Mittelbau-Dora

„Wohin gehen in diesem verlorenen Land?“

Sonderausstellung „Flucht“ in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Die Sonderausstellung beschäftigt sich mit Fluchten, die im Zusammenhang mit dem KZ Mittelbau-Dora standen, und beleuchtet anhand dieses Beispiels die Verstrickung der Deutschen in NS-Verbrechen.

Schwarz-Weiß-Foto: Ansicht des Lagerzauns und zweier Wachtürme des ehemaligen KZ Mittelbau-Dora
Blick vom Lagergefängnis auf den Lagerzaun und zwei Wachtürme des ehemaligen Konzentrationslagers Mittelbau-Dora, Oktober 1945.
©GARF Moskau

Am 11. April 2022, dem 77. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers, eröffnete die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora die Sonderausstellung „Flucht“. Fluchten aus dem NS-Lagersystem haben bislang auch nach Jahrzehnten der Aufarbeitung der NS-Verbrechen wenig Aufmerksamkeit erfahren, obwohl das Thema besonders deutlich zeigt, wie erschreckend eng die nationalsozialistischen Verbrechen mit dem Alltag der Deutschen verwoben waren. Die Ausstellung hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, nicht nur die Situation der Geflüchteten in den Blick zu nehmen, sondern auch die feindselige, regimekonforme Haltung der allermeisten Deutschen ihnen gegenüber.

Der erste Teil der Ausstellung behandelt die Wechselwirkung zwischen der Schärfe des NS-Repressionsapparats und Fluchten. Die Ausdehnung und Brutalität des nationalsozialistischen Lagersystems führten unweigerlich dazu, dass Betroffene ihm zu entrinnen versuchten. Manche flohen vor der Deportation in ein KZ. Andere versuchten aus der Zwangsarbeit zu fliehen und wurden nach ihrer Wiederergreifung in ein KZ eingewiesen. Auch Fluchtversuche aus den Konzentrationslagern selbst ereigneten sich häufig. Gerade die Ausweitung des KZ-Außenlagersystems in den letzten beiden Kriegsjahren, für die das KZ Mittelbau mit seinen 39 Außenlagern exemplarisch steht, begünstigte Fluchtversuche. Die SS wiederum war bestrebt, Fluchten zu verhindern und flüchtige Häftlinge wiederzuergreifen. Tatsächlich diente vieles, was heute sinnbildhaft für Konzentrationslager steht, unter anderem der Vereitelung von Fluchten: Elektrische Stacheldrahtzäune und Wachtürme gewährleisteten die schwere Passierbarkeit der Lagergrenzen; die gestreifte Häftlingskleidung machte Häftlinge als solche auch außerhalb der Lagergrenzen kenntlich. Wiederergriffene Häftlinge wurden zur Abschreckung vor ihren Mithäftlingen gedemütigt, mit Prügel bestraft und in einigen Fällen hingerichtet.

Der zweite Teil der Ausstellung widmet sich der existenziellen Entscheidung, vor der die Häftlinge kontinuierlich standen: Sollten sie im Lager ausharren, wo sie garantiert unter katastrophalen Lebensbedingungen und der Gewalt der SS würden leiden müssen, oder eine gefährliche Flucht wagen? Diese war die einzige Chance auf Freiheit. Doch den Häftlingen war bewusst, dass eine Wiederergreifung äußerst wahrscheinlich war und noch schlechtere Behandlung als zuvor nach sich zog. Längerfristig erfolgreiche Fluchten aus dem KZ Mittelbau-Dora sind tatsächlich nur aus der Zeit der Räumung belegt. Die Zahl der Fluchten stieg während der Räumungstransporte drastisch an. Häftlinge nutzten das Chaos, um sich den entkräftenden Todesmärschen und den befürchteten Massakern der letzten Minute zu entziehen. Die meisten Häftlinge jedoch unternahmen nie einen Fluchtversuch. Sie wägten die Risiken ab und entschieden sich dafür, im Lager zu bleiben. Die Ausstellung ist bemüht auch die Perspektive dieser stillen Mehrheit abzubilden.

Ausstellungsansicht: Infokästen an Holzbalken
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Die Sonderausstellung „Flucht“ in der ehemaligen Feuerwache der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
Ausstellungsansicht: Info- und Archivmaterial
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Der dritte und letzte Teil der Ausstellung setzt sich mit dem Verhalten der lokalen Bevölkerung gegenüber flüchtigen KZ-Häftlingen auseinander. Häufig beteiligte sich die Zivilbevölkerung aktiv an der Fahndung nach geflohenen Häftlingen. Vor allem die Landwacht, eine vornehmlich aus älteren Männern gebildete Hilfspolizei, ging dabei durchaus gewaltsam vor. Mitunter erschoss sie sogar Häftlinge. Auch individuelle Zivilist:innen, die so oft wegschauten, wenn Unrecht begangen wurde, sahen äußerst selten weg, wenn sie flüchtige Häftlinge bemerkten. Stattdessen lieferten sie diese der SS aus. Diesem feindlichen Verhalten gegenüber geflohenen Häftlingen lag ein von der NS-Propaganda verbreiteter Sicherheitsdiskurs, der KZ-Häftlinge und insbesondere entflohene Häftlinge als Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellte, zugrunde. Zeitungen brachten neben Fahndungsaufrufen reißerische Artikel über Einbrüche und Morde, die Flüchtige angeblich bei dem Versuch, sich Zivilkleidung und Nahrungsmittel zu beschaffen, begangen hatten. Die Bevölkerung nahm dieses Narrativ bereitwillig an.

Dass diese Anpassung ans NS-Regime trotz dessen Autoritarismus keinesfalls unvermeidlich war, macht ein Bericht des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamts aus dem Jahr 1944 deutlich. In den besetzten Gebieten, so der Bericht, ließ die Bevölkerung „bei irgendwelchen Flucht- oder Sabotageakten den KZ-Häftlingen nach den bisher gemachten Erfahrungen jede nur mögliche Hilfe angedeihen“.1 Dabei waren die Menschen im besetzten Europa rechtloser als Deutsche. Die Sonderausstellung „Flucht“ beschäftigt sich zwar ausschließlich mit Fluchten, die im Zusammenhang mit dem KZ Mittelbau-Dora stehen, und daher mit dem Verhalten der im Umland dieses KZ-Komplexes lebenden Deutschen. Doch der zitierte Bericht über das Verhalten der Bevölkerung in den besetzten Gebieten veranschaulicht, dass ebendieses regimekonforme Verhalten keine allein durch Druck und Gefährdung bedingte Zwangsläufigkeit war.

„Durch den Stacheldraht zu kommen, ist trotz der zahlreichen Posten noch relativ leicht. Aber wohin gehen in der gestreiften Kluft, in diesem verlorenen Land, ohne Sprachkenntnisse, ohne einen Pfennig Geld, praktisch ohne brauchbare Schuhe und ohne Verpflegung?“

Aimé Bonifas

1946, ehemaliger Häftling des KZ Mittelbau-Dora

Es halten sich jedoch weiterhin entlastende Narrative, welche die Handlungsspielräume der Deutschen herunterspielen und zwischen einer überschaubaren Anzahl von Täter:innen und der vermeintlich unschuldigen Masse unterscheiden. Dabei belegt gerade das Thema Flucht, dass Deutsche meistens im Sinne des NS-Systems handelten, wenn sie gezwungen waren gegenüber NS-Massenverbrechen Position zu beziehen. Dieses Mitmachen der Deutschen macht NS-Verbrechen zu Gesellschaftsverbrechen. Die Einsicht, dass gesellschaftliche Beteiligung an NS-Verbrechen diese erst ermöglichte, soll das Bewusstsein der Besucher:innen für die Tragweite individuellen Handelns schärfen. Es ist daher die Hoffnung der Gedenkstätte, dass die Sonderausstellung „Flucht“ weiterhin auf breites Interesse stoßen wird. Die Ausstellung wird auch das Jahr 2023 hindurch in der ehemaligen Feuerwache der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora zu sehen sein.

Die Historikerin Luisa Hulsrøj war bis 2023 als Wissenschaftliche Volontärin an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora tätig und an der Kuration der Sonderausstellung „Flucht“ beteiligt.

Die Begleitbroschüre zur Ausstellung ist im Web-Shop der Stiftung und im Buchhandel erhältlich.

Fußnoten

1 Jägerstab-Schnellbericht vom 8.6.1944, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, R 3/1756, Bl. 51.


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