Geschichtskultur

Das „sowjetische“ Weimar

Ein Rundgang zu Spuren der sowjetischen Besatzungszeit in Weimar (1945–1950)

Schwarz-Weiß-Foto des Turms des ehemaligen Gauforums, festlich geschmückt mit Bildern von Stalin und Lenin
Turmgebäude des ehemaligen Gauforums mit Festschmuck zum 29. Jahrestag der Oktoberrevolution, 1946.
©LATh – HStA Weimar

Als die Soldat:innen der 8. Gardearmee vor dreißig Jahren den ehemaligen sowjetischen Militärstandort Nohra endgültig verließen, kam es zu einer außergewöhnlichen Aktion: Ein Kampfhubschrauber näherte sich der Gedenkstätte Buchenwald. Über dem ehemaligen Häftlingslager warf die Crew einen Blumenstrauß ab, der einen russischsprachigen Abschiedsgruß zum ewigen Gedenken an die Buchenwaldhäftlinge enthielt. Als Zeitdokument findet sich der Zettel heute in der Sammlung der Gedenkstätte. Der Ettersberg bei Weimar zeugt wie nur wenige Orte der Stadt von den schwierigen deutsch-sowjetischen Beziehungen des 20. Jahrhunderts: Zwischen 1941 und 1944 wurden im KZ Buchenwald über 8.000 Kriegsgefangene aus der UdSSR ermordet. Nach Kriegsende richtete der sowjetische Geheimdienst NKWD in Teilen des Geländes das Speziallager Nr. 2 ein, das erst 1950 aufgelöst wurde. Die Kasernen am Südhang des Ettersberges wurden bis 1992 durch die Besatzungstruppen genutzt.

Während die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 seit 1990 intensiv erforscht wird, gibt es zur sowjetischen Besatzung in Weimar bis heute nur wenig Literatur und Bildungsangebote. Diesen Umstand nahm die Kustodie 2 in der Gedenkstätte Buchenwald 2021 zum Anlass, einen Stadtrundgang zur Besatzungszeit der Jahre 1945 bis 1950 zu konzipieren. Im Herbst 2022 folgte schließlich die Informationsbroschüre „Nach dem Krieg“. Für den Rundgang wählten wir sechs Stationen in der Innenstadt und dem näheren Umfeld aus, an denen sich Spuren dieser Jahre finden. Einige sind sichtbar, andere mussten durch uns freigelegt werden. Sie erzählen von Macht und Repression, aber auch von schwierigen kulturellen Annäherungen und persönlichen Begegnungen zwischen der deutschen Bevölkerung und den sowjetischen Militärangehörigen nach dem Zweiten Weltkrieg. Vier Orte stellen wir in diesem Beitrag kurz vor.

Die Geschichte der sowjetischen Besatzung ist nicht denkbar ohne ihre Vorgeschichte: Am 21. Juni 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die UdSSR. Es folgte ein rassistischer Vernichtungskrieg unvergleichlichen Ausmaßes, dem mehr als 27 Millionen sowjetische Zivilist:innen und Soldat:innen zum Opfer fielen. Geprägt von den Gewalterfahrungen des vier Jahre dauernden Krieges erreichte die Rote Armee schließlich die Reichsgrenze. Im Juli 1945 besetzte sie nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen auch Thüringen. Weimar wurde zu einem wichtigen Standort der sowjetischen Streitkräfte. Die 8. Gardearmee richtete in der Stadt – später im benachbarten Nohra – ihr Hauptquartier ein.

Schwarz-Weiß-Foto: schneebedeckte Gräber auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof im Ilmpark
Ursprüngliche Gräbergestaltung auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof im Ilmpark, undatiert. Im Hintergrund befindet sich die Ruine des Tempelherrenhauses.
©Stadtarchiv Weimar

Durch den jahrelangen Kriegsdienst und die schlechten Lebensbedingungen geschwächt, starben besonders in den ersten Nachkriegsjahren zahlreiche sowjetische Militärangehörige. An mehreren Orten in der Stadt entstanden neue Friedhöfe, so 1945 im Ilmpark und 1948 am Schloss Belvedere. Insgesamt wurden auf beiden Friedhöfen mehr als 2.600 Personen beigesetzt – stellvertretend für sie sei die Militärsanitäterin Jekaterina Nasarenko (1924/25–1945) genannt, die in ihrem 21. Lebensjahr verstarb. Jekaterina Pantelejewna Nasarenko wurde 1924 (oder 1925) in einem Dorf bei Charkiw in der Ukraine geboren. Im Juni 1943, als 18-Jährige, trat sie in die Armee ein. Insgesamt dienten mindestens 800.000 Frauen in der Roten Armee: als Sanitäterinnen, Ärztinnen, aber auch in der kämpfenden Truppe. Nasarenko diente in der Sanitätsabteilung eines Regiments, das im Winter 1943/44 an den Schlachten am Dnipro in der Ukraine beteiligt war. Laut einer Belobigung versorgte Jekaterina Nasarenko die verletzten Soldaten „gut und sorgfältig“. Sie kümmerte sich auch um die rechtzeitige Evakuierung der Verwundeten ins Hinterland. Für diese Arbeit wurde sie mit einer Medaille „Für militärische Verdienste“ ausgezeichnet. Ihre Division beendete den Krieg 1945 in Berlin als Teil der 8. sowjetischen Gardearmee, deren Generalstab und Feldlazarett sich anschließend in Jena und später in Weimar befanden. Jekaterina Nasarenko arbeitete in diesem Feldlazarett, infizierte sich bei ihrer Tätigkeit mit Tuberkulose und starb am 12. Dezember 1945.

Die sowjetischen Truppen sahen sich 1945 nicht nur mit den geistigen, sondern auch mit den baulichen Überresten des Nationalsozialismus konfrontiert. In Weimar gehörte die Baustelle des 1937 begonnenen, jedoch unvollendet gebliebenen „Gauforums“ dazu. Es war als institutionelles Zentrum des NSDAP-Gaues Thüringen und als Aufmarschplatz geplant. Seinem Bau ging die Zerstörung eines Teils der Weimarer Innenstadt voraus. Die Sowjetische Militäradministration für Thüringen (SMATh) nutzte den überdimensionierten Gebäudekomplex ab 1946 als Verwaltungssitz.

Die SMATh reglementierte und organisierte das öffentliche und wirtschaftliche Leben. Sie blieb für die Zivilbevölkerung unzugänglich und intransparent, wie der 1947 um das Areal errichtete Bretterzaun symbolisierte. Wiederholt richteten Angehörige bei der SMATh Anfragen und Gnadengesuche zu Personen ein, die durch sowjetische Sicherheitsorgane verhaftet und in Speziallager überstellt wurden. Sie blieben stets unbeantwortet. Gleichzeitig bemühten sich Einzelpersonen, etwa der Beauftragte für Zivilangelegenheiten Iwan Kolesnitschenko (1907–1984), um die Belebung des Kulturlebens. Mit seiner Hilfe konnte im August 1945 das Goethemuseum wiedereröffnen. Auch Theateraufführungen in der Weimarhalle waren bereits kurze Zeit nach Kriegsende wieder möglich. Nach dem Auszug der sowjetischen Verwaltung wurde der Komplex durch Fachschulen belegt und die unvollendete Halle an der Ostseite in den 1960er-Jahren als Mehrzweckgebäude ausgebaut. In Letzterem befindet sich seit 2005 ein Einkaufszentrum. Die anderen Gebäude nutzt das Thüringer Landesverwaltungsamt. Spuren der sowjetischen Besatzungszeit finden sich heute noch in Form von Einritzungen auf den Treppengeländern im Nordhaus des ehemaligen Gauforums.

Schwarz-Weiß-Aufnahme des Amtsgerichtsgebäudes
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Das eingezäunte Amtsgerichtsgebäude, 1945/46.
Gedenktafel "Den unschuldigen Opfern des stalinistischen Terrors" im Amtsgerichtsgebäude
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1992 eingeweihte Gedenktafel am Eingang zum ehemaligen Gefängnis im Amtsgerichtsgebäude.
Foto des heutigen Wohnhauses in der Falkstraße 28, dessen Keller früher als Haftort genutzt wurde
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Wohnhaus in der Falkstraße 28, 2021. Der sowjetische Geheimdienst nutzte den Keller des Gebäudes 1946 als provisorischen Haftort.

Gemäß den interalliierten Beschlüssen und auf der Grundlage sowjetischer Befehle verhafteten der sowjetische Geheimdienst NKWD und die Militärspionageabwehr in Ostdeutschland u. a. ehemalige NS-Funktionsträger:innen, aber auch Jugendliche, denen eine Mitgliedschaft in der Partisanenorganisation „Werwolf“ vorgeworfen wurde. Überall in der sowjetischen Besatzungszone wurden Gefängnisse und Wohnhäuser als Haftorte genutzt. Allein in Weimar existierten mindestens sieben solcher umgangssprachlichen „GPU-Keller“, so etwa im Marstall, dem ehemaligen Polizeipräsidium in der Sophienstraße (heute Carl-August-Allee) und einem Wohngebäude in der Falkstraße.

Das Amtsgerichtsgebäude diente seit 1917 als Gefängnis und Gerichtssitz. Während der NS-Diktatur sprach dort ein Sondergericht Unrechtsurteile aus, 197 Verurteilte wurden in dieser Zeit durch ein Fallbeil im Hof hingerichtet. Nach Kriegsende nutzte der NKWD die Hafträume. Die Bedingungen waren schlecht, Gewaltanwendungen bei Verhören keine Seltenheit. Im vorderen Gebäudeteil tagten sowjetische Militärtribunale. Sie sprachen häufig hohe Lagerstrafen, bis 1947 und erneut ab 1950 jedoch auch Todesstrafen aus. Das Amtsgerichtsgebäude fungierte als wichtiges Bindeglied zwischen Weimar, dem sowjetischen Speziallager Nr. 2 auf dem Ettersberg und anderen Orten. Inhaftierte wurden ohne Gerichtsurteil aus dem Gefängnis in das Speziallager Nr. 2 überstellt. Internierte Personen holte der sowjetische Geheimdienst aus dem Lager und ließ sie durch ein Militärtribunal verurteilen. Die Wege der Verurteilten führten u. a. in die Speziallager Sachsenhausen und Torgau, aber auch nach Moskau.

1952 zog das Volkspolizeikreisamt in den vorderen Gebäudeteil. Das Gefängnis wurde vom Ministerium des Inneren der DDR genutzt. Seit dem Umzug der Weimarer Polizei und der Arrestanstalt 2007 bzw. 2014 steht das Gebäude leer. An den Außenmauern, von Vorbeigehenden kaum beachtet, finden sich vier Gedenktafeln. Sie erinnern an die Nutzung des Ortes durch die NS-Unrechtsjustiz (1987 eingeweiht, 2015 erneuert), aber auch an Personen, die in der SBZ/DDR verhaftet und verurteilt wurden – so an eine Gruppe von 33 Eisenacher Jugendlichen (1992 eingeweiht), an den Jenaer Arbeiter Alfred Diener, der nach dem 17. Juni 1953 vor Ort zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde (1996 eingeweiht), und an den Altenburger Jugendwiderstand von 1949/50 (1998 eingeweiht).

Verschwommene Schwarz-Weiß-Fotografie des "Dom ofizera"
„Knipserbild“ des „Dom ofizera“ (Haus des Offiziers) in der Hummelstraße, 1. Mai 1946.
©Gedenkstätte Buchenwald

Der Stadtrundgang kann nur wenigen ausgewählten Spuren der Besatzungszeit nachgehen. 1947 wurden laut städtischen Angaben über 300 Gebäude in Weimar von sowjetischer Seite als Wohn- und Dienstorte beansprucht. Die Zahl sank in der Folge, auch aufgrund einer großangelegten Rückführung von Militärangehörigen in die UdSSR. Dennoch prägte die Sowjetarmee bis 1992 das Stadtbild. Vielen ist die sowjetische Stadtkommandantur in Erinnerung geblieben, die sich gegenüber der katholischen Herz-Jesu-Kirche befand. In den Erzählungen taucht auch immer wieder der „Dom ofizera“ (Haus des Offiziers) auf. Diese Kultureinrichtung wechselte mehrfach ihren Standort. Bis 1952 wurde dafür u. a. das ehemalige Kino „Zentral-Palast“ in der Hummelstraße genutzt, danach die Weimarhalle. 1974 entstand schließlich an der Ettersburger Straße ein Neubau, der heute unter dem Namen „Redoute“ bekannt ist und dem Deutschen Nationaltheater als Spielort dient. Die unweit davon gelegenen Kasernen an der Ettersburger Straße wurden in den 2000er-Jahren abgerissen. An sie erinnern noch zahlreichen Hinweisschilder, die vor dem Betreten des Geländes warnen.

 

Begeben Sie sich mit uns auf Spurensuche. Ergänzungen und weitere Orte des „sowjetischen Weimar“ können Sie uns gern in einer Nachricht an kustodie2@buchenwald.de mitteilen.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Der Historiker und Westslavist Franz Waurig war 2019 bis 2023 wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen? Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur“ an der Gedenkstätte Buchenwald.

Im Oktober 2022 veröffentlichte die Gedenkstätte Buchenwald die Stadtrundgangs-Broschüre „Nach dem Krieg. Spuren der sowjetischen Besatzungszeit in Weimar“. Die Autor:innen wählten neun Orte im Stadtgebiet aus, die mit der Militär- und Zivilverwaltung, aber auch mit Einzelgeschichten deutscher und sowjetischer Zeitzeug:innen in Verbindung stehen.

 

Broschüre „Nach dem Krieg. Spuren der sowjetischen Besatzungszeit in Weimar 1945–1950“,

58 Seiten,

ISBN 978-3-935598-29-3,

Einzelpreis: 3,90 €

Cover der Stadtrundgangs-Broschüre "Nach dem Krieg"

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