Im Jahr 2023 stand in der nordthüringischen Kreisstadt Nordhausen die Oberbürgermeister:innenwahl an, bei der u. a. Jörg Prophet für die AfD kandidierte. Der selbstständige Unternehmer warb auf Wahlplakaten für Radwege oder öffentlichen Personennahverkehr und wurde in der Presse als Vertreter des bürgerlichen Spektrums dargestellt. Bei genauerer Betrachtung stellte sich jedoch heraus, dass Prophet auch zutiefst geschichtsrevisionistische Mythen verbreitete. Anlässlich des 75. Jahrestages der Bombardierung Nordhausens im April 2020 stellte Prophet einen Text auf die Homepage des AfD-Kreisverbandes, in dem er die amerikanischen Soldaten, die das KZ Mittelbau-Dora befreiten, als „moralisch verwahrlost“ bezeichnete. Kurz darauf erklärte er in einer weiteren Veröffentlichung, der 8. Mai sei für ihn nicht der Tag der Befreiung, sondern der bedingungslosen Kapitulation.
Stiftung
Das Projekt „Geschichte statt Mythen“ setzt sich seit August 2024 gegen geschichtsrevisionistische Narrative in Thüringen und darüber hinaus ein. Auf der Website werden aktuelle Debatten eingeordnet, Social-Media-Posts analysiert und revisionistische Codes dechiffriert. Darüber hinaus liefert die Seite Hintergrundinformationen zu immer wiederkehrenden Mythen und kartografiert rechtsextreme Versuche, die Geschichte umzuschreiben.
Die DDR deutete Prophet in seinem Text als „die nächste linke Diktatur auf deutschem Boden“. Im weiteren Verlauf zweifelte er die Kriegsschuld Deutschlands an, reproduzierte den Mythos der „Rheinwiesenlager“ und behauptete, die Bundesrepublik hätte bis heute keinen Friedensvertrag. All diese von Prophet verbreiteten Legenden sind in der rechtsextremen Szene weit verbreitet – in der Nordhäuser Öffentlichkeit erregten sie jedoch kaum Aufmerksamkeit. Erst durch eine kritische Intervention der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora konnte ein Bewusstsein für die von Prophet verbreiteten Erzählungen geschaffen werden. Durch das Dechiffrieren der Mythen wurde an Prophets vermeintlich bürgerlichem Image gerüttelt – mit Erfolg: In der Stichwahl gewann der parteilose Amtsinhaber Kai Buchmann.
Das fehlende Wissen über geschichtsrevisionistische Mythen und der Erfolg der Intervention führten zu dem Wunsch, ein Projekt zu initiieren, das sich der systematischen Erfassung, Analyse und Dechiffrierung von Geschichtsrevisionismus in Thüringen widmet. Das nun seit August 2024 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena angesiedelte Projekt konnte mit finanziellen Mitteln der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), den Ressourcen der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und dem Netzwerk „Weltoffenes Thüringen“ umgesetzt werden. Herzstück von „Geschichte statt Mythen“ ist die Website: Hier findet sich ein News-Blog, ein Bereich mit Hintergrundinformationen zu klassischen geschichtsrevisionistischen Legenden und vor allem eine Übersichtskarte, wo und von wem in Thüringen Mythen reproduziert werden. Die Website wächst ständig und ist partizipativ angelegt – Hinweise auf lokalen Geschichtsrevisionismus oder Gastbeiträge durch Fachkolleg:innen und andere Interessierte sind explizit erwünscht.
Der besondere Fokus des Projekts lag 2024 auf der Begleitung der Landtagswahl: So wurden das Thüringen-Programm der AfD, Reden, Wahlkampfveranstaltungen sowie Social-Media-Posts der Partei genau unter die Lupe genommen. Doch nicht nur die AfD, auch andere Parteien wie „Die Heimat“ (ehemals NPD), die „WerteUnion“ oder der „III. Weg“ wurden analysiert. Auch die rechte Mischszene aus Montagsspaziergänger:innen, Corona-Leugner:innen und der Reichsbürger:innenszene verbreitete geschichtsrevisionistische Mythen und stand damit ebenso unter Beobachtung.
Im Wahlkampf selbst nutzte die AfD spezifische, geschichtsrevisionistische Narrative, um verschiedene Wähler:innengruppen anzusprechen. So publizierte sie zum Wahlkampfauftakt ihr Programm, auf dessen Titelseite „Alles für Thüringen“ prangte – ein offener Bezug auf den SA-Spruch „Alles für Deutschland“, für den der Co-Vorsitzende der Thüringer AfD, Björn Höcke, bereits zweimal verurteilt wurde. Dem Programm selbst war ein auf den ersten Blick harmloses Gedicht aus dem Jahr 1912 von Franz Langheinrich vorangesetzt.
Nicht harmlos jedoch war die Rolle von Langheinrich im Dritten Reich. Der Dichter war bekennender Nationalsozialist, schrieb zwischen 1934 und 1936 für den „Völkischen Beobachter“ und wetterte gegen „entartete Kunst“. Nach einer öffentlichen Skandalisierung übte sich die AfD in Unschuld: Der Partei-Stratege Stefan Möller versuchte sich im ZDF-Morgenmagazin als unwissend zu geben und stritt jegliches Wissen über die Verstrickungen von Langheinrich in den NS ab. Tatsächlich waren das Gedicht und der Leitspruch ein offenes Zugeständnis an das neurechte und neonazistische Klientel, das ihr Kreuz sicher gern bei einer Partei macht, die einem Nazi-Dichter und der SA huldigt.
Die AfD beging im Wahlkampf mehrmals den Tabubruch und bezog sich positiv auf den Nationalsozialismus oder relativierte dessen Verbrechen. Damit erzeugte sie nicht nur Aufmerksamkeit, sondern normalisierte nationalsozialistische Gesinnung in der Öffentlichkeit. Darauf ist die Partei angewiesen, um Ideologien und Politiken, die durch den historischen Nationalsozialismus belastet sind, für die Gegenwart denkbar zu machen. Die AfD hat offen verkündet, eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad anzustreben – dafür lieferte sie während des Wahlkampfes 2024 zahlreiche Beispiele. Erst wenn diese angestrebte Wende vollführt ist, kann sie die spätestens seit dem Potsdam-Treffen öffentlich gewordenen Pläne zur Massendeportation von Menschen mit Migrationshintergrund, in der Sprache der Neuen Rechten als „Remigration“ verharmlost, als denkbare Option darstellen.
Doch nicht nur in Bezug auf den historischen Nationalsozialismus betrieb die AfD Geschichtspolitik: Sie fischte ebenso im Teich der (N-)Ostalgie. So diffamierte der Co-Vorsitzende Björn Höcke Proteste der Zivilgesellschaft gegen die AfD als von der Regierung orchestrierte Aufmärsche, die es zuletzt in der „unseligen DDR“ gegeben habe. Die Ermittlungen gegen einzelne Mitglieder der AfD aufgrund des Verdachts von Straftaten bezeichnete er als „Zersetzung“, den Verfassungsschutz als „Stasi 2.0“. Eigentlich müsste man annehmen, dass die rechtspopulistische bis rechtsextreme Thüringer AfD die DDR per se ablehnt – tut sie aber nicht. Vielmehr versuchte sie im Wahlkampf, einzelne negative Aspekte der DDR, wie Überwachung, Schein-Demokratie oder gelenkte Presse, abzuspalten und auf die Gegenwart zu projizieren: Der Verfassungsschutz als Wiederkehrer der Stasi, die demokratischen Fraktionen als „Block-Parteien“ und die Medienlandschaft als „Systempresse“. Gleichzeitig jedoch bespielte die AfD affirmativ die positive Erinnerung vieler ehemaliger DDR-Bürger:innen und ihrer Nachkommen an ihr untergegangenes Herkunftsland.
So wurde Höcke nicht müde, die Vorzüge der DDR zu betonen: Bei einer Wahlkampfveranstaltung in Greiz fuhr er sogar mit einem in der DDR gefertigten Simson-Kleinkraftrad durch den Wahlkreis. Die AfD betonte im Wahlkampf zwar, dass die DDR ein sozialistischer und diktatorischer Staat war – gleichzeitig deutete sie die DDR aus ihrer völkischen Perspektive als ethnisch homogenes, „deutsches Land“. Die Partei nutzte die nostalgische Deprivation, also die Tendenz, die Vergangenheit positiver zu erinnern, als sie faktisch war, um sich als Wiederbringer einer vermeintlich vergangenen, heilen Welt zu inszenieren.

Was ist Geschichtsrevisionismus und worauf zielt er ab?
Der Begriff des Geschichtsrevisionismus beschreibt Bemühungen, eine inhaltliche Umdeutung der historischen Vergangenheit vorzunehmen. Ziel dieser Umschreibungsversuche ist vor allem die Zeit des Nationalsozialismus. Dafür nutzen die Geschichtsrevisionist:innen verfälschte Quellen, einseitige Darstellungen oder reißen das Geschehene aus dem Kontext.
Durch das Infragestellen der wissenschaftlich und gesellschaftlich anerkannten Darstellung der Vergangenheit sollen eigene politische Vorstellungen, die durch den historischen Nationalsozialismus belastet sind, enttabuisiert und wieder anschlussfähig gemacht werden. Die so rehabilitierte Vergangenheit soll als mögliche Alternative zur offenen und an den Menschenrechten ausgerichteten Gesellschaft präsentiert werden.
War Geschichtsrevisionismus über Jahrzehnte ein Randphänomen von radikalen Neonazis und professionellen Revisionist:innen, ist er mit der AfD in Thüringen seit Jahren auch auf der parlamentarischen Bühne angekommen. Auch der eingangs erwähnte Jörg Prophet konnte 2024 über die Landesliste einziehen. Die AfD schlug ihn sogar, nachdem die rechtskräftig verurteilte Wiebke Muhsal vom Parlament abgelehnt wurde, als Vizepräsidenten des Landtags vor. Während die Partei nun fortlaufend versucht, das Parlament vorzuführen, zeigt sie auch offen, was sie unter der erinnerungspolitischen „180-Grad-Wende“ versteht. Der neu für die AfD eingezogene Sascha Schlösser forderte im November 2024 in der Debatte um den 8. Mai auf, am 11. April nicht an die Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora zu erinnern, sondern stattdessen nach Gispersleben zu fahren und dort erschossenen SS-Angehörigen zu gedenken (mehr dazu auf S. 36).
Während die AfD gezielt Geschichtsrevisionismus im Thüringer Landesparlament verbreitet, läuft sich die Partei bereits für die 2025 anstehende Bundestagswahl warm. Auch hier scheint sie auf Desinformation und Verdrehung der Geschichte zu setzen. So bezeichnete Höcke den amerikanischen Vorschlag, das Wehrpflichtalter in der Ukraine herabzusetzen, als „Volkssturm“ und den scheidenden Chef des Verfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, als „willigen Vollstrecker“ – ein offener Bezug auf Daniel J. Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker. Die Notwendigkeit, rechtsextremen Geschichtsrevisionismus zu entlarven, scheint also größer denn je – an einer Verstetigung des im April 2025 auslaufenden Projekts „Geschichte statt Mythen“ wird dementsprechend aktiv gearbeitet.
Der Soziologe Jakob Schergaut ist seit August 2024 für das Projekt „Geschichte statt Mythen“ verantwortlich, das am Lehrstuhl für Geschichte und Öffentlichkeit an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena angesiedelt ist.