KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

„Form follows function“

Der neue Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora über seine Ziele der zukünftigen Gedenkstättenarbeit

Sie kennen die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora aus Ihrer Arbeit sehr gut, waren unter anderem Volontär der Gedenkstätte. Was macht in Ihren Augen ihre Besonderheit aus?

Die Gedenkstätte liegt mitten in Deutschland an einem besonderen historischen Ort. Dort befand sich eines der größten deutschen Konzentrationslager: das Zentrum eines Lagerkomplexes. Mindestens jeder dritte Deportierte überlebte Mittelbau-Dora nicht, sondern starb während der KZ-Haft in den Lagern oder danach auf den Räumungstransporten und Todesmärschen. Die Gedenkstätte ist eine Grabstätte für Tausende ermordete KZ-Häftlinge und zugleich ein historischer Tat- und Erinnerungsort, der bundesweit und international bekannt ist. Mittelbau-Dora steht exemplarisch für einen der großen nationalsozialistischen Verbrechenskomplexe: nämlich für die mörderische Zwangsarbeit in Konzentrationslagern und für die Geschichte der Untertageverlagerung von Industrie- und Rüstungsanlagen während des Zweiten Weltkrieges.

Dabei war Mittelbau-Dora nicht der einzige Tatort seiner Art. Denn mit der systematischen Ausweitung des nationalsozialistischen KZ-Systems ab 1943 und mit der angestrebten Verlegung rüstungsindustrieller Produktionsstandorte unter Tage waren deutschlandweit und in vielen von Deutschland besetzten Ländern zahlreiche KZ-Außenlager entstanden, in denen Häftlinge Zwangsarbeit für Untertageverlagerungsprojekte, aber auch für andere Unternehmen und Bereiche in der damaligen NS-Gesellschaft leisten mussten. Allerdings befand sich das räumlich dichteste Lagernetz eben ab 1944/45 in der Harzregion: im damaligen Lagerkomplex Mittelbau mit seinem Hauptlager unweit der Stollenanlage im Kohnstein und mit seinen rund 40 Außenlagern.

Doch nicht nur der historische Ort, sondern auch die Gedenkstätte selbst ist für mich besonders. Sie verfügt über ein hohes fachliches Maß an historischer Dokumentation, an wissenschaftlicher und pädagogischer Expertise. Auf Basis dieses fundierten Wissens- und Erfahrungsschatzes eröffnet sich an diesem Lernort eine besondere Chance und Aufgabe, die Geschichte der nationalsozialistischen KZ-Zwangsarbeit und ihre Nachwirkungen bis heute den Besuchenden anschaulich zugänglich zu machen: mit Fokussierung auf den historischen Ort des Hauptlagers am Kohnstein und auf die damaligen Außenlager, durch Verdeutlichung der vielfältigen Wechselwirkungen und Austauschbeziehungen zwischen den Lagern und ihrer regionalen Umgebung. Und natürlich mit biografischen Bezügen: Für meine persönlichen Begegnungen mit Überlebenden und mit Familienangehörigen von Überlebenden und Ermordeten, die ich an diesem Ort im Laufe der vergangenen Jahre erleben durfte, bin ich zutiefst dankbar. Das waren für mich unschätzbar prägende Gespräche und Momente, die ich niemals vergessen werde.

Inzwischen haben Sie für verschiedene Stiftungen und Gedenkstätten wie die Stiftung Topographie des Terrors in Berlin gearbeitet und waren Leiter der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen in Sachsen-Anhalt. Welche Erfahrungen sind es, die Sie in Mittelbau-Dora besonders einbringen möchten?

Zu sehen sind zwei Männer die vor einem Torbogen stehen.
Andreas Froese (r.) mit dem französischen Historiker Laurent Thiery bei der Übergabe des Livre des 9000 Déporés de France à Mittelbau-Dora an die Gedenkstätte Gardelegen am 9. April 2022.
Foto: Sammlung Gedenkstätte Gardelegen.
©Gedenkstätte Gardelegen

Nach meinem beruflichen Weggang aus Nordhausen hatte ich an anderen Orten die Gelegenheit, mich mit weiteren nationalsozialistischen Verbrechenskomplexen zu befassen. Das hat meinen historischen Blick auf die NS-Gesellschaft erweitert und für grundlegende Mechanismen nationalsozialistischer Täterschaft geschärft.

In meiner Berliner Zeit habe ich mich intensiver mit Häftlingsgruppen in Konzentrations- und Zwangsarbeitslagern auseinandergesetzt, deren Geschichten in der Öffentlichkeit weniger bekannt sind. Einige sind bis heute noch nicht offiziell anerkannt. Dazu gehören beispielsweise die italienischen Militärinternierten,[1] die u. a. auch in den Lagerkomplex Mittelbau deportiert wurden. In Gardelegen befasste ich mich ausführlicher mit nationalsozialistischen Endphaseverbrechen, vor allem in Verbindung mit Räumungstransporten und Todesmärschen aus Konzentrationslagern, ebenso mit uniformierter und zivilgesellschaftlicher (Mit-)Täterschaft sowie mit erinnerungskulturellen Veränderungen seit 1945. Bei meinen biografischen Recherchen zu Häftlingstransporten und Todesmärschen „begegnete“ ich in den Quellendokumenten auch vielen Häftlingen aus dem Lagerkomplex Mittelbau. Ich bringe also zusätzliche ortsbezogene Betrachtungsperspektiven von außen mit, zugleich eine langjährige Verbundenheit mit der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und ihren thematischen Schwerpunkten.

 

Als Gedenkstättenleiter in Gardelegen erwarb ich mir ein Verständnis für viele unterschiedliche Teilbereiche des praktischen Gedenkstättenbetriebs: sowohl für ihre spezifischen Anforderungen als auch für ihre mitunter komplexen wechselseitigen Zusammenhänge. Nun freue ich mich sehr, meine Erfahrungen produktiv in die Arbeit vor Ort in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora und in die Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora einbringen zu dürfen. Und natürlich auf die Zusammenarbeit mit den Mitarbeitenden, Kolleginnen und Kollegen.

Das KZ-Mittelbau-Dora war nicht „nur“ ein Hauptlager, sondern ein KZ-Komplex von etwa 40 (Außen-)Lagern, der sich durch die gesamte Harzregion zog. Was bedeutet dieses historische Charakteristikum für die Gedenkstättenarbeit?

Immer wieder sind Besucherinnen und Besucher vor Ort in KZ-Gedenkstätten überrascht, wenn sie erfahren, dass es zahlreiche Wechselbeziehungen, Verbindungslinien und Durchlässigkeiten zwischen Konzentrationslagern und ihrer Umgebung gab. Denken wir etwa an KZ-Häftlinge, die das Wachpersonal täglich zur Zwangsarbeit in Betriebe oder auf Baustellen in der Region trieb. Oder an lokale Firmen, die in geschäftlicher Verbindung mit der Lagerverwaltung standen und sowohl vom Aufbau als auch vom laufenden Betrieb der Lager wirtschaftlich profitierten. Das Narrativ vermeintlich geheimer, quasi hermetisch abgeschlossener Lager ohne Durchlässigkeiten zu ihrer jeweiligen Umgebung ist in weiten Teilen der Öffentlichkeit leider auch heute noch sehr verbreitet.

Hier kann die Gedenkstättenarbeit zur Geschichte des KZ Mittelbau-Dora einen wertvollen Beitrag zur Dekonstruktion solcher Entlastungsnarrative leisten, indem sie gerade am Beispiel der vielen regionalen Verflechtungen im einstigen Lagerkomplex Mittelbau die damals breite gesellschaftliche Fundierung, Kenntnis und Unterstützung für dieses KZ-System aus der damaligen Bevölkerung heraus deutlich macht. Deshalb bleibt die Gedenkstättenarbeit in Nordhausen nicht allein auf einen einzelnen Ort konzentriert, sondern nimmt immer auch die gesamte Region in den Blick, über die sich der Lagerkomplex Mittelbau erstreckte: ein historischer Gewaltraum, der geografisch über Teile der heutigen Bundesländer Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen reichte.

Hinzu kommt noch ein weiterer Aspekt: Auch wenn die professionalisierte KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora hauptamtlich betrieben und von einer Stiftung öffentlichen Rechts getragen wird, bleibt die erinnerungskulturelle Arbeit in dieser gesamten Region natürlich auf zusätzliche öffentliche und zivilgesellschaftliche Unterstützung angewiesen, auf weitere haupt- oder ehrenamtlich engagierte Menschen. Das betrifft beispielsweise die Kommunen, auf deren Gebiet sich einst KZ-Außenlager befanden, sowie engagierte Vereine, Bündnisse und Initiativen, die sich vor Ort für die Pflege einer lokalen Erinnerungskultur, den baulichen Erhalt von Gedenkzeichen oder für die Verteidigung demokratischer Grundwerte gegen rechtsextremistische Kräfte einsetzen. Die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora versteht sich hier als eine Partnerin für eine gemeinsame Vernetzung und für Kooperationen: Ihre Mitarbeitenden können zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure aus der Region auf fachlich-wissenschaftlicher Basis beraten und gegebenenfalls unterstützend tätig werden.

Eigentlich wollten Sie im Frühjahr 2020 die neugestaltete Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen eröffnen, was dann Corona zunächst vereitelte. Sie waren gezwungen auf digitale Vermittlungsformate auszuweichen. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht? Was nehmen Sie mit aus dieser „digitalen“ Zeit?

Glücklicherweise war die Eröffnung der neukonzipierten Gedenkstätte in Gardelegen dennoch in diesem besonderen Jahr – 75 Jahre nach dem Massaker in der Isenschnibber Feldscheune – mit einer feierlichen Veranstaltung vor Ort möglich, pandemiebedingt nur eben nicht zum historischen Jahrestag des Massakers im April. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff eröffneten sie vor Ort zum Internationalen Tag der Demokratie am 15. September. Trotz der notwendigen Einschränkungen durch die Corona-Eindämmungsauflagen konnten immerhin einige Familienangehörige von Überlebenden und Ermordeten des Massakers sowie Vertretende des Diplomatischen und Konsularischen Korps an der Veranstaltung in Gardelegen teilnehmen. Vielen interessierten Menschen war dies damals leider aus diesem Grund nicht möglich. Deshalb hatten wir einen Internet-Livestream der Veranstaltung organisiert, der Zuschauenden weltweit eine digitale Teilnahme ermöglichte. Vermutlich handelte es sich dabei um die erste Live-Übertragung aus der Gedenkstätte Gardelegen für ein globales Publikum.

Das war nur der Auftakt für weitere digitale Formate, die wir als Gedenkstättenteam in den folgenden Monaten gemeinsam entwickelten. Dazu gehörten digitale Informations- und Vermittlungsangebote, anhand derer wir Schulklassen und Erwachsenengruppen unsere orts- und themenspezifischen Inhalte im Rahmen digitaler Gedenkstättenbesuche nahebrachten und sie zur gemeinsamen Diskussion und Reflexion einluden. Zudem konzipierten wir neue digitale, partizipative Kommunikationsformate, um uns als Gedenkstätte zum einen auch während der Lockdown-Zeit dem Publikum gegenüber dialogisch offenzuhalten, zum anderen um unsere digitalen Besucherinnen und Besucher zur kreativen Mitgestaltung und zur kritischen Reflexion über erinnerungskulturelle Themen anzuregen. Besonders gut sind mir noch die Mitmach-Gedenkcollagen in Erinnerung, zu deren Erstellung wir die Öffentlichkeit anlässlich des bundesweiten Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021 und zum 76. Jahrestag des Massakers von Gardelegen am 13. April 2021 aufgerufen hatten. Wir freuten uns über die vielen kreativen Text-, Bild- und Videobeiträge, die uns aus der Bevölkerung erreicht hatten und veröffentlichten sie dann digital über unsere Internetseiten und auf den Social-Media-Kanälen der Gedenkstätte.

Im Rückblick hatte es sich als sehr hilfreich und vorausschauend erwiesen, lange vor der Corona-Pandemie gleich mit Beginn der Neukonzeption der Gedenkstätte Gardelegen – also bereits parallel zur Planung des neuen Dokumentationszentrums und der neuen Dauerausstellung - digitale Informations-, Kommunikations- und Vermittlungsformate an- und mitgedacht zu haben. Auch wenn deren Verwirklichung ressourcenbedingt nicht immer gleich möglich war, waren sie bereits in der Gesamtkonzeption der Gedenkstätte enthalten. So konnten wir nach der sehr kurzfristig erforderlichen Umplanung mit dem Eintreffen der Pandemie im Frühjahr 2020 auf einen schon vorhandenen Fundus an Überlegungen, Materialien und Vorarbeiten zurückgreifen und vergleichsweise schnell mit digitalen Formaten auf unser Publikum zugehen.

Auch als Gedenkstättenbesuche wieder physisch möglich wurden, behielten wir die digitalen Vermittlungsformate im Bildungsangebot bei. Für das räumlich weiter entfernte Publikum blieben die digitalen Formate weiterhin eine willkommene Zugangsmöglichkeit zur Gedenkstätte. Ohne sie hätten wir beispielsweise so schnell wohl keine Kooperationen zwischen Lehrveranstaltungen an US-amerikanischen Universitäten und der Gedenkstätte Gardelegen mitten in der ländlich geprägten Altmark verwirklichen können. Doch auch für die Erarbeitung digitaler Formate gilt selbstverständlich ebenso wie für physische Bildungsangebote der Grundsatz „Form follows function“: erst eine notwenige Klärung von Inhalten und Zielsetzungen, dann der technische Einsatz digitaler Tools.

Gedenkveranstaltung zum 77. Jahrestag des Massakers von Gardelegen am 13. April 2022 auf dem Ehrenfriedhof in Gardelegen. Foto: Sammlung Gedenkstätte Gardelegen.

©Gedenkstätte Gardelegen

Gedenkstätten dürfen keine statischen Orte sein. Sie müssen sich stetig wandeln, damit sie für die Gegenwart bedeutsam sein können. Vor welchen notwendigen Veränderungen steht aus Ihrer Sicht die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora? Welche Schwerpunkte wollen Sie in Ihrer Arbeit legen?

Die Gedenkstätte ist regional, bundesweit und international für ihre hervorragende Forschung und Vermittlung bekannt. Als Institution am historischen Ort und als Teil der Stiftung genießt sie ein hohes fachliches Ansehen und viel Vertrauen in der Öffentlichkeit. Dazu haben vor allem ihre Mitarbeitenden über viele Jahre hinweg mit ihrem Engagement beigetragen. Gemeinsam mit ihnen möchte ich auch in Zukunft diese weithin geschätzten Errungenschaften erhalten und fortführen.

Gesamtgesellschaftlich sehen wir uns fast 80 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager mit dem Abschied von der Zeitzeugenschaft konfrontiert. Für die Gedenkstätten kommt dieser bedrückende Einschnitt nicht überraschend. Schon seit vielen Jahren sind direkte Begegnungen mit KZ-Überlebenden und mit ihren alliierten Befreiern in der Vermittlungsarbeit vor Ort leider zu einer immer selteneren Ausnahme geworden. Es wird für alle eine traurige Veränderung werden, irgendwann einen Jahrestag der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora ohne die Anwesenheit von Überlebenden begehen zu müssen: ohne die Möglichkeit zu direkten Gesprächen.

Gleichzeitig verdanken wir heute der zunehmenden digitalen Zugänglichkeit von Forschungsdaten und Archivbeständen, der weltweiten Vernetzung von Gedenkstätten und anderen erinnerungskulturellen Institutionen und vielen digitalen Vermittlungsangeboten ein umfangreiches Wissen zu den NS-Verbrechen und zu denjenigen Menschen, an denen sie begangen wurden. Das bietet uns in den Gedenkstätten trotz des langen zeitlichen Abstands zu den historischen Ereignissen viele Chancen, um auch nach dem Ende der Zeitzeugenschaft unseren Forschungs-, Informations- und Vermittlungsauftrag zu erfüllen und damit als institutionelle Akteure auf wissenschaftlicher Grundlage zur erinnerungskulturellen Bildung und Orientierung in der Gesellschaft beizutragen.

Mit Blick auf die in Konzentrationslager deportierten Menschen gibt es immer noch viele Gruppen, deren Geschichten bislang wenig öffentliche Aufmerksamkeit und Anerkennung fanden. Erst in jüngster Zeit hat sich beispielsweise der Blick vermehrt denjenigen zugewandt, die als vermeintlich „Kriminelle“ und „Asoziale“ verfolgt wurden. Gerne möchte ich mich insbesondere für eine differenzierte Würdigung derjenigen einsetzen, von denen bislang nur selten oder noch gar nicht die Rede war.

Das Bedürfnis nach ausdifferenzierteren Zugängen zu unserer Thematik besteht außerdem vor dem Hintergrund aktueller Tendenzen in unserer diversen Gesellschaft. Teils haben wir es mit einer Re-Nationalisierung von Gedenk- und Erinnerungskulturen zu tun, etwa in den Staaten des mittleren und östlichen Europas; teils mit gesellschaftlichen Emanzipations- und Anerkennungsprozessen, die uns die Vielfalt unserer heutigen Gesellschaft vor Augen führen. Den damit verbundenen Fragen, Themen und Bedürfnissen, die an uns als Gedenkstätten herangetragen werden, müssen wir uns selbstverständlich öffnen, um gegenwartsrelevante Antworten geben zu können und als Erinnerungsorte aktuell zu bleiben.

In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch noch differenzierender mit nationalsozialistischer Täterschaft befassen. Vor Ort in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora geschieht das bereits: Wenn wir die arbeitsteilige Organisation des KZ-Systems und den Lagerkomplex Mittelbau als Wirtschaftsfaktor thematisieren, legen wir schon lange einen besonderen Schwerpunkt auf viele unterschiedliche Einzelpersonen und Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Motivationen heraus aktiv an NS-Verbrechen beteiligt und von ihrer Durchführung profitiert haben. Wir sprechen über uniformierte und nicht uniformierte Täterschaft, über individuelle Entscheidungs- und Handlungsräume. Und dennoch: Allzu oft ist in öffentlichen Text- und Wortbeiträgen zur NS-Täterschaft von „den Nationalsozialisten“ oder von „der SS“ die Rede. Solche groben Umschreibungen abstrahieren von konkreten Täterinnen und Tätern oder verweisen nur auf einige ausgewählte Tätergruppen. Letztlich lenken sie jedoch von der historischen Tatsache ab, dass zahlreiche einfache Menschen aus der Mitte der NS-Gesellschaft heraus nicht nur an Verbrechen beteiligt waren, sondern ihre Durchführung erst möglich gemacht haben. Der nähere historische Blick auf ihre damaligen persönlichen Motivationen, Entscheidungs- und Handlungsräume bietet sensibilisierende Ansatzpunkte für Gegenwartsbezüge, für eine geschichtsbewusstere Wahrnehmung aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen.

Dies ist insbesondere angesichts des gesamtgesellschaftlichen Rechtsrucks und gegenüber der Verbreitung von Fake News, Geschichtsrevisionismus und anderen Angriffen auf unsere demokratische Erinnerungskultur, die schon lange nicht mehr allein vom extremen Rand der Gesellschaft, sondern in erschreckendem Maße aus der gesellschaftlichen Mitte heraus erfolgen, umso nötiger. Dann müssen wir uns als Gedenkstätten auch in aktuellen Debatten aktiv und interventionistisch zu Wort melden. Denn unsere politische Neutralität endet dort, wo die NS-Verbrechen geleugnet, verharmlost und beschönigt werden, wo NS-Verfolgte verhöhnt werden, wo NS-Täterschaft kaschiert, bejubelt oder zur Verbreitung von Verschwörungsmythen und menschenfeindlichen Weltbildern instrumentalisiert wird. Dem stellen wir uns mit unseren Informations- und Bildungsangeboten entgegen. Und wie die vergangenen Monate in Nordhausen und auch anderenorts gezeigt haben, können Gedenkstätten gemeinsam mit einer engagierten Zivilgesellschaft viel bewirken.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.

Der Historiker Andreas Froese ist seit Januar 2024 Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora. Zuvor leitete er 2015 bis 2023 die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. Von 2012 bis 2014 hatte er bereits ein wissenschaftliches Volontariat an der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora absolviert.

 

[1] Zur Geschichte der italienischen Militärinternierten im KZ Mittelbau-Dora siehe etwa den Beitrag von Kathrin Empacher in den Reflexionen 2023.


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