Buchenwald

Gedenken ohne Wissen?

Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur – Ein Projekt zur Forschung und Vermittlung

Am 12. April 2003 weihten ehemalige Speziallager-Insassen, ihre Angehörigen und die „Vereinigung der Opfer des Stalinismus e. V.“ am Schloss in Schwarzenberg/Erzgebirge einen Gedenkstein ein. Er trägt die Inschrift „Zum Gedenken an die unschuldigen Opfer der kommunistisch-stalinistischen Willkür nach Kriegsende ab Mai 1945“. Die Beziehung des Denkmals zu seinem Aufstellungsort geht aus der unkonkret gehaltenen Gedenkformel nicht hervor, ebenso wenig erfahren Interessierte mehr über die Personen, denen der Stein gewidmet ist. Auch die im Schloss eingerichtete Ausstellung zur Stadtgeschichte schärft das Bild regionaler Verhaftungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nur ungenügend.

Aufschrift: Zum Gedenken an die unschuldigen Opfer der kommunistisch-stalinistischen Willkür nach Kriegsende ab Mai 1945
Gedenkstein am Schloss in Schwarzenberg/Erzgebirge, Oktober 2020.
©Franz Waurig, Sammlung Gedenkstätte Buchenwald

Als der Landkreis Schwarzenberg im Mai 1945 zunächst nicht durch alliierte Streitkräfte besetzt wurde, ließen die Mitglieder von neugebildeten „antifaschistischen Aktionsausschüssen“ vermeintliche und tatsächliche NS-Funktionsträger:innen verhaften und hielten diese u. a. im Schlossgefängnis fest. Ende Juni 1945 wurde Schwarzenberg durch sowjetische Truppen besetzt. Die sowjetische Besatzungsmacht brachte die Gefangenen in verschiedene Speziallager oder verurteilte sie vor Militärtribunalen (SMT). Nach neuesten Forschungen wurden im gesamten Landkreis zwischen 1945 und 1950 nachweislich 750 Personen verhaftet und in Speziallagern festgehalten. Etwa 200 von ihnen verstarben dort. Gegen 187 Personen ergingen SMT-Urteile, in 18 Fällen wurde die Todesstrafe ausgesprochen.

Die kurze Zeit ohne Besatzungsherrschaft und die Verhaftungen waren immer wieder Thema öffentlicher Debatten in Schwarzenberg. Die Diskussion dreht sich besonders um den langjährigen NS-Oberbürgermeister Ernst Rietzsch und den Industriellen Friedrich Emil Krauß. Rietzsch wurde im Mai 1945 seines Amtes enthoben, verhaftet und ins Schlossgefängnis gebracht. 1946 verurteilte ihn ein SMT zum Tode, das Urteil wurde in Dresden vollstreckt. Seit den 1990er-Jahren gibt es wiederholt Bestrebungen, seine Verhaftung allein aufgrund einer Revanche für Auseinandersetzungen mit örtlichen kommunistischen Funktionären in den 1920er-Jahren zu erklären. Die sowjetischen Gerichtsunterlagen und neuere Forschungen verweisen dagegen auf seine Tätigkeiten während des Zweiten Weltkrieges, als Rietzsch bei der Militärverwaltung in der besetzten Sowjetunion und Frankreich eingesetzt war. In seinen Verantwortungsbereich fiel u. a. 1941 die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung in der belarussischen Stadt Lepel. 1942/43 wirkte Rietzsch an der gewaltsamen Verschickung von mindestens 2.000 französischen Zwangsarbeiter:innen in das Deutsche Reich mit. Trotz der Beteiligung an den genannten Kriegsverbrechen wurde er 1994 von der Russischen Militärhauptstaatsanwaltschaft rehabilitiert.

Noch stärker wird um das Bild von Friedrich Emil Krauß gestritten, dessen Biographie auch in der Dauerausstellung der Gedenkstätte Buchenwald zum Speziallager Nr. 2 vorgestellt wird. Der Besitzer einer großen Waschmaschinen- und Badewannenfabrik wurde 1945 durch die sowjetische Besatzungsmacht verhaftet, ebenfalls im Schlossgefängnis festgehalten und anschließend in den Speziallagern Jamlitz und Buchenwald interniert. Nach seiner Verurteilung in den „Waldheimer Prozessen“ 1950 blieb er bis 1954 in der DDR inhaftiert. Nach seiner Freilassung übersiedelte Krauß in die Bundesrepublik, wo er 1977 starb. In der öffentlichen Wahrnehmung wird Krauß bis heute zumeist mit technischen Innovationen, der sozialen Fürsorge für Teile seiner Belegschaft und der Förderung erzgebirgischer Volkskunst in Verbindung gebracht. Mehrere Ausstellungen verstärken dieses Bild. 2004 löste die Schwarzenberger Schau „Krauß ins Haus“ eine rege Diskussion um seine Person aus – denn: Krauß unterhielt nach 1933 engen Kontakt zu ranghohen NS-Funktionären, übernahm Ämter in der NSDAP und der NS-Kulturorganisation „Heimatwerk Sachsen“, profitierte schließlich seit 1937 von der Ernennung seiner „Kraußwerke“ zum NS-Musterbetrieb. Während des Zweiten Weltkrieges beschäftigte das Unternehmen mehr als 300 Zwangsarbeiter:innen. Als die Erben von Friedrich Emil Krauß einen Entschädigungsantrag für das nach 1945 enteignete Eigentum stellten, kam die Landesdirektion Sachsen 2019 zu dem Schluss, dass Krauß – trotz der aufgeführten Verstrickungen in das NS-Regime und der Zwangsarbeit in seinem Unternehmen – nicht gegen die Grundsätze der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit verstoßen habe. Er hätte sich vielmehr im Rahmen des Möglichen gegen die NS-Gewaltherrschaft gestellt. Eine Argumentation, die weit zurückfällt hinter die aktuellen Forschungsergebnisse zu lokaler NS-Geschichte, Zwangsarbeit und sowjetischen Verhaftungen. Dem überkommenen Bild des vermeintlich unpolitischen Industriellen und Opfers „kommunistischer Willkür“ gibt sie dagegen Aufwind.

Die oben skizzierten Fälle stehen symptomatisch für die Schwierigkeiten des Erinnerns an die NS-Diktatur und die sowjetische Besatzungszeit in den neuen Bundesländern nach 1990. Mit dem Ende der DDR konnte erstmals öffentlich über bisher ausgesparte Themen der Geschichte berichtet und verhandelt werden. Dazu gehörten auch die sowjetischen Verhaftungen und die Speziallager. Betroffene, Angehörige und Initiativgruppen traten seit 1989/90 für die Setzung von Gedenkzeichen im öffentlichen Raum ein. Etwaige Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen spielen für die erinnerungskulturellen Praktiken der Betroffenen und ihrer Angehörigen dabei lediglich eine untergeordnete Rolle.

Stadtbild: Bäume, dahinter das Schloss Schwarzenberg und die St.-Georgen-Kirche
Blick vom Ottenstein zum Schloss Schwarzenberg und zur St.-Georgen-Kirche, Oktober 2020. Im Schlossturm befand sich bis 1952 ein Gefängnis, das nach dem Zweiten Weltkrieg auch durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD genutzt wurde.
©Franz Waurig, Sammlung Gedenkstätte Buchenwald

Dreißig Jahre nach der deutsch-deutschen Vereinigung setzt die Gedenkstätte Buchenwald in einem mehrjährigen Projekt genau an diesem Punkt an. Unter dem Motto „Gedenken ohne Wissen?“ analysiert das Projektteam die ostdeutsche Erinnerungskultur seit 1990 und dokumentiert Denkmale, die diese Erinnerung öffentlich repräsentieren. In einer Datenbank werden neben einer aktuellen Zustandsbeschreibung und der Geolokalisierung auch Informationen zur Entstehungsgeschichte und wichtigen Akteur:innen der Setzungen zusammengestellt. Darüber hinaus sind „citizen science“-Projekte zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen erinnerungskulturellen Praktiken geplant. Gemeinsam mit Partner:innen vor Ort (Schulklassen, Volkshochschulen, Geschichtsvereinen) führt das Projektteam daher Recherche-Workshops durch. Im Zentrum stehen dabei Biographien mit Bezug zur Region und zu sowjetischen Verhaftungen: Dabei werden die Lebensgeschichten sowohl in die lokale NS-Gesellschaftsgeschichte eingeordnet als auch in die Zeit der sowjetischen Besatzung. Den dritten Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit den verschiedenen Erinnerungsformen an die Personen und das Geschehen vor bzw. nach 1945.

Das Projekt ist Teil des Verbundes „Diktaturerfahrung und Transformation. Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er-Jahren“. Ihm gehören neben der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora die Friedrich-Schiller-Universität Jena, die Universität Erfurt und die Stiftung Ettersberg. Europäische Diktaturforschung – Aufarbeitung der SED-Diktatur – Gedenkstätte Andreasstraße an. Es wird gefördert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Der Historiker Franz Waurig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen? Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur“ in der Kustodie zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Gedenkstätte Buchenwald.

Nancy Aris: Recherchebericht zur Tätigkeit von Dr. Ernst Albrecht Rietzsch während der NS-Zeit, in: 13. Tätigkeitsbericht 2004/2005 des Sächsischen Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Dresden 2005, S. 66-77.

 

Lenore Lobeck: Die Schwarzenberg-Legende. Geschichte und Mythos im Niemandsland, 7. Aufl. Leipzig 2020.

 

Lenore Lobeck: Zum Beispiel Schwarzenberg. Verhaftungen im Landkreis Schwarzenberg im Zeitraum 1945-1950, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat (2013) 34, S. 35-51.

 

Andreas Weigelt (Hrsg., u. a.): Todesurteile sowjetischer Militärtribunale gegen Deutsche (1944-1947). Eine historisch-biographische Studie, Göttingen (u. a.) 2015.


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