Stiftung

Ein partizipatives Projekt:

Website zu den Novemberpogromen 1938 auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen

Die Novemberpogrome des Jahres 1938 markierten den Übergang von der Ausgrenzung der Juden im Nationalsozialismus zu ihrer systematischen gewaltsamen Verfolgung. Auch auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen misshandelte und ermordete der nationalsozialistische Mob im November 1938 jüdische Männer, Frauen und Kinder, setzte Synagogen in Brand und zerstörte Wohnungen und Geschäfte jüdischer Eigentümer:innen. Für viele Orte in Thüringen haben Lokalhistoriker:innen und Geschichtsinitiativen in den vergangenen Jahrzehnten teils umfangreiche Dokumentationen vorgelegt. Teilweise handelt es sich jedoch um nur schwer zugängliche graue Literatur oder um Publikationen, die schon lange vergriffen sind. Manches ist auch nicht mehr aktuell, und zu etlichen Orten gibt es nur fragmentarisches Wissen.

Die vorhandenen Lücken zu schließen und zugleich das disparate lokale Wissen zu bündeln und online verfügbar zu machen, ist das Ziel eines Website-Projektes am Historischen Institut beziehungsweise dem Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zum 85. Jahrestag der Pogrome am 9. November 2023 wurde eine Website freigeschaltet, auf der Informationen zu den lokalen Ereignissen im November 1938 wie auch zur Vorgeschichte der jeweiligen jüdischen Gemeinden und den Folgen nach 1938 abgerufen werden können. Die Website soll Interessierten die Möglichkeit bieten, sich einen Überblick zu verschaffen: Was geschah im November 1938 in meiner Heimatstadt? Wer waren die Täter, was geschah mit den Opfern? Welche Spuren lassen sich heute noch finden? Wo finde ich vertiefende Infos zum Weiterforschen? Gibt es vor Ort Geschichts- und Gedenkinitiativen? Um diese Fragen gebündelt zu beantworten, wurden zu jedem Ort, an dem im November 1938 Übergriffe auf jüdische Einwohner:innen begangenen wurden, Beiträge erarbeitet, die jeweils dieselbe Gliederung haben: Vorgeschichte – Ereignisse im November 1938 – Folgen nach 1938 – exemplarische Biografien – justizielle Ahndung – Spuren und Gedenken – Literatur und Links. Mit technischer Unterstützung der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena wurde die Website auf dem Themenportal MENORA – neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen gepostet. Finanziell unterstützt wurde das Projekt von der Thüringer Staatskanzlei.

Vorbild des Projektes ist eine Website zu den Novemberpogromen in Niedersachsen (https://pogrome1938- niedersachsen.de), die 2018 als Kooperationsprojekt der Universität Hannover mit der Stiftung niedersächsische Gedenkstätten entstand. Wie in Niedersachsen ist das Projekt in Thüringen partizipativ angelegt. Studierende und Heimatforscher:innen oder auch zivilgesellschaftliche Gedenkinitiativen sollen gemeinsam daran arbeiten. Doch ist es für universitär Forschende bisweilen recht schwierig, Kontakt zu Lokalhistoriker:innen aufzunehmen beziehungsweise überhaupt erst einmal zu wissen, dass es Personen gibt, die bereits zu den Pogromen vor Ort geforscht, aber noch nichts publiziert haben, was in den einschlägigen Bibliothekskatalogen zu finden wäre. Hier erwies sich die Unterstützung des Museumsverbandes Thüringen e. V. und des Heimatbundes Thüringen e. V. als unschätzbare Hilfe.

Ein Rundschreiben mit der Bitte um Mitarbeit oder Hinweise auf mögliche Autor:innen brachte einen ebenso unerwarteten wie erfreulichen großen Rücklauf. Es zeigte sich, dass vor allem die Stadtarchivar:innen, die über den Verteiler des Museumsverbandes erreicht wurden (vor allem in kleineren Städten liegt die Leitung des Archivs und des Stadtmuseums ja oft in einer Hand), vielfach Hinweise auf Personen geben konnten, die sich mit der Geschichte der jüdischen Gemeinden vor Ort und der Novemberpogrome auskennen. Teilweise haben solche Lokalforscher:innen eigenständig Ortsbeiträge für die Website verfasst, in anderen Fällen haben sie die Studierenden bei den Recherchen unterstützt. Mit der Website werden die Forschungsergebnisse der Heimathistoriker:innen einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Teils jahrzehntelange beharrliche ehrenamtliche Arbeit, die nur selten öffentliche Wertschätzung erfährt, kann dadurch Früchte tragen. Es ist unglaublich, welche Unmengen von Wissen und Quellen manche Lokalforscher:innen zusammengetragen haben. Oftmals handelt es sich um Quellen, an die die akademische Forschung nie herankommen würde – private Fotos etwa oder Flugblätter und Zeitungsausschnitte, die in keinem Archiv zu finden sind. Auch für die akademische Seite hat die Zusammenarbeit mit der citizen science, wie die ehrenamtlich Forschenden neudeutsch genannt werden, einen unschätzbaren Mehrwert.

Schwarz-Weiß-Fotografie der ausgebrannten Synagoge in Erfurt (1938)
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https://www.juedisches-leben-thueringen.de/pogrome-1938/
Schwarz-Weiß-Fotografie der ausgebrannten Synagoge in Erfurt (1938)
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Die ausgebrannte Synagoge in Erfurt, November 1938. Der Sakralbau am Kartäuserring hatte 500 Personen Platz geboten und war 1884 eingeweiht worden.

Aber auch in „klassischen“ Archiven gelang es den Studierenden und ehrenamtlich Forschenden, etliche wichtige und bislang nicht veröffentlichte Quellen zur Geschichte der Novemberpogrome und der Verfolgung der Thüringer Jüdinnen und Juden zusammenzutragen. Darunter befinden sich etwa im Thüringer Staatsarchiv Gotha erfasste Rundschreiben und Anweisungen der Gestapo im Regierungsbezirk Erfurt zur Berichterstattung über die Pogrome und zur Organisation der Deportationen nach Bełżyce im Mai 1942 und in das Ghetto Theresienstadt im September 1942. Als sehr nützlich erwies sich darüber hinaus das Online-Archiv der Arolsen Archives in Bad Arolsen, das personenbezogene Recherchen zu fast allen in das KZ Buchenwald deportierten Thüringer Jüdinnen und Juden ermöglicht. Für die erfahrungsgeschichtlich perspektivierte Erarbeitung von Biografien konnten die Forschenden zudem etliche Erinnerungsberichte aus Entnazifizierungs- und Ermittlungsverfahren der frühen Nachkriegszeit heranziehen – Dokumente, die allerdings einer besonderen Quellenkritik unterzogen werden müssen.

In manchen Regionen in Deutschland begannen die Pogrome bereits am 7. November 1938, in anderen erst am 11. oder 12. November. In Thüringen verliefen sie dagegen, das zeigen die ausgewerteten Quellen, zeitlich und auch vom Ablauf her recht einheitlich. Fast überall drangen SA- und SS-Mitglieder oder auch Privatpersonen am frühen Morgen des 10. November 1938 in die Wohnungen und Geschäfte jüdischer Einwohner:innen ein, zerstörten das Mobiliar wie auch die Fensterscheiben und misshandelten die Bewohner:innen. Männliche Juden, in einigen Orten auch Frauen und sogar Kinder, wurden von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen und zunächst in Polizeigefängnissen inhaftiert. Auch in die Synagogen brachen die Täter ein. Die größeren, einzeln stehenden Synagogen wurden dabei in Brand gesteckt. In kleineren Ortschaften dienten häufig Wohnhäuser oder kleinere, unmittelbar an Wohnhäuser angrenzende Bauten als Synagogen. Da die Gefahr bestand, dass das Feuer auf angrenzende Gebäude übergriff, schändeten und zerstörten die Täter hier meistens nur die Inneneinrichtung. Manchmal wurde diese auch auf die Straße getragen und dort angezündet. Nach derzeitigem Stand wurden auf dem Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen sechs Synagogen vollständig niedergebrannt und 15 zerstört. An vier weiteren Orten verwüstete der Mob Betsäle.

Während die festgenommenen Frauen und Kinder oft noch am selben Tag wieder freigelassen wurden, ließ die Gestapo die in „Schutzhaft“ genommenen Männer und teils auch männliche Jugendliche am 10. und 11. November 1938 in das KZ Buchenwald deportieren. Mindestens 810 der fast 10.000 nach den Pogromen in das Lager auf dem Ettersberg bei Weimar verschleppten Juden kamen aus Thüringer Gemeinden. Viele wurden in Buchenwald brutal misshandelt, mehrere starben. Die Überlebenden wurden ab Anfang Dezember 1938 nach und nach entlassen. Wer Glück, das nötige Geld und ein Visum hatte, emigrierte ins Ausland. Mit Kriegsbeginn Anfang September 1939 war das jedoch kaum noch möglich. Nun mussten die noch in Thüringen lebenden Jüdinnen und Juden in sogenannte Judenhäuser umziehen; ihre Bewegungsfreiheit wurde immer mehr eingeschränkt. Am 10. Mai 1942 erfolgte eine erste Massendeportation in das Ghetto Bełżyce im besetzten Polen. Fast alle noch verbliebenen Jüdinnen und Juden, überwiegend ältere Männer und Frauen, wurden schließlich am 19. September 1942 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Kleinere Transporte nach Theresienstadt betrafen danach noch – bis in den Januar 1945 – sogenannte „Halbjuden“ und „jüdisch Versippte“. Die jüdischen Gemeinden in Thüringen waren damit ausgelöscht

Am 9. November 2023 wurde die Website im Rahmen einer öffentlichen Vorstellung mit dem Vorsitzenden der Jüdischen Landesgemeinde Reinhard Schramm und dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Bernhard Stengele im Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt freigeschaltet. Das Projekt ist jedoch auf Weiterarbeit angelegt. Zu manchen Orten gibt es bislang nur Kurztexte, die schrittweise durch längere Einträge ersetzt werden sollen. An anderen Orten bleibt manches ungeklärt. Vielleicht ist auch das eine oder andere Detail in den Texten noch überarbeitungsbedürftig, oder es lässt sich präzisieren. Manches bislang unbekannte Foto liegt noch – in seinem Wert unerkannt – in einem Schuhkarton auf dem Dachboden. Wer Informationen oder Fotos hat, wer bislang nur mit einem Kurztext oder gar nicht aufgeführte Orte ausführlich vorstellen möchte: Jede und jeder ist willkommen, an dem Projekt mit- und weiterzuarbeiten. Schicken Sie einfach eine kurze Nachricht an jens.wagner@uni-jena.de. Auch über Kommentare zum Projekt freuen wir uns. Vielen Dank!

Der Historiker Prof. Dr. Jens-Christian Wagner ist Professor für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität Jena sowie Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.


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