Nach Momenten der Unsicherheit durch die Schließung der Gedenkstätte beim ersten Lockdown im März 2020 kam die Frage auf, wie wir Gruppen entgegenkommen, die nicht mehr anreisen können, aber sich mit Themen des Nationalsozialismus im Allgemeinen und des Systems der Konzentrationslager im Besonderen auseinandersetzen wollen. Im Kollegium der Bildungsabteilung waren wir uns schnell einig, was wir nicht möchten: den Ort in Form von digitalen Besuchen zu simulieren und live oder aufgezeichnet Rundgänge in die Wohn- und Jugendzimmer unserer Gruppen zu bringen. Denn was wäre der Mehrwert einer eventuell mit Handykamera aufgezeichneten Erzählung entlang der Überreste des ehemaligen KZ gegenüber den im Netz zahlreich verbreiteten Dokumentationen, den professionell aufgenommenen Bildern und Filmen? Die einstimmige Meinung war, dass die gemeinsamen Erfahrungen, die Menschen am historischen Ort machen und reflektieren, digital nicht simuliert werden können. Die Herausforderung war nun, die Grundsätze der Bildungsarbeit der Gedenkstätte Buchenwald dennoch zum Teil in digitale Vermittlungsformate zu übersetzen und diesen gerecht zu werden, nämlich: zu begreifen, sich differenziert mit komplexen Themen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu entwickeln und vor allem darüber aktiv zu diskutieren bzw. sich zu positionieren. Unser Kompromiss und Anspruch zugleich waren, neugierig auf den Ort zu machen, Fragen zu generieren und für einen Besuch in einer Zeit nach der Pandemie zu animieren.
Buchenwald
Die technische Umsetzung der angedachten Online-Seminare stellte uns vor neue Aufgaben, denn weder die Gedenkstätte noch die Schulen konnten auf einen Erfahrungsschatz in digitalen Begegnungen zurückgreifen. Wir wurden von externen Fachleuten technisch geschult, haben uns mit datenschutzrechtlichen Fragen auseinandergesetzt und über verschiedene Plattformen nachgedacht. Die Entscheidung fiel auf BigBlueButton, denn diese Meetingplattform versicherte Datenschutzkonformität. Anders als bei anderen Videokonferenzplattformen marktführender Unternehmen stellte die eher junge Software BigBlueButton einige Betriebssysteme vor technische Herausforderungen. Probleme bei der Ton- und Bildeinwahl sowie fehlende Leistungsstärke der individuellen Internetverbindung von Teilnehmer:innen waren Faktoren, die erste Online-Veranstaltungen leider prägten. Die entsprechenden Rückfragen „Könnt ihr mich hören?“ oder „Bin ich zu sehen?“ begegneten uns öfters. Im Laufe der vergangenen Monate haben wir festgestellt, dass die aktuellen Updates BigBlueButton bedienungsfreundlicher gemacht haben. Dies hat unsere Arbeit erleichtert. Die ersten inhaltlichen Gedanken formierten sich um die aktuelle Krise, die im Zusammenhang mit der Pandemie entstanden ist. Wir beschäftigten uns mit den gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Dimensionen der Krise bzw. mit den dadurch entstandenen Ausgrenzungsmechanismen1 sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart. Die spannende und intensive Recherche sollte letztendlich zu einem dreitägigen Online-Seminar führen, mit dem Titel: „Infektionskrankheiten in Vergangenheit und Gegenwart mit Fokus auf den Nationalsozialismus und das Konzentrationslager Buchenwald“.
Es kam allerdings auch bald die Erkenntnis, dass der inhaltliche Anspruch dieses Formates für manche Gruppen möglicherweise überfordernd bzw. zu speziell sein könnte. Wir richteten daher den Blick auf Vermittlungsformate, die uns in der Vergangenheit in den analogen Bildungsprogrammen sowohl einen niederschwelligen als auch komplexeren Zugang ermöglichten: Wir setzten den Schwerpunkt auf eine biografische Annäherung. Was wir hiermit vermitteln wollten, war grundlegendes Wissen über die Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald und die Formierung der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ durch Ausgrenzung und Gewalt. Des Weiteren sollte die enge Verflechtung der Konzentrationslager mit der NS-Gesellschaft herausgearbeitet und verdeutlicht werden. Mittelpunkt des Online-Seminars wurde somit eine vielfältige Auswahl der Lebensgeschichten von Betroffenen und Akteur:innen des Konzentrationslagersystems mit dem Schwerpunkt auf Buchenwald und dessen Außenlager. Etwa 50 der 85 Biografien der historischen Dauerausstellung „Buchenwald. Ausgrenzung und Gewalt 1937 bis 1945“, die als Audiotakes auf der Webseite der Gedenkstätte Buchenwald seit Ende 2020 zu hören sind, dienten uns als wichtige Quellen. Die persönlichen Erfahrungen von Menschen unterschiedlicher Herkunft im Kontext der nationalsozialistischen Konzentrationslager, eingebettet in die Darstellung und kritische Analyse historischer Ereignisse, sollten den Kern des Seminars bilden.
Es entstand das Online-Seminar: Das Lager und seine Menschen – biografische Annäherungen an die Geschichte Buchenwalds. Das konzeptionelle Ziel des drei- bis vierstündigen Programms war ein möglichst interaktives und die Teilnehmenden einbeziehendes Online-Seminar. Eine Kombination aus asynchronen Vorbereitungsrecherchen, Gruppengesprächen und synchronen Diskussionsrunden, partizipativen Methoden und Kleingruppenarbeiten sollte eine möglichst abwechslungsreiche Herangehensweise bilden. Das Verstehen und kritische Hinterfragen der Formierung der NS-„Volksgemeinschaft“ war der Ausgangspunkt für die weitere Annäherung an die Lagergeschichte. Eine dialogisch angelegte kurze Inputphase mit Fotografien, Dokumenten und Zeichnungen aus der Zeit des Konzentrationslagers sowie historischen Luftbildern und aktuellen Drohnenaufnahmen geht der Kleingruppenarbeit mit Biografien voraus. Den Abschluss des Online-Seminars bildet eine Auswertung der Kleingruppendiskussionen sowie eine Reflexion zu den Inhalten des Programms und zur gegenwärtigen Relevanz der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus.
Das Online-Seminar ist für eine Gruppe von bis zu 15 Teilnehmenden konzipiert, denn ein Seminarcharakter, in dem alle „im Blick“ gehalten werden können, war uns sehr wichtig. Die Durchführung der Veranstaltung kann sowohl für Gruppen im Klassenzimmer als auch für Einzelne im Homeschooling ermöglicht werden. Zwei Teamende in abwechselnden Rollen und Verantwortlichkeiten (technische Einführung und Begleitung, Moderieren des Chatverlaufs, Diskussionsführung, Einrichten der Breakout-Rooms bzw. das inhaltliche Befüllen dieser) führen die Gruppe durch das digitale Programm. Die Auftaktveranstaltung fand am 27. Januar 2021 mit einer Gruppe Auszubildender der Daimler AG statt. Im Rahmen des Azubi-Programms von Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) wollten die Auszubildenden ursprünglich ein Vorbereitungsseminar in Berlin wahrnehmen. Anschließend hätten sie deutsche ASF-Freiwillige in verschiedenen Ländern der Welt besucht und begleitet. Da diese internationalen Programme pandemiebedingt unmöglich waren, bot unser Online-Angebot eine Auseinandersetzungsmöglichkeit. Im Laufe des Frühjahres bis zur Wiedereröffnung der Gedenkstätte Buchenwald folgten mehrere Online-Seminare sowohl als eintägiges wie auch zweitägiges Programm.
Die Resonanz sowie die von uns durchgeführte Evaluation waren durchweg positiv. Doch neben den teilweise erheblichen technischen Problemen, die oft sehr kreativ von den Teilnehmenden angegangen wurden, standen wir vor der unbefriedigenden Erkenntnis, dass trotz regem Methodenwechsel und partizipativen Elementen des Programms die Kommunikation schwieriger verlaufen ist, als wir es von Face-to-face-Formaten gewohnt sind. Die gedankenvolle oder ratlose Stille einer Gruppe wirkt in digitalen Räumen zuweilen besonders drückend. Gegenüber dem analogen Gespräch und Dialog miteinander, in dem es manchmal ein Wort, eine Geste oder gar nur einen Gesichtsausdruck braucht, um Gedanken und Befindlichkeiten zu äußern, wirkt ein digitaler Raum distanzierend: Zuhören, Mitdenken, das Mikrofon anstellen, in den Raum sprechen und dabei doch eher mit dem Computer oder dem Headset reden, mit der Sorge, dabei jemandem ins Wort zu fallen ... All das muss innerhalb weniger Augenblicke geschehen. Auch heute noch stellt dies viele Menschen vor Herausforderungen.
Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass die Begegnung im digitalen Raum wesentlich anstrengender ist als in der analogen Welt. Zeitliche und inhaltliche Reduktion gepaart mit mehreren Pausen sowie Energizern sind hier der Schlüssel für eine gelungene und für beide Seiten zufriedenstellende Veranstaltung. Während wir im analogen Seminar meist eine große Auswahl an Materialien, Dokumenten und Bildern anbieten, die interessengeleitet ausgewählt werden können, müssen wir im Digitalen eine stärkere Vorauswahl treffen: so z. B. pro Kleingruppe zwei Biografien zur Auswahl anbieten oder nur zwei historische Bilder respektive Zeichnungen zur Analyse vorstellen. Die Sorge, Teilnehmende so einzugrenzen, war unbegründet, denn auf diese Weise – so ihr Feedback – konnten sie besser fokussieren. Die digitalen Vorteile des Heranzoomens (im Falle der Bilder) lassen sie dabei Details erkennen, die das bloße Auge normalerweise übersieht.
Ideen zu weiteren inhaltlichen Schwerpunkten sind entstanden und zum Teil bereits im Analogen vorhanden: Beschäftigung mit Fundstücken, Kunst, Musik im Lager, weitere Biografien zu Täterschaft und gesellschaftlicher Beteiligung etc., unter anderem unterstützt auch durch Film- bzw. Drohnenaufnahmen. Im Laufe des Frühjahres und Sommers 2021 sind die Anfragen für Online-Seminare deutlich zurückgegangen, die Gruppen bevorzugen wieder die Auseinandersetzung am historischen Ort. Gleichwohl ist der Fortgang der Pandemie ungewiss. Wir haben daher auch freien Mitarbeiter:innen die Möglichkeit gegeben, das Seminar kennenzulernen und sich fürs Teamen eines digitalen Seminars zu qualifizieren.
Ein ein- respektive dreitägiges Online-Seminar für Multiplikator:innen wird unser digitales Bildungsangebot in der nahen Zukunft erweitern. Auch für internationale Gruppen wäre ein Online-Seminar gewiss sehr attraktiv und von besonderer Bedeutung: Die Welt digital zusammenzuführen und über Ländergrenzen hinweg Erkenntnisse zu historischen Zusammenhängen von aktuellen globalen Themen zu diskutieren, wie Menschenrechte, Aufklärung gegen Rassismus und Antisemitismus, Rechte von Minderheiten sowie die Macht von Propaganda oder die Bedeutung von Zivilcourage in einer demokratischen Gesellschaft – all das kann nun nur einen Klick entfernt sein. Sollte die pandemische Lage bald vorbei sein, so dass Begegnungen vor Ort unter gewohnten Bedingungen möglich sind, wünschen wir uns, dass diese Online-Bildungskonzepte nicht in der digitalen Ablage verschwinden, sondern auch als Vor- und Nachbereitung eines Seminars in der Gedenkstätte zusätzlich gebucht werden. Vereinzelt geschieht dies bereits. Den historischen Ort neben der unersetzbaren persönlichen Begegnung mit zeitgemäßen digitalen Formaten zu kombinieren, erschließt neue Möglichkeiten einer nachhaltigeren Auseinandersetzung mit der Geschichte.
Lisa Rethmeier und Zsuzsanna Berger-Nagy arbeiten als Bildungsreferentinnen an der Gedenkstätte Buchenwald.
Die Online-Bildungsformate der Gedenkstätte Buchenwald bieten eine Kombination aus interaktiven und diskursiven Elementen, selbstständigem Arbeiten nach dem Prinzip des entdeckenden Lernens und digitaler Kleingruppenarbeit.
Das Online-Seminar „Biografische Zugänge zur Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald“ bietet einen Einstieg in das Thema. Es ist auch für inklusive Gruppen und Schüler:innen mit individuellem Förderbedarf geeignet.
Dauer: ab ca. 4 Stunden (inklusive Pausen. Auch als mehrtägiges Online-Projekt durchführbar).
Anhand von Quellenarbeit ermöglicht das mehrtägige Online-Seminar „Infektionskrankheiten in Vergangenheit und Gegenwart mit Fokus auf den Nationalsozialismus und das Konzentrationslager Buchenwald“ eine vertiefende Auseinandersetzung.
Dauer: 2 Tage mit jeweils ca. 6,5 Stunden oder 3 Tage mit jeweils ca. 4,5 Stunden (inklusive Pausen). Bei Interesse an einem Online-Seminar, kontaktieren Sie uns unter:
Betreff: Online-Bildung Gedenkstätte Buchenwald jbs(at)buchenwald(dot)de
Bitte geben Sie an:
– welches Online-Format Sie interessiert,
– wann Sie eine Durchführung planen und
– wie viele Teilnehmer:innen Sie erwarten.
Fußnoten
1 Siehe dazu auch der Artikel von Timo Galki in diesem Magazin.