Der Text entstand auf der Grundlage der Materialien des Projekts „Vergessene Zeitgenossen“, das sich mit den Biografien sowjetischer KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen beschäftigt.1
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Unter den Häftlingen des KZ Buchenwald waren etwa 30 Prozent Sowjetbürger:innen. Vor dem Hintergrund des deutsch-sowjetischen Krieges herrschten für sie besondere Bedingungen: Neben zivilen Häftlingen waren hier auch Kriegsgefangene inhaftiert, von denen die meisten getötet wurden. Diejenigen, die überlebten, haben jedoch Erinnerungen hinterlassen, und ein Großteil davon ist dem „antifaschistischen Widerstand“ im Lager gewidmet. Eine Form dieses Widerstands war die Sabotage während der Zwangsarbeit. Wie wurde in den Erinnerungsberichten über Sabotage geschrieben, was sind die besonderen Motive und Kontexte der Erzählungen über Sabotage?
Die Sowjetunion definierte sich selbst als „den ersten Staat der Arbeiter und Bauern“. Im 12. Artikel ihrer Verfassung von 1936 stand folgendes: „Die Arbeit ist in der UdSSR Pflicht und eine Sache der Ehre eines jeden arbeitsfähigen Bürgers nach dem Grundsatz: ‚Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen‘. In der UdSSR gilt der Grundsatz des Sozialismus: ‚Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung‘.“ Die sowjetische Wirtschaft, die sich deklamatorisch auf die Ideen von Karl Marx berief, sollte die die Entfremdung von der Arbeit überwinden. In der Tat wurde diese Überwindung nicht umgesetzt. In den Betrieben herrschten schwierige Arbeitsbedingungen, die Frage der Entlohnung wurde von den Betriebsleitungen ohne Mitbestimmung der Arbeiter:innen entschieden, die Gehälter selbst, insbesondere in der Landwirtschaft, stellten die Menschen an den Rand von Armut und Hunger. Gleichzeitig wurde Zwangsarbeit im ökonomischen System des sowjetischen Innenministeriums (Gulag-System, Zwangsansiedlungen und Arbeitsverpflichtungen) intensiv eingesetzt. Diese Widersprüche lösten eine doppelte Reaktion aus: Einerseits galt Fleiß als gesellschaftlich anerkanntes Moralkriterium. Auf der anderen Seite haben viele Bürger zwar die Regeln des Staates verinnerlicht, waren aber nicht ganz mit ihnen einverstanden und simulierten daher ihre Aktivitäten in gewisser Weise, zumal die Produkte ihrer Arbeit zugunsten des Staates „vergesellschaftet“ wurden. Dabei sahen die Funktionäre des Regimes in der Nachlässigkeit gegenüber der Arbeit zwei besondere Formen des antisowjetischen Widerstandes: „Schädlingstätigkeit“ (aktive Zerstörung) und „Sabotage“ (Zerstörung durch Untätigkeit). Sabotage, also Untätigkeit aus vermeintlichen politischen Gründen ließ sich besonders leicht feststellen.
Dieses Konzept der Arbeit und des Kampfes um Produktivitätssteigerung erlebte in den Memoiren und Interviews, die von ehemaligen sowjetischen Häftlingen der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora aufgezeichnet wurden, eine interessante Entwicklung. Das gesamte gelernte semantische System musste in den Gesprächen über Zwangsarbeit in deutschen Rüstungsbetrieben, die als Arbeit zum Wohle des Feindes verstanden wurde, umgedreht werden: Was im sowjetischen Kontext ein „politisches Verbrechen“ war, wurde nun zu einem „antifaschistischen Kampf“ und zu einer Rechtfertigung für die Gefangenschaft auf dem Territorium des Feindes. In unserem Artikel werden wir kurz auf einige Beispiele solcher Texte eingehen, um wichtige semantische Details darin darzustellen.
In den Memoiren der überlebenden Insassen von Buchenwald findet der Widerstand gegen die Lagerwachen einen besonderen Platz. Bereits in dem 1945 in Erfurt erschienenen Band „Gesammelte Erinnerungen an das Konzentrationslager Buchenwald“ wurde „Schädlingsbekämpfung und Sabotage in der Produktion“ als Hauptaufgabe der Widerstandsgruppen hervorgehoben.2 In der Geschichte „Russische Leute“ beschrieb Wladimir Wlassow, 1920 geboren in Krasnodar, ein solches Vorgehen. Dieser war, nachdem er am Leningrader Institut für Sportkultur (Lesgaft) studiert hatte, in einer speziellen Skiabteilung der sowjetischen Armee gewesen. Nach eigenen Angaben war er zu Beginn des Zweiten Weltkriegs für den sowjetischen Geheimdienst tätig und hatte sich bis April 1942 im Hinterland der deutschen Truppen in der Nähe von Leningrad befunden. Seine weitere Verfolgungsgeschichte bleibt in seinen Erinnerungen relativ unklar. Unterlagen über eine Verhaftung durch dieGestapo Halle im Juli 1942 weisen darauf hin, dass Wlassow zuvor als Zwangsarbeiter bei Markranstädt eingesetzt worden war. Daraufhin wurde er Anfang August 1943 zur Zwangsarbeit in ein Außenlager Buchenwalds im Erla Maschinenwerk bei Leipzig geschickt. Aufgrund einer Fußverletzung brachte man ihn im April 1944 nach Buchenwald, wo er im Krankenbau behandelt und als Pfleger eingesetzt wurde. Von dort wurde er nach Köln und nach Ohrdruf gebracht. Vermutlich kam er im Kontext der Räumung des Außenlagers Ohrdruf nach Buchenwald zurück.3
Er beschrieb seine Geschichte in einem persönlichen Brief an einen anderen ehemaligen Häftling, Michail Lewschenkow, einen Lehrer aus Noworschew (Pskower Gebiet), der nach seiner Rückkehr in die UdSSR ein Archiv der ehemaligen Häftlinge von Buchenwald zusammenstellte und sich in direkter Kommunikation mit Dutzenden anderer Kriegsveteranen befand. In dieser Hinsicht ist der Brief von Wlassow an Lewschenkow nicht nur ein persönliches Dokument, sondern auch ein Hinweis auf die Einbeziehung seiner Geschichte in das von Lewschenkow gesammelte allgemeine Archiv. Im ersten Teil von Wlassows Geschichte sehen wir, wie die klassische Logik der „fortgeschrittenen Produktion“ in ihr Gegenteil verkehrt wird:
„Um das Tempo der Arbeit noch weiter zu bremsen, wurde eine Verbindung mit den Unternehmen hergestellt, die unsere Fabrik mit einzelnen Teilen belieferten. Als wir dort über mangelhafte Teile bei uns berichteten, verzögerten wir absichtlich ihren Versand dort. Dies führte zu Ausfallzeiten der Werkstätten. […] Statt 14-16 Flügel pro Tag bei normalem Betrieb wurden 6-7 Stück produziert!“
Hier und im Folgenden soll die Geschichte von Wlassow die Ablehnung der „Zusammenarbeit“ mit dem Feind demonstrieren, die Fortsetzung des „Kampfes“ auch in einer Zwangsarbeitssituation:
„Hier steht ein versandfertiger Rumpf. Der Meister ist an das andere Ende der Werkstatt gegangen und die ‚unsichtbaren‘ Hände nehmen sofort alles auseinander. Aus den Griffen werden Sätze für Mundstücke, Messer hergestellt, Gürtel und Planen werden auch für den vorgesehenen Zweck verwendet. […] Diejenigen, die an den Nieten gearbeitet haben, haben so genietet, dass das Flugzeug beim Testen auseinanderfiel.“
Gleichzeitig habe es im Werk einen Wettbewerb darum gegeben, wie man noch mehr Menschen zur Sabotage bringen könnte, was laut Wlassow von der Werkleitung verhindert wurde. Allerdings ohne Erfolg. Stattdessen wurden diejenigen, die wirklich arbeiteten, innerhalb der Gefangenengemeinschaft selbst bestraft.
„Es gab auch Leute unter den Gefangenen, die für ein Stück Brot in der Lage waren, ihren Vater zu verkaufen. Sie erhielten Handzettel von Handwerkern und arbeiteten unermüdlich. Diese ‚guten‘ Arbeiter wurden im Lager ausgenüchtert, sie wurden von dem einen oder dem anderen zu Dieben erklärt, die Brot oder irgendetwas anderes bei den Kameraden gestohlen hatten. Dafür haben sie eine harte Strafe erhalten. Auf diese Weise haben wir diejenigen ‚erzogen‘, die nicht bei uns waren. Das war unsere Antwort an die Handwerker, die die Kameraden, die nicht arbeiten wollten, brutal in der Fabrik prügelten“.
Das heißt, die Situation der Zwangsarbeit war einigermaßen ausweglos: Wenn man „zu gut“ arbeitete, geriet man in Ungnade gegenüber den Lagerkameraden, wenn man sich weigerte zu arbeiten, riskierte man, von Handwerkern und Sicherheitsleuten geschlagen zu werden.
Die Sabotage als natürlicher und allgemeiner Teil des Widerstands, dem sich die Gefangenen anschließen sollten, bildete die Grundlage für die propagandistische Lagererzählung, die oft von den Gefangenen selbst verwendet wurde, um ihrer Haft einen Sinn zu verleihen. Dieses Propagandanarrativ zeigt sich in den mündlichen und schriftlichen Erzählungen ehemaliger Häftlinge unterschiedlich, sodass man beobachten kann, wie es sich entwickelte und veränderte. In einem Brief hat eine Person mehr Zeit, eigene Gedanken zu formulieren als in einem Gespräch oder Interview. Daher übertragen sich hier häufiger öffentliche Vorstellungen. Die Autor:innen schließen sich dem Verständnis anderer an und vernachlässigen oft ihre eigenen Erfahrungen. Diese Annahme lässt sich auch auf die Berichte der Gefangenen beziehen, einschließlich ihrer Beziehung zur Zwangsarbeit und ihrer Sabotage.
Wladimir Koschan, geboren am 24. Februar 1925, hinterließ sowohl schriftliche als auch mündliche Erinnerungen. Seine mündliche Rede ist emotional und voller Details des erlittenen Leids. Er beschrieb ziemlich detailliert seine Verbindung zum Widerstand, dessen Dezimierung nach einem Aufstandsversuch und den Verlust eines Freundes. Seine schriftliche Antwort auf einem Fragebogen der Gedenkstätte entsprach einerseits dem typischen sowjetischen Narrativ, gab aber auch das Dilemma der Sabotagetätigkeit für die Gefangenen wieder:
„Niemand gab Anweisungen zur Sabotage, es war eine Selbstverständlichkeit für alle Gefangenen. Aber ein fehlerhaftes Loch zu machen, das Werkzeug zu brechen, den Zementbeutel beim Tragen fallen zu lassen, damit er zerbarst, war eine Schädlingstätigkeit. Wenn ein Sabotageakt festgestellt wurde, wurden wir ‚nur‘ geschlagen, eine Feststellung der Schädlingstätigkeit bedeutete für uns den Tod“.
Koschan wies auch auf die Bedeutung der Sabotage gerade in Mittelbau-Dora hin:
„Die Briten sollten den Gefangenen von Dora dankbar sein, dass die V2 nicht auf England gefallen sind“.
Dieses Verständnis von einer besonderen Rolle der Zwangsarbeit in Dora lässt sich in fast jedem Erinnerungsbericht der ehemaligen Gefangenen dieses Lagers finden – so konnte die Sabotage durch die an ihr beteiligten Gefangenen gedanklich in ein außerhalb des Lagers gelegenes Leben zurückgebracht und die Lagererfahrung in eine antifaschistische Erzählung eingereiht werden.
Natalia Baryshnikova (Gedenkstätte Buchenwald) hat einen Master in Kulturwissenschaften der Hochschule für Wirtschaft in Moskau. Sie arbeitete von 2015 bis 2021 für die Organisation Memorial International, die mit Beschluss des Obersten Gerichts der Russländischen Föderation am 28. Februar aufgelöst wurde.
Sergey Bondarenko (Gedenkstätte Buchenwald), Historiker und Absolvent der Fakultät für Geschichte der Staatlichen Universität Moskau. Er arbeitete von 2008 bis 2021 für die Organisation Memorial International.
Ivan Shemanov (KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora), BA in Kulturwissenschaften der Staatlichen Universität Moskau. Er arbeitete von 2019 bis 2022 für Memorial International.
Fußnoten
1 In einem vom Museum Berlin-Karlshorst koordinierten Bildungs- und Forschungsprojekt untersuchen russische Wissenschaftler:innen u. a. der Organisation Memorial an neun verschiedenen deutschen Gedenkstätten Biographien der vom Nazi-Regime verfolgten, aber auch in ihrer Heimat ausgegrenzten sowjetischen Bürger:innen. Das Projekt wird finanziert durch das Programm „Jugend Erinnert“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Die Website ist abrufbar unter https://zeit-genossen.com.
2 Kotow, Sergej, Grigorij Bojko, G. Garkavenko und Dmitrij Sivatschenko. Sbornik wospominani o koncentrazionnom lagere Buchenwald, Erfurt 1945.
3 Haftunterlagen Arolsen Archives, Signatur 01010503 002.055.241 (https://collections.arolsen-archives.org/de/search/ person/7432548?s=wlasow%207589&t=1833138&p=0)