Mittelbau-Dora

Ein Oscar für die Erinnerungskultur

Der Dokumentarfilm „Colette” und das Ende der Zeitzeugenschaft

Ende April 2021 gab es bei der Oscarverleihung in Los Angeles eine große Überraschung: Der Film „Colette“ wurde als beste Kurzdokumentation ausgezeichnet. Er handelt von der 90-jährigen Schwester eines französischen Widerstandskämpfers, der von den Deutschen verschleppt wurde und im KZ Mittelbau-Dora starb, und ihrem ersten Besuch in der Gedenkstätte im Jahr 2019.

Porträt von Jean-Pierre Catherine
Jean-Pierre Catherine, ca. 1942

Ernste Themen haben stets gute Aussichten, einem Film die begehrteste Auszeichnung – den Oscar – zu sichern. Der im Jahr 2021 prämierte Kurzdokumentarfilm „Colette“ fällt in diese Kategorie, indem er aus der Sicht der Schwester das Schicksal eines französischen Résistance-Kämpfers thematisiert, der von den deutschen Besatzern in Konzentrationslager verschleppt wurde und schließlich kurz vor der Befreiung wegen der mörderischen Lebensbedingungen im KZ Mittelbau-Dora starb. Stilistisch erfüllt der Film die notwendigen Bedingungen, die bei der Oscarvergabe von großer Bedeutung sind: Zu einem schweren Thema wird ein emotionaler Zugang angeboten, der in diesem Fall von zwei Protagonistinnen ermöglicht wird. Zudem verspricht ein gezielt konventioneller filmischer Ansatz die Ansprache eines möglichst breiten Publikums.

Nach dem Einmarsch der Deutschen schloss sich Jean-Pierre Catherine bereits als Schüler der Résistance an. Er fiel den Besatzern allerdings nicht bei einer seiner eigentlichen Aktionen – er hatte Waffen versteckt und Flugblätter verteilt –, sondern bei einem von den Deutschen verbotenen Gedenkakt in die Hände: Im Juni 1943 legte er an einem Denkmal für gefallene französische Soldaten Blumen nieder. Anschließend verhaftete die Sicherheitspolizei den inzwischen Siebzehnjährigen. Zunächst landete er im Gefängnis in Caen, dann wurde er über das KZ Natzweiler-Struthof und das Gefängnis in Brieg ins KZ Groß-Rosen verschleppt. Von dort wurde Jean-Pierre Catherine, nachdem das Lager vor den vorrückenden sowjetischen Truppen Richtung Westen geräumt wurde, mit Tausenden Häftlingen in das KZ Mittelbau-Dora verlegt. Nach einem Transport unter katastrophalen Bedingungen war auch Catherine bei seiner Ankunft am 11. Februar 1945 am Ende seiner Kräfte. Fünf Wochen später wurde er aus dem Hauptlager Dora in das wenige Kilometer entfernte Außenlager Boelcke-Kaserne verlegt, das als zentrales Kranken- und Sterbelager des KZ-Komplexes Mittelbau diente. Mit nur 19 Jahren starb Jean-Pierre Catherine dort, mitten in der Stadt Nordhausen, am 22. oder 23. März 1945.

3 Frauen, (v.l.n.r.) Lucie Fouble, Alice Doyard und Colette Marin-Catherine auf dem Gelände von Mittelbau-Dora
Filmproduzentin Alice Doyard mit ihren Protagonistinnen Colette Marin-Catherine und Lucie Fouble in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora, 2019
©www.colettedoc.com

Der Film unternimmt nun eine äußerst interessante Perspektivverschiebung. Anders als die meisten Agenturmeldungen nach der Oscarverleihung vermeldeten, handelt es sich genau genommen nicht um eine Dokumentation über die KZ-Haft (und schon gar nicht über den Holocaust, wie vereinzelt in den internationalen Medien verkündet wurde). Stattdessen steht, darauf weist bereits der Titel hin, die Schwester des KZ-Opfers im Mittelpunkt: Colette Marin-Catherine. Der 24-minütige Film (der frei im Internet verfügbar ist) handelt von der Trauer der 90-Jährigen um ihren Bruder und um die Schwierigkeit des Gedenkens. Erstmals 2019 war sie mit dem Filmteam an den Ort gefahren, an dem ihr Bruder ums Leben kam: nach Nordhausen und ins KZ Mittelbau-Dora. Eindrücklich zeigt der Film den psychischen Druck, mit denen Angehörige oft zu kämpfen haben. Wie ihr Bruder war auch die drei Jahre jüngere Colette in der Résistance aktiv. Sie spielt jedoch ihre eigene Rolle herunter und scheitert daran, für sie angemessene Formen des Trauerns um ihren ins Übermenschliche erhöhten Bruder zu finden. Die stets beherrschte Colette Marin-Catherine bricht dann in der KZ-Gedenkstätte nicht deshalb in Tränen aus, weil sie hier zu einer Form der Trauer gefunden hätte. Vielmehr ist sie wütend auf sich selbst, weil sie vergaß, Blumen für ihren Bruder mitzubringen.

Über die zweite Protagonistin, die 17-jährige Schülerin Lucie Fouble öffnet der Film ein weiteres Narrativ: dasjenige der Fortführung der Erinnerungsarbeit nach dem Ende der Zeitzeugenschaft. Es lässt sich als eine gezielte Auswahl verstehen, dass ausgerechnet diese Schülerin Colette Marin-Catherine mit dem Filmteam nach Nordhausen begleitet. Lucie Fouble hat im französischen Museum La Coupole einzelne Beiträge für das „Livre des 9000 déportés de France à Mittelbau-Dora“ geschrieben. In diesem bemerkenswert gründlich recherchierten Gedenkbuch sind Biografien aller aus Frankreich in das KZ Mittelbau-Dora Deportierten zusammengetragen.

Diese Zweierkonstellation macht sehr deutlich, worum es dem Film geht, und was an ihm – trotz aller filmischen Konventionalität – innovativ ist: Es ist keine historische Dokumentation über das KZ, sondern ein Film über die Schwierigkeit des gleichzeitig persönlichen und politischen Erinnerns am Ort des Verbrechens: der Gedenkstätte. Colette Marin-Catherine, die Schwester des Opfers, schafft es erst gegen Ende ihres eigenen Lebens, diesen Schritt zu gehen. Durch eine Begleiterin, die der Generation der Enkel angehört, suggeriert der Film die Notwendigkeit der Fortführung des Erinnerns durch die Herstellung eines neuen persönlichen Bezugs zu einem individuellen Opfer: Colette Marin-Catherine übergibt neben dem Krematorium, in dem die Leiche ihres Bruders verbrannt wurde, das zentrale Erinnerungsstück, das ihr von ihm blieb, an Lucie Fouble: einen Ring. Aus der Sicht einer reflexiven Geschichtskultur lässt sich dieser emotional-personalisierte Weg, den auch die deutsche Diskussion um sogenannte Zweitzeugen einschlägt, kritisch betrachten. Aus filmischer Perspektive stellt die Ringübergabe aber vor allem ein sehr starkes visuelles Symbol dar.

Das Spannungsverhältnis zwischen (verhaltener) Innovativität und Konventionalität hilft zu verstehen, warum der Film seine große Wirkung entfalten kann, die uns von vielen Besucher:innen und Kooperationspartner:innen der Gedenkstätte bestätigt wurde. Dies gilt auch für den Geschlechteraspekt. Der Film ist eine erfreuliche Ausnahme in einer Erinnerungskultur, in der immer noch Männer sehr dominant sind: In der Regel berichten in Dokumentarfilmen männliche Angehörige des Widerstands über die NS-Zeit und männliche Historiker ordnen diesen Befund aus wissenschaftlicher Perspektive ein. In „Colette“ bleiben Männer Nebenfiguren; der Film fokussiert die beiden Frauen. Deren Zugriff auf die Geschichte bleibt – in der Schnittfassung des Films – allerdings stark den Geschlechterkonventionen verhaftet: Lucie Fouble beginnt mit einer sachlichen Darstellung des historischen Kontextes, im Laufe des Gedenkstättenbesuchs nahmen jedoch die Emotionen überhand. Colette Marin-Catherine, deren eigener Einsatz für die Résistance nur kurz erwähnt wird, interessiert den Film nicht als historische Akteurin: Ihr Bruder steht für den Widerstand, Colette repräsentiert die Trauerarbeit.

Colette Marin-Catherine (links) und Macron (rechts)
Staatspräsident Macron empfängt Colette Marin-Catherine im Élysée-Palast, 18. Juni 2021.
©www.elsyee.fr

Der Zwiespalt zwischen der bemerkenswerten Leistung des Filmes, die Zuschauer:innen zu berühren – und so den wichtigen Aspekt der Nachgeschichte der KZ-Verbrechen einem breitem Publikum zuzuführen – und seinem Verharren in konventionellen Sichtweisen lässt sich aus seiner Produktionsgeschichte ableiten: Entstanden ist der Dokumentarfilm als Bonusmaterial für das Computerspiel „Medal of Honor: Above and Beyond“. Darüber hinaus gewann der Film an Aufmerksamkeit, nachdem die britische Tageszeitung The Guardian ihn auf ihrer Website frei verfügbar machte. Über großen Publikumszuspruch bei mehreren internationalen Filmfestivals kam es dann schließlich zur Auszeichnung mit dem Oscar, was in Frankreich große Wellen schlug: Staatspräsident Macron empfing Colette Marin-Catherine. Allein diese späte Würdigung einer bemerkenswerten Frau veranlasst zu haben, ist ein nicht zu unterschätzendes Verdienst des Films.

Der Historiker Karsten Uhl leitet die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.


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