Geschichtskultur

Die Organisation „Memorial“

Mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – in Russland unterdrückt

Am 10. Dezember 2022 wurde der russischen Organisation Memorial, die sich seit 30 Jahren der Aufarbeitung sowjetischer Staatsverbrechen und der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen verschrieben hat, der Friedensnobelpreis verliehen. In Russland selbst wurde die Organisation seit langem unterdrückt und schließlich per Gerichtsbeschluss aufgelöst. Viele Mitarbeiter:innen sahen sich gezwungen, das Land zu verlassen. Vier von ihnen haben, unterstützt durch die Förderung der Bundesstiftung Aufarbeitung an den Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora einen ersten temporären Hafen gefunden. Dort können sie ihre Arbeit fortsetzen und gleichzeitig die Gedenkstätte in gemeinsamen Projekten unterstützen.

Memorial Logo

Mit dem Tod von Michail Gorbatschow am 30. August 2022 wurde uns auch in Deutschland erneut in Erinnerung gerufen, wie wichtig der von ihm eingeleitete Prozess von Perestroika und Glasnost für die Anfänge einer offenen Gesellschaft im sowjetischen Herrschaftsbereich waren. Auf die Initiative Gorbatschows ging auch die Freilassung politischer Gefangener in den letzten Jahren der UdSSR zurück. Infolgedessen kehrte auch der Phsysiker und Regimekritiker Andrej Sacharow 1987 aus der Verbannung zurück und gründete anschließend mit anderen die Organisation Memorial. Seitdem erforscht Memorial die Geschichte staatlicher Repressionen in der Sowjetunion und bewahrt die Erinnerung daran. Die Organisation setzte sich zum Ziel, Denkmäler für Opfer politischer Verfolgung und Unterdrückung in der Sowjetunion zu errichten. Außerdem forderte sie die Rehabilitierung der Betroffenen und alle dafür relevanten Dokumente aus den sowjetischen Archiven für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dabei gliedert sich Memorial in eine internationale Dachorganisation wie auch viele, über die ehemalige Sowjetunion verteilte lokale, eigenständig agierende Gruppen. Diese lokalen Initiativen kümmerten sich seit den späten 1980er-Jahren darum, die Orte von Massengräbern kenntlich zu machen und dort Gedenktafeln anzubringen. In Moskau selbst stellten Mitglieder der Organisation 1990 einen Stein von den Solowezki-Inseln im Gedenken an die Opfer politischer Repressionen in der Sowjetunion auf. Auf dem im Weißen Meer liegenden Solowezki-Archipel war 1923 der erste sowjetische Lagerkomplex eingerichtet worden.

Erst nach dem Ende der Sowjetunion konnten die Betroffenen über ihre Erfahrungen in den Lagern und die staatlichen Repressionen öffentlich sprechen. Sie verfassten Berichte, holten Dinge, die sie aus der Lagerzeit bewahrt hatten, hervor und sprachen darüber. Die Organisation Memorial sammelte alle diese Überlieferungen. So entstand eine umfangreiche Sammlung von Zeichnungen, heimlichen Briefen und Dokumenten, Kleidung, Handarbeiten, Objekten aus dem Alltag der Lager, Fotos und Videos. Ein kleiner Teil dieser Überlieferungen konnte 2012–2014 in der gemeinsamen Ausstellung mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora „Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929–1956“ in Deutschland gezeigt werden.

Seit 1991 gibt es in der Russländischen Föderation ein Gesetz zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repressionen. Der 30. Oktober jeden Jahres wurde als der Tag der Erinnerung an die Opfer dieser Verfolgung bestimmt, an die zur Zeit der Sowjetunion nicht erinnert werden durfte und die daher namenlos blieben. Memorial setzte sich für die „Rückkehr der Namen“ ins öffentliche Bewusstsein ein. In vielen Regionen wurden seither Gedenkbücher veröffentlicht; eine große Online-Datenbank nennt rund drei Millionen Namen der Opfer politischer Repressionen. Am Vorabend des 30. Oktober verlesen jedes Jahr Angehörige, Betroffene und Unterstützer:innen öffentlich die Namen der Opfer. Ziel solcher Aktionen war und ist es, in der russischen Gesellschaft ein Nachdenken über die Geschichte des stalinistischen Terrors und seiner Bedeutung für die russische Gesellschaft heute zu befördern. In diesem Zusammenhang steht auch das Bildungsprogramm von Memorial, bei dem Schüler:innen überall in der Russländischen Föderation begleitet werden, an Geschichtswettbewerben teilzunehmen. Daneben haben die Mitarbeiter:innen den wissenschaftlichen Diskurs über sowjetische Repressionen maßgeblich vorangetrieben, mit internationalen Konferenzen, Workshops, Seminaren, Veröffentlichungen, wissenschaftlichen Publikationen wie auch Dokumentensammlungen. Neben der wissenschaftlichen Arbeit und der Sammlungstätigkeit setzten sich die verschiedenen lokalen Organisationen von Memorial für politische Aufklärung und für die Einhaltung der Menschenrechte vor Ort ein. Memorial sammelte Berichte über Menschenrechtsverletzungen, vor allem im Nordkaukasus, und veröffentlichte sie.

Bereits seit mindestens zehn Jahren wird die Arbeit von Memorial massiv eingeschränkt. 2012 wurde in Russland ein Agentengesetz verabschiedet, das 2020 noch einmal verschärft wurde: Damit wurden nicht nur Organisationen zu „ausländischen Agenten“ gemacht, die eine Finanzierung aus dem Ausland erhalten, sondern auch Einzelpersonen, die sich unter „ausländischem Einfluss“ befinden – eine willkürliche Festlegung. Ein eigenes staatliches Register wiederum erfasst diejenigen, die mit „ausländischen Agenten“ verbunden sind. Für die Betroffenen bedeutet diese Stigmatisierung, dass sie beispielsweise ihren Beruf in einer staatlichen Bildungseinrichtung nicht mehr ausüben können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte Mitte Juni 2022 entschieden, dass dieses Gesetz im Widerspruch zur Europäischen Konvention für Menschenrechte und Grundfreiheiten steht. Russland erkennt allerdings die Urteile des EGMR nicht an und ist im März 2022 aus dem Europarat ausgetreten. Am 28. Februar 2022 entschied das Oberste Gericht der Russländischen Föderation endgültig, die Organisation Memorial International und das Moskauer Menschenrechtszentrum von Memorial aufzulösen. Der Einspruch wurde abgelehnt und damit das Urteil vom 28. Dezember 2021 bestätigt.

Die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora arbeitete in der Vergangenheit in zahlreichen Projekten mit Memorial zusammen: Die 2012 eröffnete gemeinsame Gulag-Ausstellung machte mit den Stationen in Neuhardenberg, Weimar, Berlin, Leipzig und Schwerin die Sammlung von Memorial einem großen Publikum in Deutschland bekannt. Bereits bei der Ausstellung über NS-Zwangsarbeit hatte die Stiftung intensiv mit der Organisation Memorial zusammengearbeitet. Nicht zuletzt die 1997 eröffnete Ausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 in Buchenwald fußt auch auf der intensiven Zusammenarbeit mit Memorial. Die Organisation half Anfang der 1990er-Jahre, die Dokumente im Russischen Staatsarchiv zur Geschichte der Speziallager ausfindig zu machen. Dr. Irina Scherbakowa ist Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und begleitet jetzt auch wieder die Arbeit an der Erneuerung der Ausstellung über die Geschichte des Speziallagers. Derzeit erarbeiten Natalia Baryshnikova, Sergey Bondarenko, Andrei Petropavlov und Ivan Shemanov im Rahmen eines vom Museum Karlshorst koordinierten Projekts Bildungsmaterialien zu Biographien sowjetischer KZ-Häftlinge. Die Materialien sollen auf einer eigenen Homepage publiziert werden.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert u. a. auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

In einer großen Online-Datenbank hat Memorial International die Namen von rund 3 Millionen Opfern politischer Repression in der ehemaligen UdSSR erfasst. Sie stützt sich unter anderem auf regionale Gedenkbücher sowie Material aus staatlichen und lokalen Archiven. Die vollständige Datenbank ist auf Russisch abrufbar unter: https://base.memo.ru


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