Mittelbau-Dora

Keine empfehlenswerte Lektüre

„Vergeltung“ von Robert Harris

Spätestens seit seinem Roman „Vaterland“, einer dystopischen Kriminalgeschichte, die 1964 in einem nationalsozialistischen Deutschland spielt, das den Krieg gewonnen hat, ist der Brite Robert Harris weltweit ein Bestseller-Autor mit einem Faible für historische Romane. Ein solcher ist auch sein neuestes Werk „Vergeltung“, dessen historischer Kontext der Beschuss Englands mit V2-Raketen im Herbst 1944 ist – Raketen, die bekanntlich von KZ-Häftlingen in Mittelbau-Dora montiert wurden.

War „Vaterland“ noch ein gut lesbarer Roman, der historisch solide recherchiert war und eine spannende Geschichte erzählte, hat sich Harris mit „Vergeltung“ verhoben. Die Geschichte um eine britische Mathematikerin, die anhand der Flugbahn der Raketen die Abschussbasen in Belgien lokalisieren, und einen (fiktiven) deutschen Raketeningenieur, der an diesen Abschussbasen die technische Funktionsfähigkeit der Raketen sicherstellen soll, ist so trocken und langweilig, dass der Roman eigentlich keiner Erwähnung bedarf. Da er vermutlich aber dennoch Aufmerksamkeit erlangen wird, ist davon auszugehen, dass er auch die öffentliche Wahrnehmung des nationalsozialistischen Raketenprogramms und damit auch der Geschichte von Peenemünde und Mittelbau-Dora beeinflussen wird – und das leider im Sinne altbekannter apologetischer Narrative, die Wernher von Braun und die anderen Raketenkonstrukteure in Peenemünde und Mittelbau-Dora als technische Visionäre darstellen, für die die Entwicklung einer Terrorwaffe für das NS-Regime nur ein Mittel zu einem ganz anderen Zweck gewesen sei: dem Flug zum Mond.

„Die Notwendigkeit dieses Manövers [dem Abkippen der V2-Rakete in eine Schräglage, um das Ziel ins Visier zu nehmen] bedauerte er immer wieder“, schreibt Harris über seinen Raketeningenieur Dr. Rudi Graf, einem engen Vertrauten Wernher von Brauns. „In seinen Träumen flog sie vertikal hinaus zu den Sternen.“ (S. 16) An anderer Stelle lässt er Wernher von Braun sagen: „Der Weg zum Mond führt über Kummersdorf.“ (S. 73). In Kummersdorf arbeitete von Braun seit 1932 für das Heereswaffenamt an der Entwicklung von Flüssigkeitsraketen, bevor das Raketenprogramm nach Peenemünde umzog. Hier und an vielen anderen Stellen seines Romans folgt Harris der geschichtsklitternden Selbststilisierung von Brauns und seines militärischen Alter Egos General Walter Dornberger, die nach 1945 fleißig und wirkungsmächtig an der Legende strickten, ihnen sei es bei der V2-Entwicklung nie um eine Waffe, sondern immer nur um den Mondflug gegangen. „V2 – der Schuss ins All“ hießen etwa die 1952 erschienenen Erinnerungen von Walter Dornberger, eine geschichtsfälschende Rechtfertigungsschrift, die Harris im Anhang zu seinem Buch als „hilfreiches Werk“ bezeichnet (S. 366). Das ist nicht nur ärgerlich, sondern widerspricht allen Standards der Quellenkritik. Das gilt auch für Harris‘ Behauptung, das Signet der „Frau im Mond“, jene „heiter erotische Hommage an den Film“, habe „den Rumpf jeder einzelnen in Peenemünde getesteten Rakete geziert“ (S. 281). Nein, nur auf einer Versuchsrakete klebte das Signet, nämlich auf dem Versuchsmuster 4. Auf den meisten anderen Versuchsraketen prangten Signets militärischen Inhalts.

Bild der Glückwunschkarte mit einer personifizierten Rakete darauf
Glückwunschkarte von General Walter Dornberger („Beauftragter zur besonderen Verwendung Heer“) an Wernher von Braun und andere Raketeningenieure anlässlich der Verleihung des Ritterkreuzes, 16. Dezember 1944.
©Bundesarchiv-Militärarchiv

Ein nachträglicher Glücksfall war es für Wernher von Braun, dass er im Frühjahr 1944 zwischen die Fronten eines Kompetenzgerangels zwischen der Wehrmacht und der SS geriet (es ging um die Frage, wer die Kontrolle über den militärischen Einsatz der V2 erhält), in dessen Verlauf er und einige Mitarbeiter, im Harris-Buch auch der fiktive Dr. Graf, gewissermaßen als Geiseln der SS für einige Tage in Gestapo-Haft genommen wurden. Nach dem Krieg nutzte von Braun die Episode (und Harris folgt ihm damit in seinem Roman) als vermeintlichen Beweis dafür, dass er in Gegnerschaft zum Nationalsozialismus gestanden habe und kein Mordwerkzeug, sondern ein Raumschiff habe bauen wollen (S. 296).

Überhaupt folgt Harris dem Nachkriegsnarrativ der Raketeningenieure, die sich als visionäre und allenfalls in politischen Dingen vielleicht etwas naive, in jedem Fall aber unschuldige Techniker darstellten, denen die SS mit finsteren Absichten gegenüberstand. Auch die Mär vom sauberen Peenemünde gehört mit in diese Darstellung. Die Verbrechen seien doch nur im fernen Mittelbau-Dora begangen worden, und dafür sei ausschließlich die SS verantwortlich gewesen, ließen von Braun und Dornberger nach 1945 verlauten. Harris folgt diesem Narrativ. Sein tragischer Held Rudi Graf, nach Wernher von Braun immerhin die Nummer 2 in Peenemünde, ist ganz entsetzt, als die SS plötzlich Häftlinge nach Peenemünde bringt (S. 271). Die historische Evidenz sieht hingegen ganz anders aus: Die Raketeningenieure warben im Frühjahr 1943 förmlich bei der SS darum, KZ-Zwangsarbeiter zugewiesen zu bekommen, so wie es auch die Raketeningenieure waren, die sich im August 1943 nach dem britischen Luftangriff auf Peenemünde für die Verlagerung der Raketenmontage in unterirdische Anlagen einsetzten und damit Dora erst möglich machten. Bei Harris hingegen ist das unterirdische Mittelwerk bei Nordhausen ein Projekt der SS, mit dem die Ingenieure nichts zu tun haben (S. 274). Für die Verbrechen an den Häftlingen tragen sie damit keine Verantwortung, mehr noch: Sie selbst werden ständig von der SS bedroht.

Von einem reflexiven Geschichtsbewusstsein, von einer literarisch-künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema der ethischen Verantwortung von Ingenieuren und Technikern ist der neue Roman von Harris leider meilenweit entfernt. Insofern ist es vielleicht ein Glückfall, dass sein Buch – jenseits der inhaltlichen Kritik – auch als Spionage- und Liebesgeschichte nichts taugt. Einfach, weil es zu langweilig ist – und damit wohl eher nicht zum Bestseller werden wird. Wer möchte schon solche Sätze über Wernher von Braun lesen: „Seine Augen waren so blau wie der heiße Himmel über der Ostsee, unnatürlich weit und feucht glänzend. Die Augen eines Visionärs.“ Ein rundherum schlechtes Buch.

 

Robert Harris, Vergeltung.

Aus dem Englischen von Wolfgang Müller, München:

Heyne Verlag, 2020.


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