Als gesichert gilt, dass bei der Hinrichtung am 15. Dezember 1943 die Anwesenheit weiterer italienischer Häftlinge erzwungen war; verschiedenste Zeugenaussagen – aus Nachkriegsprozessen und Memoirenliteratur – belegen dies. Tiefergehende Informationen zum Tathintergrund fehlen am Ort, sodass Besucher:innen oftmals irritiert den Kontakt zu Mitarbeitenden der Gedenkstätte suchen. Warum waren Italiener überhaupt im KZ, galten sie doch als Verbündete der Nationalsozialist:innen? Was hatte dazu geführt, dass einige von ihnen erschossen wurden? Und was weiß man in der KZ-Gedenkstätte über die Erschossenen? Das Tötungsdelikt in all seinen Dimensionen einzuordnen, ist aufgrund der lückenhaften Quellenlage schwer. Jedoch konnten durch die Auswertung von italienischen Erinnerungsberichten zuletzt weitere Erkenntnisse gewonnen werden. Diese sind auch die Basis für neue Vermittlungsansätze.
Mittelbau-Dora
Auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora weist am Steinbruch im ehemaligen Häftlingslager ein schlichtes, kniehohes Schild auf eine Gewalttat hin: „In dieser Senke erschoss die SS im Dezember 1943 sieben italienische Kriegsgefangene.“ Über die Hintergründe der Erschießung gibt es fast achtzig Jahre nach der Tat weiterhin Unklarheiten.
Unbestritten handelte es sich bei den Getöteten um ehemalige Angehörige der italienischen Armee. In Folge des am 8. September 1943 bekanntgegebenen Waffenstillstands des Königreichs Italien mit den alliierten Streitkräften kam es zu ihrer Entwaffnung durch Wehrmachtseinheiten. Italien wurde vom Verbündeten des Deutschen Reiches zum Kriegsgegner. Nord- und Mittelitalien wurden durch die Wehrmacht besetzt und etwa eine Million italienische Soldaten gerieten in deutsche Gefangenschaft. Die Mehrheit unter ihnen lehnte eine Kriegsfortsetzung an deutscher Seite ab, sodass circa 650.000 Italiener in Gefangenschaft verblieben. Sie kamen in Stamm- oder Offizierslager, obwohl ihnen der Status als Kriegsgefangene nach nur wenigen Tagen ihrer Gefangenschaft bereits wieder aberkannt wurde. Sie sollten von nun an als „Militärinternierte“1 bezeichnet werden. In Nord- und Mittelitalien war einige Wochen später eine faschistische Republik unter Benito Mussolinis Führung (und deutscher Billigung) entstanden und ein Fortbestehen des deutsch-italienischen Bündnisses wurde von beiden Seiten beschworen. Entwaffnete Militärangehörige eines befreundeten Staates konnten keine Kriegsgefangenen sein, so die NS-Logik. Gleichzeitig bot die Aberkennung des Kriegsgefangenenstatus die Möglichkeit, die Militärinternierten in der deutschen Kriegsindustrie – vorrangig in der Rüstungsproduktion – einzusetzen, was Kriegsgefangenen nach dem Kriegsvölkerrecht untersagt war. Die Italiener stellten somit eine weitere potenzielle Gruppe von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich dar.
Die sieben Getöteten kamen mit weiteren entwaffneten Soldaten im Herbst 1943, wenige Wochen nach ihrer Festsetzung, nach Dora. Dieser Umstand ist höchst ungewöhnlich, da nur sehr wenige Militärinternierte auf direktem Weg in Konzentrationslager überstellt wurden. Im Vergleich zu anderen KZ-Häftlingen lag in ihrem Fall keiner der bekannten Hafthintergründe vor. Es ist anzunehmen, dass ihre Überstellung ins KZ Dora mit dem Aufbau des Lagers und der Vorbereitung zur unterirdischen Raketenmontagefabrik zusammenhing. Für die anvisierte Untertageverlagerung war eine Vielzahl an Häftlingen angefordert worden, die den bereits vorhandenen Stollen um- bzw. ausbauen sollten. Der Blick in die Quellen zeigt, dass die Mehrheit der Militärinternierten in ihrem Zivilberuf vorwiegend als Handwerker, Maurer oder Bauarbeiter tätig war – alles Berufe, die beim Stollenumbau und weiteren Vortrieb als nützlich eingestuft wurden. So waren auch zwei der Erschossenen, Carlo Mossoni und Giuseppe Baccanelli, in ihrem zivilen Leben Maurer bzw. Arbeiter gewesen. Über die anderen Getöteten lassen sich aufgrund der fragmentarischen Quellenlage weiterhin kaum Rückschlüsse auf ihr Zivilleben ziehen. Anders als die sonstigen KZ-Häftlinge waren die Militärinternierten optisch leicht zu erkennen: Sie behielten ihre graugrüne Militärkleidung bei der Einweisung ins Lager und bekamen eine gesonderte Zählung der Häftlingsnummern. Nach neuen Rechercheergebnissen erhielten sie die für KZ-Häftlinge charakteristische Sträflingskleidung erst zwischen Frühling und Frühsommer 1944; die gesonderte Registrierungsnummer, welche stets mit einer Null begann, wurde hingegen beibehalten. Etwa 600 Militärinternierte wurden nach Dora verschleppt.
Bisher gab es zwei Theorien über die Hintergründe der Geschehnisse vom Dezember 1943. Eine Variante deutete die Erschießungen als Reaktion der SS auf einen Protest der Italiener gegen ihren weiteren Einsatz in der vorzubereitenden Rüstungsproduktionsfläche, da sie sich als Kriegsgefangene ansahen und ihr Arbeitseinsatz gegen das Kriegsvölkerrecht verstieße. Eine weitere Deutung der Begebenheiten sah die Ursprünge der Hinrichtung in einer Unmutsäußerung der Italiener bezüglich der schlechten Versorgungslage im KZ. Nach intensivster Auswertung von Zeitzeugenberichten anderer ehemaliger Militärinternierter lässt sich nun konstatieren, dass hier wohl der Ursprung der gewaltsamen Reaktion der SS liegt.
Aus den Erinnerungsdokumenten geht hervor, dass sich diejenigen Italiener, die als Militärinternierte ins KZ überstellt wurden, durchaus als Angehörige der entwaffneten italienischen Armee und weniger als KZ-Häftlinge definierten. Jedoch war ihnen bewusst, dass sie – genauso wie KZ-Häftlinge – Zwangsarbeit leisten mussten. Alle sieben erschossenen Italiener gehörten zum selben Arbeitskommando für den Stollenvortrieb. Anders als bisher überliefert, hatten sie keine gemeinsame militärische Vergangenheit in einem Regiment und kamen auch über unterschiedliche Durchgangslager ins KZ Dora. Zusammen mit französischen und sowjetischen KZ-Häftlingen war ihr Arbeitskommando für den Stollenausbau zuständig. Nach Zeitzeugenaussagen stand diesem Kommando eine zusätzliche Nahrungsration zu. Bei der Essensausgabe wurde den Italienern dieser Nachschlag jedoch von einem Mithäftling verweigert. Auch sowjetischen Häftlingen soll der Zusatz verwehrt worden sein. Auf deren Unmutsäußerungen folgten keine erkennbaren Reaktionen. Im Fall der italienischen Beschwerde hingegen wurden SS-Männer informiert. Die Anschuldigung lautete, die Italiener verweigerten die Arbeit und meuterten gegen die Lagerordnung. Ob sie damit gedroht hatten, die Arbeit niederzulegen, sollten sie nicht die ausstehende Essensration bekommen, lässt sich aus den Dokumenten nicht eindeutig herausarbeiten. In dem Arbeitskommando selbst waren jedoch mehr als sieben Militärinternierte eingesetzt. Die Aussagen von Überlebenden schwanken; von bis zu siebzehn Italienern ist die Rede. Dies zeigt: Nicht alle, die sich gegen die fehlende Gleichbehandlung bei der Essensausgabe beschwerten, wurden später ermordet.
Es ist davon auszugehen, dass bei der Erschießung, die tagsüber im Steinbruch stattfand, vor allem italienische Häftlinge aus der Nachtschicht als erzwungene Zuschauer anwesend waren. So lassen sich Hinweise finden, dass die etwa fünfzig Italiener, welche an der späteren Erschießungsstelle warten mussten, nicht wussten, was geschehen würde. Nicht wenige unter ihnen befürchteten eine Massenerschießung seitens der SS. Erst als die sieben Italiener separat vorgeführt wurden, ahnten die Anwesenden, was tatsächlich geschehen sollte. Inwieweit sich die Nachricht der Erschießung nach der Tat unter den weiteren italienischen Häftlingen verbreitete, ist unklar. Italiener, die die Geschehnisse vom Hörensagen kannten, nahmen die Tötung als eines von vielen alltäglichen Beispielen von Terror und Willkür seitens der Wachmannschaften hin. Wieder anderen Italienern wurde von SS-Männern bei künftigem Fehlverhalten ein ähnliches Schicksal, wie das der Erschossenen, angedroht.
Die Erschießung der sieben Italiener im Steinbruch ist bereits seit einigen Jahren Bestandteil der Vermittlungsarbeit in der KZ-Gedenkstätte. Durch Befragungsprotokolle von ehemaligen SS-Männern in Nachkriegsprozessen, die an der Erschießung beteiligt waren, lassen sich Handlungsspielräume der Beteiligten herausarbeiten. Durch neue Übersetzungen aus Zeitzeugenberichten der bei der Hinrichtung anwesenden Italiener kann nun der Perspektive der Täter die Sichtweise der Häftlinge gegenübergestellt werden. Dies setzt einen Kontrapunkt zur Aussage der SS-Männer und ermöglicht somit einen wichtigen Perspektivwechsel. Auch wenn über die sieben Opfer des Erschießungskommandos nach wie vor lediglich rudimentäre Informationen zu ihrer Person bekannt sind, so lassen die Berichte italienischer Augenzeugen dennoch eine Annäherung aus der Opferperspektive zu. Durch die Nutzung verschiedenster Quellen wird ein multiperspektiver Zugang zum Geschehen ermöglicht, der die individuelle Urteilskraft der Teilnehmenden in Bildungsformaten stärkt.
Kathrin Empacher ist Stellvertretende Leiterin der Bildungsabteilung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.