Buchenwald

Rede zur Gedenkfeier des 79. Jahrestages der Befreiung

Jens-Christian Wagner an einem Rednerpult. Hinter ihm Flaggen und der Lagerzaun, vor ihm zahlreiche Kränze.

Lieber Naftali Fürst,

sehr geehrte Frau Filippetti,

sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt,

sehr geehrte Landtagsvizepräsidentinnen Henfling und Lehmann,

sehr geehrte Frau Ministerin Denstädt,

sehr geehrte Staatssekretärinnen,

sehr geehrter Herr Abgeordneter der französischen Nationalversammlung Jean-Louis Thiérot,

sehr geehrte Angeordnete des Deutschen Bundestages und des Thüringer Landtages,

sehr geehrte Angehörige des Diplomatischen Korps, sehr geehrte Frau Botschafterin Jancovic, sehr geehrte Herren Botschafter Delattre, Horgan, Navarro und Misu-iulis,

Sehr geehrter Herr Groys (Zentrarat der Juden),

sehr geehrter Herr Delfeld (Zentralsrat der Sinti und Roma)

Sehr geehrter Herr Bischoff Neymeyr,

sehr geehrter Herr OB Kleine,

sehr geehrte Vertreter:innen von Kommunen und Landkreisen,

sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freund, liebe Kolleg:innen,

Seitens der Gedenkstätte und im Namen unserer Freunde im IKBD, mit dem wir die Veranstaltung heute gemeinsam ausrichten, begrüße ich Sie herzlich in der Gedenkstätte Buchenwald. Ganz besonders begrüße ich die Über­lebenden des KZ Buchenwald, die heute aus Israel, Frankreich, Polen, Belarus und Rumänien hierhergekommen sind, um mit uns gemeinsam an die Befreiung vor 79 Jahren zu erinnern.

Der 11. April 1945 brachte für 21.000 Häftlinge in Buchenwald die Befreiung. Über 20.000 Männer und Frauen aus dem Lager befanden sich an diesem Tag noch in den Händen ihrer Peiniger. Sie waren auf Todesmärsche geschickt worden. Manche Überlebende wurden erst am 8. Mai befreit. Doch auch sie begingen später den 11. April als den symbolischen Tag der Befreiung.

Dass der Nationalsozialismus besiegt wurde, ist den alliierten Streitkräften und dem europaweiten Widerstand gegen die deutsche Besatzungs­herrschaft zu verdanken, einem Widerstand, der sich auch in den Konzentra­tionslagern zeigte, auch und gerade hier im KZ Buchenwald.

Neben dem Dank an die Befreier steht die Trauer um diejenigen, die den Tag der Befreiung nicht mehr erleben konnten. 56.000 Männer, Frauen und Kinder überlebten die Deportation nach Buchenwald nicht – politische Häft­linge aus allen Ländern Europas, Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, sowje­tische Kriegsgefangene, Homosexuelle, Zeugen Jehovas sowie als „asozial“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgte.

Sie starben, weil ihnen die Nationalsozialisten nicht zubilligten, zu der von ihnen propagierten „Volksgemeinschaft“ zu gehören, weil sie sie für minder­wertig und gefährlich hielten oder weil sie sich dem nationalsozialistischen Plan der rassistischen Neuordnung Europas widersetzten.

Heute begehen wir den 79. Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald. Es ist ein „unrunder“ Feiertag, und dennoch steht er unter einem besonderen internationalen öffentlichen Interesse – wegen der Kriege in der Ukraine und Nahost, und wegen der in diesem Jahr anstehenden Wahlen und der histori­schen Bezüge zum Thüringen der 1920er und 1930er Jahre – alles Themen, die das Gedenken in Buchenwald nicht unberührt lassen.

Wir begehen den ersten Jahrestag der Befreiung nach der Zäsur des 7. Okto­ber 2023 – dem Tag, an dem die terroristische Hamas Israel überfiel, brutal 1200 Männer, Frauen und Kinder ermordete und über 250 Menschen, darunter Kinder und Greise, als Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppte. Das antisemitische Massaker vom 7. Oktober und der darauf folgende Krieg liegen als ein Schatten über dem heutigen Gedenktag.

Umso mehr freue ich mich, dass heute mehrere KZ-Überlebende aus Israel hier sind, darunter der Präsident des IKBD Naftali Fürst, der am 7. Oktober Opfer in seiner Familie zu beklagen hatte. Lieber Herr Fürst, liebe Freunde aus Israel, wir trauern mit Ihnen um die Opfer des Hamas-Massakers, und versichern Ihnen, dass wir solidarisch an ihrer Seite stehen.

Zugleich sind wir besorgt um die zivilen Opfer des Krieges im Gaza-Streifen und hoffen, dass der Krieg schnell beendet wird und dass die verbliebenen Geiseln unverzüglich von der Hamas freigelassen werden!

Leider gibt es aber derzeit wenig Anlass für Optimismus. In der vergangenen Nacht haben wir alle um die Angehörigen unserer Gäste aus Israel gebangt, als das islamistische Regime im Iran Hunderte Drohnen und Raketen auf Israel abgefeuert hat. Schlimmstenfalls hätten dabei Tausende Menschen getötet werden können. Glücklicherweise konnten fast alle Geschosse abgefangen und zerstört werden. Aber wir wissen nicht, wie es weitergeht. Hoffen wir, dass Besonnenheit vorherrscht und der Nahe Osten und die Welt nicht in einen noch größeren Krieg schlittern.

Und dann gibt es nach wie vor den Krieg in der Ukraine. Die russische Voll­invasion dauert nun schon mehr als zwei Jahre an, und weiterhin leiden die Menschen in der Ukraine unter russischen Luft- und Artillerieangriffen und müssen täglich um ihr Leben fürchten. Wie real diese Gefahr ist und dass ihr auch Überlebende der NS-Verfolgung ausgesetzt sind, zeigt das Schicksal des ukrainischen Vizepräsidenten des IKBD Boris Romantschenko, der Buchen­wald und Mittelbau-Dora überlebte und vor zwei Jahren bei einem russi­schen Angriff auf seine Heimatstadt Charkiv getötet wurde. Es freut mich sehr, dass seine Enkelin Julia heute hier ist. Seien Sie herzlich willkommen, liebe Julia Romantschenko. Heute denken wir ganz besonders auch an Ihren Großvater!

Nicht nur wegen der Kriege in der Ukraine und in Nahost begehen wir in diesem Jahr einen besonderen Jahrestag der Befreiung, sondern auch wegen der anstehenden Wahlen in Thüringen, der Kommunalwahl, der Europawahl und schließlich der Landtagswahl. Manche bezeichnen 2024 mit Blick auf die Wahlen sogar als Schicksalsjahr für Thüringen, und sie denken dabei nicht zuletzt auch an die Geschichte unseres Landes vor 100 Jahren, von der manche befürchten, dass sie sich wiederholt.

1924 trat in Thüringen erstmals in einem Land der Weimarer Republik eine bürgerliche Minderheitsregierung ihr Amt an, die von den Nationalsozialis­ten toleriert wurde und von deren Forderungen abhängig war. Folgen waren die Entlassung des sozialdemokratischen jüdischen Landesbankpräsidenten und jüdischer Staatsanwälte, das Bauhaus wurde von Weimar nach Dessau vertrieben, und die Nazis setzten sich in der politischen Kultur Thüringens fest.

1926 feierte die NSDAP ihren ersten Reichsparteitag – nicht in Nürnberg, sondern in Weimar. Vier Jahre später, 1930, gelang der NSDAP in Thüringen der Einzug in eine Regierungskoalition mit Bürgerlichen und Deutschnationa­len – auch das erstmals in einem Land des Deutschen Reiches. Die Nazis hatten zu diesem Zeitpunkt nur 12 Prozent der Wählerstimmen, konnten aber zwei Schlüsselministerien besetzen: das Innenministerium und das Volksbildungsministerium.

Chef beider Ministerien wurde Wilhelm Frick, der als Innenminister in der Polizei sämtliche hohen Posten mit Parteifreunden besetzte und als Bildungs­minister nationalsozialistische Ideologie in die Schulpläne schrieb und in der Kulturpolitik völkische und antisemitische Inhalte festschrieb.

Thüringen war ein Vorreiter auf dem Weg zum NS-Staat, es wurde für die Nazis zum Experimentierfeld. Als 1933 die Nazis auch im Reich an die Macht kamen, wurde Wilhelm Frick, der sich in den Augen Hitlers in Thüringen bewährt hatte, Reichsinnenminister und war damit maßgeblich verantwort­lich für den Aufbau des Verfolgungs- und Terrorapparates des Regimes.

100 Jahre später herrscht in Thüringen – erstmals in einem Bundesland – die reale Gefahr, dass mit der AfD Rechtsextreme bei den Landtagswahlen so stark werden, dass sie an die Regierung kommen oder direkten Einfluss auf die Regierungsarbeit nehmen können, sei es über eine Tolerierung einer Minderheitsregierung oder über eine Sperrminorität im Landtag.

Nun sollten wir uns vor schiefen historischen Analogien hüten. Die heutige Lage ist nicht identisch mit der von 1924 und auch nicht mit der von 1930 oder 1933. Trotzdem kann der historisch informierte Vergleich mit den 1920er und 1930er Jahren helfen, unseren Blick auf die aktuelle politische Lage und die Gefahren, die mit ihr einhergehen, zu schärfen. Dazu gehört die historisch begründete Feststellung, dass eine wie auch immer geartete Einbindung von Rechtsextremen diese nicht „entzaubert“, sondern stärkt, weil sie die Macht nutzen, um den liberalen Rechtsstaat auszuhöhlen und ihre demokratiefeindliche Agenda voranzutreiben.

Im Unterschied zu den Zeitgenossen der Jahre 1924 und 1930 wissen wir heute, wie die Sache damals ausgegangen ist. Wir können Lehren aus der Geschichte ziehen. Und eine ganz zentrale Lehre lautet, uns mit geschichts­bewusster Wachsamkeit allen Versuchen einer Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen entgegenstellen. Rechtsextreme Diskurse und Holocaust-Verharmlosung dürfen nicht normalisiert werden.

Zugleich müssen wir den Verheißungen der Ungleichheit, den Ideologien der Ungleichwertigkeit und dem Nationalismus die Idee der gesellschaftlichen Vielfalt und der Weltoffenheit entgegenhalten. Eine der ganz zentralen Lehren aus den Verbrechen der Nationalsozialisten ist Artikel 1 unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es dort – die Würde des Menschen, nicht nur des Deutschen. Das müssen wir gegen alle Verächter der Demokratie verteidigen.

Sehr geehrte Damen und Herren, Gedenken braucht Wissen und muss auch auf das Heute gerichtet sein. Seit einigen Jahren stellen wir unsere Gedenk­veranstaltungen zum Jahrestag der Lagerbefreiung unter ein inhaltliches Leitthema. Dieses Jahr ist es das Thema Zwangsarbeit während des National­sozialismus – Sie sehen es an der Zeichnung hinter mir, die Häftlinge bei mörderischer Arbeit im Steinbruch des KZ Buchenwald zeigt.

Zwangsarbeit mussten KZ-Häftlinge vor allem auf Baustellen und in der Rüstungsindustrie leisten. Ab 1942 richtete die SS überall im Deutschen Reich bei Rüstungsfabriken und bei Bauvorhaben KZ-Außenlager ein, deren Insassen dort Zwangsarbeit leisten mussten. Allein das KZ Buchenwald hatte am Ende fast 140 Außenlager; das Netz der Buchenwalder Außenlager reichte von der Kanalküste in Frankreich über das Rheinland und das Ruhr­gebiet bis nach Sachsen.

Zwangsarbeit, nicht nur von KZ-Häftlingen, sondern auch von Kriegsgefange­nen und zivilen Verschleppten aus ganz Europa, war ein öffentliches Verbre­chen. Es war ein Verbrechen, an dem nicht nur Unternehmen beteiligt waren, sondern auch Millionen Deutsche, die Zwangsarbeiter:innen täglich begegneten und ihnen ihre Verachtung zeigten, ob als Besatzungssoldat in der Ukraine oder als Bäuerin im Thüringer Wald. Der Blick auf die NS-Zwangsarbeit zeigt uns warnend, wie eine radikal rassistisch formierte Gesellschaft funktioniert.

Die SS konnte dem Hunger der Rüstungsindustrie nach KZ-Zwangsarbeitern kaum nachkommen. Bald wurden auch weibliche Häftlinge als Zwangsarbei­terinnen an die Industrie vermietet. Auch sie waren in Außenlagern unter­gebracht, Lagern, die zunächst noch dem Frauen-KZ Ravensbrück unterstan­den. Im September 1944 wurden die über 20 in Mitteldeutschland liegenden Frauen­lager aber dem KZ Buchenwald unterstellt. Die Zwangsarbeit von mehr als 28.000 Frauen, darunter vielen Jüdinnen sowie Sintizze und Romnja, wurde nun von Buchenwald aus verwaltet. Welchem Leid diese Frauen ausgesetzt waren, werden wir im Anschluss in einer szenischen Lesung aus Erinnerungsberich­ten hören.

Zuvor präsentieren Schüler:innen der Pina-Bausch-Gesamtschule aus Wuppertal ein Projekt zu einem Außenlager des KZ Buchenwald in Wupper­tal, dessen bis zu 600 Häftlinge bei Bauarbeiten und beim Schutträumen nach Luftangriffen eingesetzt wurden. Den Schüler:innen wie auch den Kolleg:innen, die die Berichte der Frauen aus den Außenlagern lesen werden, möchte ich vorab herzlich danken.

Danken möchte ich auch Ihnen allen, die heute mit uns gemeinsam den Jahrestag der Befreiung des KZ Buchenwald vor 79 Jahren begehen. Vor allem danke ich aber den Überlebenden, die trotz ihres fortgeschrittenen Alters heute hier auf dem ehemaligen Appellplatz sind, um ihrer getöte­ten Mithäftlinge zu gedenken.

Lieber Herr Moisenko, lieber Herr Renaud, lieber Herr Borger, lieber Herr Fürst, lieber Herr Mandel, lieber Herr Maciak, lieber Herr Székely, lieber Herr Urich, Sie und Ihre Angehörigen wie auch die Angehörigen verstorbener ehemaliger Häftlinge sind heute unsere Ehrengäste. Danke, dass Sie hier sind, und Danke, dass Sie mit uns gemeinsam daran erinnern, was sich die Überlebenden des NS-Terrors 1945 erhofften: eine Welt des Friedens, der Demokratie und Weltoffenheit, eine Welt ohne Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus.

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