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Editorial

Porträt Jens-Christian Wagner

©Jens Meyer

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

am 7. Oktober ermordeten Hamas-Terroristen in Israel über 1.200 Jüdinnen und Juden und verschleppten mehr als 200 Menschen als Geiseln in den Gaza-Streifen. Seither vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo in Deutschland Menschen lauthals mit antisemitischen Parolen durch die Straßen ziehen, den Hamas-Terror relativieren oder sogar bejubeln und Israels Gegenwehr gegen den Hamas-Angriff mit NS-Methoden gleichsetzen. Bei weitem befinden sich unter den antisemitisch Protestierenden nicht nur Menschen mit arabischem oder muslimischem Hintergrund, sondern auch viele weiße Deutsche, die sich als Linke bezeichnen, geradezu inflationär von einem „Genozid“ in Gaza sprechen und von denen Parolen wie „Free Palestine from German Guilt“ zu hören sind – eine linke Variante des „Schuldkult“-Narrativs, mit dem extrem Rechte u. a. aus der AfD die Erinnerungskultur und die Arbeit der Gedenkstätten diskreditieren.

Auch manche Verteidiger:innen Israels argumentieren mit ahistorischen NS-Analogien, etwa der Gleichsetzung des Hamas-Terrors mit der Shoah. Weniger offensichtlich als Gleichsetzung, aber doch mit deutlichem NS-Bezug zeigt sich die Forderung nach der Unterstützung Israels unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt“. Aber ist es wirklich nötig, das Existenzrecht Israel mit schiefen historischen Analogien zu begründen? Ist das Abschlachten von 1.200 Jüdinnen und Juden, darunter Kindern und Alten, nicht abscheulich genug, um sich mit den Überlebenden zu solidarisieren und allen, die den Terror rechtfertigen oder gar feiern, entschieden entgegenzutreten?

Geschichtskulturell ist einiges ins Rutschen geraten, nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Bereits der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat gezeigt, wie die Geschichte der NS-Verbrechen entkontextualisiert wird und für aktuelle politische Zwecke missbraucht werden kann – am schlimmsten sicherlich von Putins Propaganda, die den brutalen Angriffskrieg Russlands mit der Behauptung zu rechtfertigen versucht, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden. Schamlose Instrumentalisierung und Fälschung von Geschichte zeigten seit 2020 zudem etliche Pandemieleugner:innen, die die Corona-Schutzmaßnahmen mit der Ausgrenzung und Verfolgung im Nationalsozialismus gleichsetzten – wir erinnern uns alle an Jana aus Kassel, die sich als Reinkarnation von Sophie Scholl darstellte.

Der Thüringer AfD-Chef Björn Höcke wiederum beschimpfte am 8. Mai 2023, dem Jahrestag des Kriegsendes 1945, Gegendemonstrant:innen bei einer Rede vor Verschwörungsideolog:innen und Rechtsextremen auf dem Weimarer Theaterplatz, als die eigentlichen Faschisten. Damit trieb er den Missbrauch und die Verdrehung von Geschichte auf den Höhepunkt.

Die zuvor genannten Beispiele verweisen aber darauf, dass auch in etlichen anderen Bereichen das reflexive Geschichtsbewusstsein im politischen Diskurs ersetzt wird durch ideologisch motivierte Geschichtspolitik samt umfassendem Begriffs-Wirrwarr. Dabei droht die wissenschaftlich fundierte, die Opfer würdigende und nach Kontexten wie auch nach Ursachen und Folgen fragende Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen unter die Räder zu geraten.

Um dem etwas entgegensetzen zu können, brauchen wir begriffliche Klarheit und ein historisch fundiertes Wissen. Beides sind Voraussetzungen für historische Urteilskraft, die zu stärken Ziel unserer Arbeit ist. Dazu sollen auch unsere „Reflexionen“ beitragen.

Die Ausgabe 2024 widmet sich im Schwerpunkt der NS-Zwangsarbeit. Anlass ist die Eröffnung unseres Museums „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ im ehemaligen „Gauforum“ in Weimar. Welche Facetten die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus als Massenphänomen hatte und wie sich das Wechselverhältnis zwischen der deutschen Mehrheitsbevölkerung und den Zwangsarbeiter:innen entwickelte, zeigen in exemplarischen Tiefenbohrungen die Beiträge in diesem Heft. Zudem verweisen sie auf die Funktionsweise der NS-Gesellschaft, einer radikal rassistisch strukturierten Gesellschaft, die auf zwei Säulen stand: Integrationsangebote an die deutschen „Volksgenossen“ auf der einen Seite sowie Ausgrenzung, Verfolgung und Mord der „Gemeinschaftsfremden“ auf der anderen Seite.

Zur Mitmachbereitschaft im Nationalsozialismus trugen – neben dem von vielen Deutschen geteilten Rassismus und Antisemitismus des Regimes – ganz wesentlich Kriminalisierungsdiskurse gegenüber den Ausgegrenzten und Verheißungen der Ungleichheit bei. Und tatsächlich führte ja nicht zuletzt die Zwangsarbeit dazu, dass die Ungleichheit für viele Deutsche materielle oder zumindest subjektive Aufstiegserfahrungen bedeutete. Das Verbrechen Zwangsarbeit stabilisierte das nationalsozialistische System.

Fast 80 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus schwindet in Deutschland das Bewusstsein dafür, welche Bedeutung die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus für unsere demokratische Selbstverständigung hat. In Thüringen liegt aktuell in Meinungsumfragen mit der AfD eine Partei weit vorne, deren Landesvorsitzender bekanntlich eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordert und der eine völkisch-rechtsextreme Ideologie vertritt. Damit stellt er alles in Frage, was den liberalen, humanen und demokratischen Rechtsstaat ausmacht, insbesondere die Unteilbarkeit der Menschenrechte und den Grundsatz, dass alle Menschen gleichwertig sind und ihre Würde unantastbar ist, unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder ihres Geschlechts.

Um zu zeigen, dass sie für Vielfalt, Weltoffenheit, Demokratie und für einen geschichtsbewussten Umgang mit der Vergangenheit eintreten, haben sich zahlreiche Institutionen und Einzelpersonen parteiübergreifend in der Initiative „Weltoffenes Thüringen“ zusammengefunden. Sie wirbt für eine offene Gesellschaft, die das Leben und die Rechte aller Menschen achtet und die sich für die europäische Einigung einsetzt, weil sie weiß, welche Verheerungen Nationalismus, Rassismus, Krieg und Diktatur in der Zeit des Nationalsozialismus über Deutschland und Europa gebracht haben.

Demokratie braucht Diskurs und Reflexion über die Vergangenheit und über die Frage, in welcher Zukunft wir leben möchten. Dazu möchten die „Reflexionen 2024“ anregen. Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Jens-Christian Wagner ist der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

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