Buchenwald

Zwangs-gemeinschaftliche Verflechtungen. Koloniale Kontexte Buchenwalds

Die Welt des 20. Jahrhunderts war eine kolonial geprägte Welt. Auch in den nazideutschen Konzentrationslagern befanden sich Menschen aus den damaligen europäischen Kolonien: Kolonisierende und viel mehr noch Kolonisierte. Mindestens 1.000 Menschen mit kolonialen Erfahrungen gerieten in das System des Konzentrationslagers Buchenwald, allein etwa 300 Männer und Frauen aus Algerien waren in Buchenwald und seinen Außenlagern. Lebensgeschichtliche Spuren dieser Menschen weisen auf die Vielheit von Völkern und Regionen hin, die von europäischen Staaten wie Frankreich, Großbritannien oder den Niederlanden beherrscht wurden. In den nächsten Ausgaben der „Reflexionen“ sollen – parallel zu einem laufenden Rechercheprojekt und gegliedert nach ehemaligen Kolonien – Fragmente kolonialer Geschichte in ihrem Bezug zur Geschichte Buchenwalds vorgestellt werden. Wir beginnen mit Personen, die in Niederländisch-Indien agierten. Im nächsten Heft: Baba Diallo aus Französisch-Westafrika.

Die Niederlande waren bis unmittelbar vor Beginn des Zweiten Weltkriegs mit der bevölkerungsreichen und enorm einträglichen Kolonie Niederländisch-Indien – nach Großbritannien und Frankreich – die drittgrößte europäische Kolonialmacht. Doch mit der Westoffensive Nazideutschlands wandelten sich nicht nur im sogenannten Mutterland bald die Verhältnisse.

Unmittelbar nach der Besetzung der Niederlande im Mai 1940 internierten niederländische Behörden deutsche Staatsbürger:innen, die sich in Niederländisch-Indien aufhielten. Als Vergeltung dafür nahmen deutsche Besatzungsbehörden zwei Monate später 230 Niederländer:innen in Geiselhaft. Die Frauen brachte man in das Konzentrationslager Ravensbrück, die Männer nach Buchenwald. Neben einigen Angestellten des niederländischen Königshauses von Königin Wilhelmina, die nach England geflohen war, fanden sich so Menschen, die als Beamte in der Kolonie arbeiteten, im Konzentrationslager bei Weimar wieder: Verwaltungsangestellte, Polizisten, Wissenschaftler und Lehrer, die gerade ihren Urlaub in den Niederlanden verbracht hatten, wie der Jurist und langjährige Kolonialverwaltungsbeamte in Niederländisch-Indien Johann Logemann. Anfang Oktober 1940 kamen weitere 116 Geiseln hinzu: namhafte Politiker, hohe Staatsbedienstete, prominente Geistliche, Journalisten, Künstler aus den Niederlanden, darunter der Vorsitzende der Fraktion der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Willem Drees.

Untergebracht waren die niederländischen Geiseln fast ein Jahr lang in zwei extra mit Stacheldraht eingezäunten Steinbaracken, in Block 41 und in Block 46 – der sogenannten Goldenen Ecke. Die Geiseln wurden innerhalb des Lagers wie Kriegsgefangene behandelt. Sie mussten keine Zwangsarbeit leisten und konnten über das Internationale Rote Kreuz Post sowie Pakete empfangen. Willem Drees war sich der Absurdität der privilegierten Stellung der Internierten in der Goldenen Ecke wohl bewusst. In seinen Memoiren schrieb er über diese „Enklave der Bevorzugten“: „Unser Leben vollzog sich vor dem düsteren Hintergrund des Elends der anderen Gefangenen, denen gegenüber die Deutschen alles für erlaubt hielten.“1 Die ungewöhnlichen Bedingungen ihrer Haft erlaubten es den niederländischen Geiseln, für ihre Gruppe Bildungs- und Kulturprogramme zu organisieren – die, wie Drees sie nannte, „Buchenwalder Volksuniversität“: „Logemann gab ‚niederländisch-indisches Staatsrecht‘, ter Haar ‚niederländisch-indisches Gewohnheitsrecht‘, Felderhof ‚niederländisch-indisches Strafrecht‘.“2

Schwarz-Weiß-Foto: Johann Logemann vor einem Mikrofon sitzend
Im Radio: Johann Logemann über die Situation in Niederländisch-Indien 1945.

Mit der kolonialen Rechtsprechung thematisierte die „Buchenwalder Volksuniversität“ nichts weniger als eine der zentralen Hoheitsfunktionen, die Vertreter der Kolonialmacht neben Besteuerung und Polizei- sowie Militärgewalt zur Interessensicherung und wirtschaftlichen Ausbeutung in der Kolonie ausübten. Europäisches Mutterland und Kolonie blieben dabei getrennte Rechtsgebiete, koloniales Recht unterschied in eines für Europäer und eines für Einheimische. Der niederländische Publizist Sytze van der Zee konnte in den späten 1970er-Jahren – etwa drei Jahrzehnte nachdem Indonesien seine Unabhängigkeit erkämpft hatte – noch einige der ehemaligen Geiseln über die in Buchenwald geführten Diskussionen befragen. In seinem Buch „De gouden hoek van Buchenwald“ hielt er fest:

„In Buchenwald wurde auch die Situation in Niederländisch-Indien, dem späteren Indonesien, eingehend besprochen, obwohl die Urlauber und die niederländischen Politiker meist völlig aneinander vorbeiredeten. ‚Wir mussten zu unserer Überraschung und auch zu unserem Leidwesen feststellen‘, so Rupke [der Beamte Christiaan Rupke; Anmerkung des Verfassers], ‚dass die niederländischen Politiker unglaublich wenig über Niederländisch-Ostindien wussten. Man konnte mit diesen Leuten kein vernünftiges Gespräch über die dortige Situation führen, denn sie hatten überhaupt keine Ahnung. Es war zum Beispiel unmöglich, einem Mitglied der Zweiten Kammer das Verhältnis zwischen der europäischen und der dortigen inländischen Verwaltung begreiflich zu machen.’ […] Auch Professor Drewes, vor dem Krieg Professor für muslimisches Recht, Javanisch und Malaiisch an der Juristischen Hochschule von Batavia (dem späteren Jakarta), hat nicht viel Vertrauen in das Verständnis und das Urteilsvermögen der meisten niederländischen Politiker. Seiner Meinung nach waren die Politiker unter den Geiseln bei der Beurteilung der Situation in Niederländisch-Indien viel konservativer als die Urlauber. […] Kopfschüttelnd meint Prof. Drewes: ‚Sie konnten nicht begreifen, dass dort einige Veränderungen im Gange waren. Für sie waren die einheimischen Nationalisten Aufständische und Rebellen, und man konnte reden, soviel man wollte, es ging einfach nicht in ihren Schädel, dass die Forderungen dieser Menschen rechtmäßig waren. Im Allgemeinen waren die niederländischen Politiker völlig rückständig und dachten entsetzlich legalistisch.“3

Die Kolonialbeamten und Politiker hatten bei ihren Debatten über das Verhältnis von Mutterland und Kolonie die jüngeren antikolonialen Massenbewegungen auf dem indonesischen Archipel vor Augen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte es dort drei Versuche gegeben, den Kolonialismus zu bekämpfen: durch den politischen Islam in den 1910er-, den Kommunismus in den 1920er- und den Nationalismus in den 1930er-Jahren. „Der erste Versuch trug zur Entstehung des Volksraads bei, einer Art Protoparlament; auf den zweiten reagierte die Kolonialmacht mit zahlreichen Deportationen, den dritten unterdrückte sie mit polizeistaatlichen Methoden.“4 Massive Veränderungen in Niederländisch-Indien zeichneten sich also ab, über die die in der Goldenen Ecke von Buchenwald Internierten debattierten.

Schwarz-Weiß-Foto: Willem Drees steigt aus dem Flugzeug
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Zurück aus Indonesien 1949: Willem Drees.
Schwarz-Weiß-Foto: Familie Joekes, hintereinanderstehend
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In Denekamp 1946: Familie Joekes, Erster von links: Dolf Joekes, Dritter von links: Adolf Joekes.
Schwarz-Weiß-Fotografie: Josef und Suzanne mit Kind Lydia Lehrer
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Nahe Bandung 1940: Josef, Lydia und Suzanne Lehrer.

Insgesamt waren etwa 400 niederländische Geiseln in Buchenwald. Trotz ihrer Bevorzugung starben im Winter und Frühjahr 1940/41 zwölf Niederländer infolge unzureichender medizinischer Versorgung, darunter der Jurist Barend ter Haar. Einige Ältere wurden bald entlassen, die meisten aber im November 1941 in Internierungslager in den Niederlanden verlegt – Willem Drees wegen Krankheit bereits einen Monat vorher. In der Nachkriegszeit wurde er Ministerpräsident der Niederlande. In seine Amtszeit fiel dann auch die kurzlebige Niederländisch-Indonesische Union, durch die die niederländische Regierung versuchte, ihre ehemalige Kolonie auch über die Gewährung der Unabhängigkeit 1949 hinaus konföderativ weiter an die Niederlande zu binden und sich die Kontrolle über Sicherheits- und Wirtschaftspolitik Indonesiens zu sichern.

Doch auch jenseits der Gefangenen in der Goldenen Ecke kamen Menschen aus Niederländisch-Indien nach Buchenwald. Einige in der Kolonie Geborene und Aufgewachsene gerieten drei Jahre nach den niederländischen Geiseln – Japan hatte derweil mit seiner Armee die ganze Kolonie erobert und ein strenges Willkürregime errichtet – zumeist als Résistance-Angehörige nach Buchenwald. Wie Anne van den Broek d‘Obrenan, geboren 1887 auf Java. Sie musste im Buchenwalder Frauen-Außenlager Torgau Zwangsarbeit leisten und verstarb Ende Dezember 1944 auf dem Weg nach Ravensbrück. Oder Adolf Joekes, geboren 1885 auf Sumatra. Der Jurist, Politiker und Experte für Niederländisch-Ostindien war seit Ende April 1944 als „Polit. Holländer“ in Buchenwald inhaftiert, sein Sohn Dolf Joekes, geboren 1912 auf Java, befand sich bereits seit Mitte Dezember 1943 in Buchenwald. Andere wiederum waren noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs nach ihrer Haft in Buchenwald als von den Nazis verfolgte Juden aus Europa in diese Kolonie geflüchtet. So Josef Lehrer. Als „Schutzhäftling“ war der Wiener Arzt nach dem sogenannten Anschluss Österreichs von Ende September 1938 an ein halbes Jahr lang in Buchenwald inhaftiert gewesen.5

In den sehr verschiedenen Lebensgeschichten nach Buchenwald verschleppter Menschen scheint also die damalige koloniale Welt auf. Und so sehr sich die Erfahrungen dieser Menschen unterscheiden, so unterschiedlich gestalten sich auch die erinnerungskulturellen Diskurse, die sich auf sie beziehen. Dazu gehört, dass die Erzählungen immer noch mehr durch die Perspektiven der Kolonisierenden geprägt werden als durch die derjenigen, die Kolonialismus erlitten. Eine Misere, die in den folgenden Beiträgen kaum aufgelöst werden kann – der wir uns aber dennoch stellen wollen.

Ronald Hirte ist Referent der Bildungsabteilung der Gedenkstätte Buchenwald.

Fußnoten

1 Zitiert nach: Willem Drees und die niederländischen Geiseln im Konzentrationslager Buchenwald (1999), in: Presse- und Kulturabteilung der Königlich-Niederländischen Botschaft in Bonn (Hrsg.): Niederländer und Weimar, Bad Honnef, S. 128–144, hier S. 138.

2 Ebenda, S. 133.

3 Ebenda, S. 134.

4 van Reybrouck, David (2022): Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt, Berlin, S. 120.

5 Vgl. Lehrer, Shoshanna (2020): “Wozu bin ich denn in der ganzen Welt herumspaziert?!“ in: Hirte, Ronald/von Klinggräff, Fritz: Israel, Fragen nach / Europa. Gespräche über einen fernen, nahen Kontinent, Weimar, S. 169–180.


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