar, also in der heutigen Villa Baviera. Nur hier, am historischen Leidens- und Tatort, können die Opfer angemessen betrauert und gewürdigt werden, und nur hier können die historischen Relikte zum Sprechen gebracht werden.

Das setzt voraus, dass zentrale Bereiche im Dorfkern der heutigen Villa Baviera, insbesondere das Zippelhaus (in dem sich das Restaurant befindet), das „Frei-Haus“ und das Gebäude des Kartoffelkellers (über dem derzeit noch eine Familie wohnt) von den derzeitigen Nutzungen befreit und als bauliche Zeugnisse für die dort begangenen Verbrechen musealisiert, d. h. gekennzeichnet und erläutert werden. Für die wirtschaftlichen Unternehmungen wie auch für Wohnzwecke müssten deshalb an anderer Stelle in der Nähe Neubauten entstehen. An den historischen Orten sollten dagegen Ausstellungen die komplexe Geschichte der Colonia Dignidad erzählen: die Geschichte der Colonos, von denen viele sowohl Opfer als auch Täter waren, über die chilenischen Folter- und Mordopfer der 1970er-Jahre, über die chilenischen Kinder, die in den 1980er und 1990er-Jahren Opfer sexueller Gewalt wurden, über die chilenischen Bauerfamilien, die zu Beginn der 1960er-Jahre von der deutschen Sekte vertrieben wurden – und über die Netzwerke von Unterstützer:innen in Chile und Deutschland, die bis in die Regierungen reichten und die Sektensiedlung über Jahrzehnte vor der Justiz schützten.

Nach der Vorlage der Empfehlungen der Expert:innengruppe geschah von Seiten der beiden beteiligten Regierungen zunächst einmal nichts, auch wenn zunächst Optimismus vorherrschte. Sowohl in Chile als auch in Deutschland waren 2021 neue Regierungen gewählt worden, von denen positive Impulse für den Prozess der Einrichtung einer Gedenkstätte zu erwarten waren – gerade auch mit Blick auf den 50. Jahrestag des Militärputsches von 1973 im September 2023. Tatsächlich wurden die Erwartungen aber über Jahre enttäuscht. Zwischenzeitlich wurden die Gedenkstättenpläne seitens der chilenischen Regierung auf unbestimmte Zeit verschoben. Man wolle, so der Leiter der Menschenrechtsabteilung im chilenischen Außenministerium Tomás Pascual im Mai 2024, zunächst allgemeine Richtlinien für die Gedenkstättenarbeit in Chile erarbeiten.⁵ Damit schien es sehr unwahrscheinlich, dass bis zum Ende der Amtszeit der beiden Regierungen (nicht nur in Deutschland, sondern auch in Chile finden 2025 Neuwahlen statt) grundlegende Schritte zum Aufbau einer Gedenk- und Bildungsstätte eingeleitet werden.

Anfang Juni 2024 kam jedoch in der jährlichen Ansprache von Präsident Gabriel Boric zur Lage der Nation der Paukenschlag: Vollkommen überraschend – zumindest für die Betroffenen – verkündete der chilenische Staatschef, dass mehrere Gebäude in der Villa Baviera enteignet werden sollen, um eine Gedenkstätte einzurichten. Enteignet werden sollen u. a. das Frei-Haus, das Zippelhaus, das Hotel und der Kartoffelkeller.⁶ Angesichts der komplizierten Eigentumsverhältnisse wird der Enteignungs- und vermutlich auch Entschädigungsprozess jedoch einige Zeit brauchen; die Rede ist von mindestens einem Jahr.

Verbunden ist der Enteignungsprozess mit einem moralischen Dilemma: Nach chilenischem Recht wird nicht entschädigungslos enteignet. Es ist angesichts der unklaren Eigentumsverhältnisse in der Villa Baviera nicht ausgeschlossen, dass auch ehemalige Täter oder ihre Nachkommen unter den Colonos Entschädigungszahlungen bekommen – für viele, insbesondere die chilenischen Opferverbände, ein unerträglicher Gedanke. Und noch ein weiteres Problem ist bislang ungelöst: In welcher Trägerschaft soll sich die zukünftige Gedenkstätte befinden? Die Expert:innengruppe schlug eine unabhängige, von beiden Staaten finanziell geförderte Stiftung vor. Doch dagegen gibt es auf Seiten beider Regierungen Vorbehalte, vermutlich auch aus finanziellen Gründen.

Währenddessen leben die Bewohner:innen der Villa Baviera, die mehrheitlich Opfer waren (die meisten Täter:innen sind mittlerweile verstorben) und von denen viele heute unter prekären wirtschaftlichen Verhältnissen leiden, weiterhin in Unsicherheit über ihre Zukunft. Und die Angehörigen der chilenischen Verschwundenen haben weiterhin keinen Ort, an dem sie würdig um die Toten trauern können. Zugleich kommen täglich Busladungen mit Tourist:innen in die Villa Baviera. Teilweise buchen sie im Stundentakt Führungen durch die ehemalige Colonia Dignidad, bei denen ihnen ehemalige Bewohner:innen der Sektensiedlung ihre Sicht auf die Geschichte vermitteln, auch bei Führungen durch das „Museo Colonial“ – ein unhaltbarer Zustand. Auch wenn sich die Colonos und die für das Museum Verantwortlichen bemühen, einen kritischen Blick auf die Geschichte zu werfen und die Verbrechen nicht auszuklammern: Eine seriöse historisch-politische Bildung findet dort nicht statt. Stattdessen werden apologetische und trivialisierte Geschichtsbilder präsentiert, die zu dekonstruieren Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten und quellengestützten Gedenkstättenarbeit wäre.

Als Bildungsstätte für historisches Lernen im Sinne der Menschenrechts- und Demokratieerziehung hat die ehemalige Colonia Dignidad ein großes Potential – gerade auch wegen ihrer komplexen transnationalen Verflechtungsgeschichte. Zudem haben die deutsche und die chilenische Gesellschaft die Verpflichtung, die Verbrechen anzuerkennen, die Opfer angemessen zu würdigen und den Angehörigen ein Trauern am historischen Ort zu ermöglichen. Die Enteignung der Liegenschaften im Dorfkern der ehemaligen Colonia Dignidad könnte die Gedenk- und Bildungsstätte nun tatsächlich Wirklichkeit werden lassen. Die deutsche und die chilenische Regierung könnten damit ihren wiederholt vorgetragenen Beteuerungen, sich den Opfern verpflichtet zu fühlen, endlich gerecht werden.

Der Historiker Jens-Christian Wagner ist Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

1 Zur Geschichte der Colonia Dignidad siehe vor allem: Jan Stehle (2021), Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020, Bielefeld 2021; Dieter Maier (2017), Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile, Neuauflage, Stuttgart;sowie Elke Gryglewski / Evelyn Hevia Jordán / Jan Stehle / Jens-Christian Wagner (Hg.) (2024), Colonia Dignidad. Auseinandersetzungen um eine Gedenkstätte, Göttingen.

2 Vgl. ausführlicher: Jens-Christian Wagner, Verdad – Justicia – Reparación? Gedenkstättenpläne zur Geschichte der Colonia Dignidad im Spannungsfeld von historisch-politischer Bildungsarbeit und Erwartungen der Opfer, in: Gryglewski u. a. (Hg.), Colonia Dignidad, S. 64–79.

3 Zum Entlastungsnarrativ des Krankenhauses als Hort karitativer Arbeit vgl. Heike Dreckmann-Nielen (2022), Die Colonia Dignidad zwischen Erinnern und Vergessen. Zur Erinnerungskultur in der ehemaligen Siedlungsgemeinschaft, Bielefeld.

4 Vgl. Bundestags-Drucksache 18/12943, https://dserver.bundestag.de/btd/18/129/1812943.pdf, aufgerufen am 21.5.2024, sowie Stehle, Der Fall Colonia Dignidad, S. 464 ff

5 Vgl. Ute Löhning, Aufarbeitung ist anderswo, in: Amnesty Journal, 20.5.2024 https://www.amnesty.de/amnesty-journal/chile-colonia-dignidad-verbrechen-straflosigkeit, aufgerufen am 25.12.2024.

6 Vgl. Juan Pablo Andrews, „El epítome del mal“: Boric aborda la expropiación de Colonia Dignidad, in: La Tercera, 7.6.2024 https://www.latercera.com/nacional/noticia/el-epitome-del-mal-boric-aborda-la-expropiacion-de-colonia-dignidad/FEWIPEMB6BFORLNS7WO42GJORE/, aufgerufen am 25.12.2024.

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