Schwerpunkt: Neue Rechte und Geschichtsrevisionismus

„Du bist aktiver Teil der Gestaltung deiner Umwelt. Du trägst Verantwortung für dich und andere.“

Ein Interview mit Marina Weisband über digitale Radikalisierungsprozesse und was Bildungsarbeit in den Gedenkstätten dagegen tun kann

Foto Marina Weisband
Marina Weisband
©Markus C. Hurek

Stochastischer Terrorismus funktioniert im Gegensatz zu klassischem Terrorismus nicht über organisierte Strukturen, nicht über Anführer, Netzwerke und Befehle, sondern darüber, dass diejenigen, die Gewalt wollen, sie gar nicht selber initiieren. Sie heizen die Atmosphäre in bestimmten Gruppen soweit auf, dass es immer wahrscheinlicher wird, dass irgendjemand von den vielen, vielen Menschen austickt und eine Gewalttat begeht. Das heißt, selbst die ursprünglichen Akteure wissen nicht, wann etwas passiert oder wo etwas passiert, aber sie stacheln so lange an, dass die Wahrscheinlichkeit, dass etwas passiert, praktisch an Sicherheit grenzt.

Wenn wir sagen „Mach keine antisemitischen Witze“, dann halten uns die Leute für humorlos. Wenn wir sagen „Der Judenstern mit dem Aufdruck ٫Ungeimpftʼ ist problematisch“, dann verstehen viele Leute nicht, warum wir uns darüber so aufregen. Was hier fehlt, ist die Verbindung, wie solche scheinbar völlig harmlosen Aktionen zu Gewalt führen. Die „Pyramide des Hasses“ ist deswegen sehr hilfreich, weil sie zeigt, dass Gewalt nicht einfach so, sozusagen auf dem Asphalt, wächst, sondern dass sie ein ganzes Wurzelwerk hat, aus vorhergehenden Stufen. Die eine ist sanfter als die andere: Implizite Vorannahmen führen zu verbalem Ausdruck, verbaler Ausdruck zu Beleidigungen, diese Beleidigungen zu vereinzelter Gewalt, diese Gewalt zu struktureller Gewalt und die schließlich zum Genozid. Dieser Prozess ist schleichend und deshalb funktioniert Radikalisierung auch so gut.

Pyramide des Hasses: Prejudiced attitudes, Acts of Prejudice, Discrimination, Violence, Genocide
Die „Pyramide des Hasses“, wie sie die Shoah Foundation der University of Southern California verwendet.

Die Aufklärung nützt in allererster Linie den Strafverfolgungsbehörden. Daher habe ich auch tatsächlich schon bei der Polizei Schulungen zu stochastischem Terrorismus gegeben. Wenn die Polizist:innen selbst nicht nachvollziehen können, was eine Vorstufe zu Gewalt ist, können sie auch nicht richtig damit umgehen. Auch ist es hilfreich, dies der breiten Bevölkerung zu erklären, damit man nicht selber in so eine Falle tappt, selber radikalisiert wird. Damit man achtsamer ist mit seinem Humor, mit seiner Sprache. Auch für Angehörige ist es hilfreich, also Menschen, die jemanden dabei zuschauen, wie er sich radikalisiert.

Ich habe wirklich die Hoffnung, dass dieser Anteil gesenkt werden kann. Weil es eben auch ein Anteil an Menschen ist, die von den bisherigen Maßnahmen einfach gar nicht erreicht werden. Das heißt, egal wie gut die Maßnahmen werden, wir haben nicht die Wege, sie zu diesen Menschen zu kommunizieren. Und ich glaube, dass Menschen die rechtsradikal sind, ganz tief drinnen etwas fehlt. Wir haben auch interessante neue Erkenntnisse, zum Beispiel aus der Kinderpsychologie, wie schon frühkindliche Erfahrungen zumindest solche Einstellungen erleichtern. Das bedeutet nicht, dass Rechtsradikale unschuldig sind an ihren politischen Einstellungen, aber es bedeutet, dass es natürlich Ursachen gibt, die sowas begünstigen und Ursachen, die eine Radikalisierung eher erschweren. Das ist das eine. Das zweite ist: wenn wir einen konstanten Anteil von Leuten mit rechtsradikalen Einstellungen haben, können wir als Gesellschaft immer noch sehr viel tun, wie laut dieser Anteil ist und wie aktiv der Anteil der anderen Menschen sich verhält.

Auf jeden Fall. Die Gedenkstätten sind ja besonders die Stimme der Betroffenen, die nicht mehr unter uns sind. Und die Geschichten dieser Betroffenen zu erzählen, so lebendig, so voller Farbe, wie es nur irgendwie geht, ist eine wichtige Aufgabe. Ich merke, dass gerade wenn über Juden gesprochen wird, viele irgendwie das Bild schwarzweißer Menschen vor Augen haben. Auf den Aufnahmen, die wir mit ihnen assoziieren, sind Juden verkörnert und schwarzweiß. Und die traurige Wahrheit in Deutschland heute ist, dass man gar nicht so viele lebendige, bunte Juden kennt. Das trägt natürlich zur Dehumanisierung bei. Von jemanden, den ich gar nicht kenne, den ich mir gar nicht vorstellen kann, von dem mache ich mir schneller eigene Bilder. Eigentlich gute Aufklärungsarbeit scheitert eben auch, wenn man das Jude-Sein rein der Geschichte zuschreibt und nicht sieht, dass die Kinder, die Enkel derselben Menschen, heute unter uns sind. Deswegen hab ich zum Beispiel die Videoreihe „Frag‘ einen Juden“ gemacht, um einfach ein bisschen aus dem völlig alltäglichen Leben, in diesem Fall zweier normaler Jüd:innen, zu erzählen. Um einfach mal, ohne weitere Ansprüche, auch die banalsten und „dümmsten“ Fragen zuzulassen und humorvoll zu beantworten. Das ist ein Teil der Bildungsarbeit, die uns einfach lebendiger, menschlicher macht.

Tatsächlich geht es bei „aula“ gar nicht um Wissenserwerb, sondern nur um Kompetenzerwerb. Das ist das eine. Und das Zweite ist eine Erfahrung, die man mit einem verbindlichen Beteiligungssystem wie „aula“ sammelt. Die Erfahrung ist, dass – wenn man eine Idee hat, wenn man etwas in seiner Umgebung verändern möchte, wenn man Arbeit investiert und das zusammen mit anderen tun kann – sich in Reaktion darauf die Welt verändert. Diese Erfahrung der Selbstwirksamkeit ist für mich ganz zentral in jeder Präventions- und Bildungsarbeit. Denn ich glaube, dass die meiste Radikalisierung, auch die Dehumanisierung anderer, in Wirklichkeit ein Menschanimus ist, mit Kontrollverlust umzugehen. Diesem gefühlten Kontrollverlust kann man begegnen, indem man zeigt: „Nein, du bist nicht einfach nur Opfer deiner Umwelt. Es gibt auch keine dunklen Mächte, die irgendwas über deinen Kopf bestimmen. Auch wenn das die Lebenserfahrung sein sollte, die du bisher gemacht hast. Sondern du bist aktiver Teil der Gestaltung deiner Umwelt. Du trägst Verantwortung für dich und andere.“ Ich glaube fest daran, dass wir viel mehr solcher Ansätze brauchen, die auf tiefenpsychologische Mechanismen abzielen, als Kampagnen, die nur sagen „Antisemitismus ist nicht okay“.

Ich denke, der Ort an sich ist niemals ersetzbar. Wenn ich mich an eigene Besuche von Gedenkstätten erinnere – ich war in Bergen-Belsen und in Buchenwald –, war für mich besonders das tatsächliche „Erleben“ am eigenen Leibe, das empathische Vorstellen, ich sei hier gegen meinen Willen, die Entmenschlichung, prägend. Ich glaube, das war der prägendste Eindruck aller Shoa-Aufarbeitung, die ich in meinem Leben durchgemacht habe. Demgegenüber sind die digitalen Konzepte, die ich schreibe, keine einmalige Erfahrung. Das Beteiligungssystem „aula“ ist eine stetige Erfahrung, wie es in Wirklichkeit ja auch das Lernen mit und von Menschen ist. Wir planen, wenn wir Bildungsprojekte machen, auch für Erwachsene viel zu häufig Einmalveranstaltungen. Unser Gehirn prägt sich das ein, was es wiederholt braucht. Und erst in dieser wiederholten Erfahrung von Selbstwirksamkeit, in der wiederholten Erfahrung von Empathie, in der wiederholten Erfahrung von Verantwortung werde ich daraus eine Eigenschaft entwickeln. Das heißt, die Gedenkarbeit ist optimalerweise eine sich wiederholende. Ein analoges Beispiel dafür sind die Stolpersteine. Denn den Stolpersteinen begegne ich nicht einmal, sondern ich begegne ihnen in meinem Alltag regelmäßig und ständig, ohne dass sie meinen Alltag unterbrechen. Diese Form der Begegnung erlaubt auch das Digitale sehr gut. Ich bin jetzt nicht spontan und kreativ genug, um perfekte Digitalkonzepte für die Erinnerungsarbeit aus dem Ärmel zu schütteln, aber ich weiß, dass da mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Erstens: die Art und Weise, wie wir historisches Material aufbereiten. Das heißt, dass Filme und Fotos aus der Vergangenheit gerne digital aufbereitet werden können: in Farbe, in höherer Auflösung, in höherer Bildrate. Damit das sehr weit Entfernte und Verfremdete näher an uns herangeführt wird. Zweitens: Wir haben so viele aufgezeichnete Interviews mit Augenzeugen. Wir können bald leider nicht mehr den einen Tag haben, wo die/der Zeitzeug:in zu uns in den Unterricht kommt und erzählt. Aber was wir machen können, ist, dann eben wie in einer Serienform, hin und wieder viele Geschichten vieler Zeitzeug:innen zu hören und zu sehen. Drittens: Was wir natürlich auch machen können, ist, die historischen Orte durch Augmented Reality zu ergänzen. Das heißt, wenn wir durch den physischen Ort, an dem Ereignisse stattgefunden haben, gehen, können wir mit digitaler Technologie zeigen: So sah es hier aus, als es in Betrieb war. Die filmische Überlieferung lässt den Ort noch mal ganz anders erleben. Ich kenne da ein interessantes Projekt, das an der Berliner Mauer spielt. An bestimmten Geolocations sind bestimmte Videos gespeichert. Diese Videos überlagern sozusagen das heutige Bild. Schüler:innen können an den Geolocations auch selber einspeisen, was sie recherchiert, was sie gelernt haben. Auf diese Weise stellen sie selbst Material her.

Genau. Ich glaube, es hat mir schon sehr viel gebracht, mir Fotos von den Orten anzugucken, an denen ich physisch stand, zu sehen, wie es damals dort aussah. Aber wenn ich dann noch die Menschen – in einem sich überlagernden Bild – in dieser Kulisse sehen könnte und begreife, dass es Menschen sind ... Das Analoge wird in der Erinnerungsarbeit niemals aussterben, die Orte brauchen wir immer. Aber ich glaube, das Digitale kann gut ergänzen.

Ich glaube, man kann mit dem Digitalen junge Menschen nochmal anders abholen. Man kann ihnen die Vergangenheit leichter zugänglich machen und das, was sie digital erleben, können sie eben auch in der Hosentasche mitnehmen. So wie wir jungen Jüd:innen unser Erinnerungspäckchen überall mittragen, können auch Besucher:innen zumindest einen winzigen Teil davon mitnehmen. Vielleicht könnten die Erinnerungsstätten, die sich ja um die sinnvolle Vermittlung der Shoa in der Bildungsarbeit sehr, sehr viel Gedanken machen, nochmal stärker mit Schulen zusammenarbeiten. Ich zum Beispiel habe einen Geschichtsunterricht hinter mir, der extrem verkopft, extrem verzahlt war. Ich musste Zahlen, Verträge, Jahreszahlen, Daten auswendig lernen. Das hat ehrlich gesagt viel zur Entmenschlichung der Opfer beigetragen. Damit hat er das genaue Gegenteil von dem gemacht, was er erreichen sollte. Auch weil ich Noten dafür bekommen habe, wie gut ich mir die Fakten gemerkt habe. Es war eine Flucht in die Fakten. Ich weiß nicht, ob das heute immer noch so ist. Aber ich weiß, dass es vielen Lehrer:innen nicht leicht fällt, hier einen guten Zugang zu finden. Und die auch nicht die Fortbildungen bekommen für die entsprechenden Kompetenzen. Es wäre schön, wenn sich die Gedenkstätten weiter mit der Lehrer:innenfortbildung vernetzen. Z. B. bei so einer empfindlichen Frage, wie wir die Shoa behandeln, wenn ein Großteil unserer Schüler:innen muslimisch ist. Die Bildungsmethoden der Gedenkstätten kommen mir manchmal fortgeschrittener vor als die in den Schulen.

Wunderbar, dass Sie da offenbar auf einem guten Weg sind. Ich hoffe, ich habe für die digitale Zukunft der Gedenkstätten ein paar Anregungen geben können, wenn auch noch keine fertigen Konzepte.

Die Diplom-Psychologin und Publizistin Marina Weisband leitet seit 2014 das Projekt „Aula – Schule gemeinsam gestalten“, das von der Bundeszentrale für politische Bildung gefördert wird. Es möchte Jugendliche dazu befähigen, sich aktiv an der Gestaltung ihres schulischen Umfelds zu beteiligen und so demokratisches Handeln zu erproben. 2011/12 war sie politische Geschäftsführerin der Piratenpartei. Als Kind einer jüdischen Familie wuchs sie in Kiew auf. Marina Weisband lebt heute in Münster.

Fragen: Rikola-Gunnar Lüttgenau


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