Die Freude war groß: Im März dieses Jahres erhielt die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora eine E-Mail von den Nachfahren des inzwischen verstorbenen Dora-Überlebenden Pierre Bleton. Bleton hatte 1951 seine Erinnerungen an seine KZ-Haft niedergeschrieben, 1953 waren sie auf Französisch als Le temps du purgatoire erschienen. Da der Erinnerungsbericht nie vollständig auf Deutsch erschienen und auf Französisch längst vergriffen ist, besaß die Gedenkstätte jedoch bislang keine Ausgabe. Nun aber hatten der Sohn des Überlebenden, Dominique Bleton, und dessen Schwiegertochter, Elisa Hema, die Memoiren abgetippt. Diese Datei des Textes stellten sie der Gedenkstätte jetzt zur Verfügung.
Mittelbau-Dora
Pierre Bleton hatte sich 1942 im Alter von 18 Jahren der französischen Résistance angeschlossen. 1943 wurde er denunziert und verhaftet. Nach sechs Monaten im Gefängnis von Fresnes wurde er nach Deutschland deportiert. Dort war er zunächst im gefürchteten Gestapo-Lager Neue Bremm und dann in den Konzentrationslagern Porta Westphalica, Neuengamme und Groß-Rosen inhaftiert. Nach einem fünftägigen Räumungstransport aus letzterem Lager kam er schließlich am 12. Februar 1945 in Mittelbau-Dora an. Er war zu diesem Zeitpunkt bereits überaus ausgezehrt, litt an einer Darm- und Blasenentzündung und an einer offenen Wunde am Rücken. Aufgrund seines schlechten gesundheitlichen Zustandes musste Bleton seine Zeit im Hauptlager Dora in der Schonungsbaracke und später im Krankenrevier verbringen. Sein Erinnerungsbericht beschreibt eindringlich die Zustände dort und seine Gefühlslage: Bleton schämte sich seiner Darmentzündung und dem damit einhergehenden Kontrollverlust über seine Ausscheidungen zutiefst. Gleichzeitig versuchte er, die Hoffnung auf das Überleben und die nahende Befreiung nicht aufzugeben. Damit ging die Weigerung einher, sich einzugestehen, wie fürchterlich sein Gesundheitszustand wirklich war. Häftlingsärzte mühten sich, seine offene Wunde mit Pflastern zu behandeln. Sie verschrieben ihm und anderen beliebige der wenigen vorhandenen Medikamente, um die Kranken überhaupt im Krankenrevier behalten zu dürfen und ihnen so eine Chance auf Erholung und Genesung geben zu können. Trotzdem fanden viele im Krankenrevier den Tod. Ein Mann, mit dem er sich ein Bett teilen musste, starb, während Bleton neben ihm lag.
Am 18. März wurde Pierre Bleton in die Boelcke-Kaserne, das im Januar 1945 gegründete Sterbelager des Lagerkomplexes Mittelbau, verlegt. Dort waren die Häftlinge sich selbst überlassen, an medizinischer Versorgung mangelte es gänzlich. Diese Vernachlässigung empfand Bleton allerdings nicht als unangenehm: Er genoss das Ausbleiben der Schikanen. Selbst der Hunger wurde dadurch erträglicher, dass man den ganzen Tag ungestört im Bett liegen bleiben konnte. Freundschaft schloss Bleton in der Boelcke-Kaserne schnell mit seinem Bettgefährten Henri, einem französischen Juden, der mit einem Räumungstransport aus Auschwitz nach Mittelbau-Dora gekommen war. Von Henri hörte er zum ersten Mal vom Holocaust und dessen Ausmaß.
Am 3. und 4. April bombardierte die britische Luftwaffe die Stadt Nordhausen. Da den Briten nicht bekannt war, dass die Boelcke-Kaserne nicht mehr von der Wehrmacht genutzt wurde, war auch sie das Ziel der Bomben. Bleton und sein Freund erlebten den Luftangriff völlig ungeschützt in ihrem Stockbett im ersten Stock der Kaserne. Bei der zweiten Welle der Bombardierung versuchten die beiden, sich etwas mehr Schutz zu verschaffen – indem sie eine Stockbettetage tiefer kletterten und sich die Decke über den Kopf zogen. Sie kamen unverletzt davon, doch ihr Bett war von Glassplittern übersät. In anderen Teilen der Kaserne rissen die Bomben Löcher in Dach und Boden. Aufgrund der Bombardierungen hatte die SS die Kaserne fluchtartig verlassen. Damit waren die Häftlinge ihre Bewacher zwar los, doch frei waren sie dennoch nicht: Außerhalb des Kasernengeländes wütete noch der Volkssturm. Deshalb, so beschreibt es Bleton, blieben die meisten Häftlinge in der Kaserne und organisierten ihr Leben fortan selbst. Sie bedienten sich an den zurückgelassenen Vorräten der SS und schafften unter der Anleitung eines Arztes Leichen aus der Kaserne, da dieser davor warnte, die im Frühlingswetter schnell verwesenden Leichname mitten unter den Gefangenen zu lassen. Trotz aller Bemühungen blieb das Leben in der Boelcke-Kaserne allerdings leidvoll und unhygienisch: Wasser wurde schnell ein kostbares Gut und weite Teile des Bodens waren mit Exkrementen bedeckt.
Schließlich trafen am 11. April 1945 die lang ersehnten amerikanischen Befreier ein. Schlagartig musste sich Bleton bemühen, sich wieder, wie er es ausdrückt, zivilisiert zu verhalten und nicht so ungeniert mit dem Gestank, dem Dreck und den Leichen umzugehen. Bald schon wurden er und andere Häftlinge in beschlagnahmten Villen in Nordhausen untergebracht. Dort nahmen sie sich Essen, Kleidung und einige kleine Gebrauchsgegenstände, aber ansonsten, wie Pierre Bleton betont, respektierten sie die Rechte der eigentlichen Besitzer. Lebensmittel besorgten sich die ehemaligen Häftlinge zusätzlich in der Nordhäuser Innenstadt, wobei Bleton sich erstmals mit der Frage konfrontiert sah, wie er mit Deutschen umgehen sollte. Sollte er sich bei Geschäftsinhaber:innen, die ihm auf seine Bitte hin Lebensmittel überließen, bedanken, obwohl die Deutschen doch jahrelang die Präsenz ausgehungerter Häftlinge in ihren Städten hingenommen hatten? Er tat es reflexartig. Doch als Nordhäuser:innen an die Tür der Villa klopften, in der er und seine Freunde einquartiert worden waren, um ihnen Essen vorbeizubringen, schlugen Bleton und seine Gefährten ihnen die Tür vor der Nase zu. Sie wollten keine unaufgeforderten, wie es ihnen schien selbstgefälligen Almosen von Mitgliedern der Tätergesellschaft.
Nach etwa einer Woche sollten die ehemaligen Häftlinge zur Pflege und zur Abwicklung der Repatriierung wieder nach Dora gebracht werden. Pierre Bleton und sein Freund Henri lehnten diese Rückkehr ins Lager ab. Sie wollten die Repatriierung in der ihnen zugewiesenen Villa abwarten. Die Deutschen, befanden sie, könnten ruhig auch noch ein, zwei Wochen länger auf ihre Häuser verzichten. Als sie sich schließlich doch zurück ins Lager begeben mussten, fühlte sich Bleton von den Erinnerungen an seine Ankunft in Dora und an seinen damaligen miserablen Gesundheitszustand überwältigt. Gemeinsam mit Henri und einem weiteren französischen Freund ging er daher eigenmächtig zur Sammelstation für Flüge, die sich im einstigen SS-Bereich des Lagers befand. Mit einem Flugzeug, das eigentlich Kriegsgefangenen vorbehalten war, kehrte Pierre Bleton am nächsten Tag nach Paris zurück.
Seinen Erinnerungsbericht verfasste Bleton sechs Jahre nach seiner Rückkehr. Er ist insofern einzigartig, als er als einer der wenigen Zeugnis über die Zustände in der Boelcke-Kaserne und über die Zeit direkt nach der Befreiung in Nordhausen ablegt. Über beides gibt es sonst kaum Erinnerungsberichte. In der Boelcke-Kaserne war die Sterblichkeit hoch. Es waren die Schwerkranken und Sterbenden, die dort – und vereinzelt in den anderen Lagern des Lagerkomplexes Mittelbau – zurückgelassen worden waren. Alle anderen Häftlinge waren Anfang April auf Räumungstransporte in Richtung anderer Konzentrationslager geschickt worden und wurden daher andernorts befreit. Da gerade die Boelcke-Kaserne emblematisch für die mörderischen Zustände im KZ-Komplex Mittelbau Anfang des Jahres 1945 steht und das Verhältnis zwischen ehemaligen Häftlingen und Nordhäuser:innen von jeher für Interesse und Kontroversen sorgt, ist Bletons Bericht ein für die Arbeit der Gedenkstätte äußerst wertvoller Neuzugang, den die Stiftung interessierten Leser:innen gerne zugänglich machen möchte. Eine Übersetzung und Veröffentlichung von „Le temps du purgatoire“ ist daher geplant.
Luisa Hulsrøj ist wissenschaftliche Volontärin der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.