Die Spuren führen zu weit verbreiteten Stereotypen, die in der langen Geschichte verwurzelt sind. Die Sowjetunion bestand zu verschiedenen Zeiten aus bis zu 15 Republiken, und in Deutschland wird sie immer noch oft als Russland bezeichnet. Die Bürger:innen der bereits unabhängigen Staaten, die anstelle der ehemaligen Sowjetrepubliken entstanden sind, werden oft als Russen bezeichnet und man will nicht wahrhaben, dass sie unterschiedliche Identitäten, Nationalitäten und Ethnien vertreten. Im Falle Belarus kommt noch ein weiterer Faktor hinzu: Ende des 18. Jahrhunderts wurden die belarusischen Gebiete an das Russische Reich angegliedert, und zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war die nationale Identität der ethnischen Gruppen der belarusischen Region noch schwach ausgeprägt. Der konfessionelle Faktor überlagerte die Wahrnehmung der eigenen Identität durch die „Tutejschyja“ (in Belarusisch – Einheimische, Hiesige). Es war üblich, orthodoxe Gläubige als Russen¹ und Katholiken als Polen zu bezeichnen. Dies war auch auf die Lage der nächstgelegenen religiösen Zentren der Kirchen in Moskau bzw. Warschau zurückzuführen.
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Belarus war eines der am stärksten von der deutschen nationalsozialistischen Besatzung betroffenen Länder. Bis vor kurzem galt die anerkannte Zahl von 2,2 Millionen Menschen, die dort starben. Inzwischen gehen die Meinungen der Forscher auseinander, sie nennen Zahlen zwischen 1,6 und 3 Millionen. Die Einzelschicksale von Menschen, die verschiedene Opfergruppen der belarusischen Bevölkerung repräsentieren, zeigen die Tragödie dieses Krieges in umfangreicher und eindrucksvoller Weise. Welchen Stellenwert hat die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen in Belarus in Deutschland? Wie wird über dieses Thema öffentlich berichtet und wie wird es von den Menschen wahrgenommen?
Die komplexe Landschaft der Identitäten in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) der 1920er Jahre, der belarusische Multikulturalismus, zeigte sich in der Existenz von vier Staatssprachen für die Region: Belarusisch, Russisch, Polnisch und Jiddisch. Inschriften in diesen Sprachen waren beispielsweise auf dem Bahnhof der Hauptstadt Minsk zu finden.²
Die Aufzählung dieser Sprachen verrät etwas über die größten Bevölkerungsgruppen in der BSSR, deren Vertreter sich ihrer Identität nicht immer bewusst waren. Für viele junge Juden und Jüdinnen wurde aufgrund der Sowjetisierung erst mit dem Beginn der nationalsozialistischen Besatzung klar, dass sie sich irgendwie durch ihre Ethnizität von anderen unterscheiden konnten. Der belarusische Multikulturalismus wurde durch die Katastrophe des Holocausts, bei dem bis zu 90 % der jüdischen Bevölkerung ermordet wurden, verarmt. Die Vernichtung dieser Gruppe war deutlich sichtbar und ist in den Erinnerungen vieler Zeitzeugen festgehalten. Seit der Zeit des Ansiedlungsrayons im Russischen Reich lebten Juden und Jüdinnen massenhaft in belarusischen Städten und „Schtetln“ und bildeten dort manchmal die Mehrheit der Bevölkerung. In der Hauptstadt Minsk machte diese Gruppe bis zu einem Drittel der Bevölkerung aus.
Die Folgen des Friedensvertrags von Riga aus dem Jahr 1921 führten dazu, dass sich die Hälfte der belarusischen Bevölkerung im polnischen Staat befand, in dem es im Laufe der Zeit immer weniger Raum für die Rechte der nationalen Minderheiten gab. Während einer Forschungsexpedition des Belarusischen Oral History Archive entlang der ehemaligen sowjetisch-polnischen Grenze zeichneten wir zahlreiche Geschichten von Bewohner:innen der getrennten Dörfer und sogar von Familienmitgliedern auf, von denen sich einige erst 1941, als die Grenze aufgrund des sowjetisch-deutschen Krieges endgültig aufgehoben wurde, zum ersten Mal sehen konnten.
Wie in der Ukraine wird auch in Belarus noch immer zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil unterschieden, und die Bewohner nennen sich auch heute noch manchmal „Westler“ bzw. „Ostler“. Exemplarisch sei auf die ehemalige Ostarbeiterin Volha Dzjatschenka verwiesen, deren Geschichte im digitalen Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“ zu finden ist.³ Sie wurde 1925 in Dawyd Haradok im Süden Belarus (Palessie), im damaligen Polen, geboren. Im Jahr 1939 wurden diese Gebiete an die BSSR angegliedert, während des Krieges wurden sie Teil des Reichskommissariats Ukraine.⁴ Sie wurde zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht, wo sie gezwungen wurde, das Zeichen „OST“ zu tragen.
Damals versuchte sie gemeinsam mit anderen Zwangsarbeiter:innen zu protestieren, da sie erkannten, dass diejenigen mit dem „P“-Abzeichen (Polen) mehr Freiheiten im Alltag hatten. Nach weniger als zwei Jahren im Sowjetstaat, in dem sie die Region nicht verlassen durften, fühlte sie sich nicht als „Ostler“. Während meiner Arbeit über das Minsker Ghetto begegnete mir häufig die Bezeichnung „Russen“ in Bezug auf alle slawischen, nichtjüdischen Einwohner. Dementsprechend wurde in Minsk während des Krieges der Rest der Stadt außerhalb des Ghettos als „russisches Viertel“ bezeichnet.
Wen betrachten wir als Opfer des Krieges auf belarussischem Gebiet? Es geht um gängige Stereotypen – sie nur als sowjetisch zu bezeichnen, bedeutet nicht, dass sie alle einschließen. Denn unter ihnen waren Bewohner des westlichen Belarus, die sich nicht als Sowjetbürger fühlten, deportierte Juden und Jüdinnen aus West- und Mitteleuropa oder Rom:nja. Die Zahl der Identitäten der Kriegsopfer ist vielfältig, und für Forscher:innen und Pädagog:innen kommt es darauf an, die Situation umfassend zu betrachten. Das Selbstbewusstsein der heutigen Belarus:innen ist heute viel ausgeprägter und hat sich nach den Ereignissen von 1991 und 2020 noch verstärkt. Man hört oft die Reaktionen derjenigen von ihnen, die Gedenkstätten und Museen zum Thema Zweiter Weltkrieg in verschiedenen europäischen Ländern besuchen: Wo sind wir? Warum haben sie den Namen der Region und damit verbundene Zahlen wieder einmal vergessen, heruntergespielt, falsch geschrieben? Warum wurde für die Transkription belarusischer Orte und Namen belarusischer Opfer das Russische statt das Belarusische verwendet? Wie unterscheidet man in Deutschland Weißgardisten von Belarusen?⁵ Es ist nicht verwunderlich, dass die Belarusisch-Deutsche Historische Kommission sogar Regeln für die Schreibweise der Landesbezeichnung Belarus und seiner Einwohner:innen (Belarusen, Belarusin) empfahl.⁶
Die derzeitige komplexe politische Situation zeigt, dass Gedenkstätten und Museen für solche Anfragen aus den Herkunftsorten der Kriegsopfer sensibel sein müssen. Dazu gehört auch die Feststellung, dass sie aus dem heutigen Belarus und der Ukraine stammen. Es ist auch grundlegender Widerstand gegen die Instrumentalisierung der Geschichte durch Populisten, die u. a. mit dem Putin- und Lukaschenka-Regime sympathisieren, vonnöten. Andernfalls wird die Erinnerung an den Krieg in Belarus genutzt, um den Aggressor, Putins Russland, zu rechtfertigen. Selbst zur Zeit der großen Proteste im Jahr 2020 scheint sich die belarusische Identität noch nicht vollständig ausgebildet zu haben. Die nicht allzu zahlreiche belarusische Diaspora in Deutschland wird in der deutschen Öffentlichkeit kaum gehört. Bisher sind diejenigen, die 2020 bis 2022 vor Repression und Krieg flohen und noch nicht genug Deutsch gelernt haben, oft denjenigen unterlegen, die Belarus nicht von Russland trennen. Letzteres kann somit Teil eines hybriden Krieges werden, in dem Lukaschenkas Regime zusammen mit Putins Regime die Geschichte zu einer Waffe gemacht hat.
Das Trauma der Verbrechen des Nationalsozialismus ist bis heute in der belarusischen Gesellschaft präsent. Formen des Erinnerns finden sich in Familiengeschichten, bei Gedenkveranstaltungen sowie in Schulbüchern, Museumsausstellungen und Denkmälern. Dieses Trauma ist eng mit dem Trauma der Verfolgung während der stalinistischen Zeit verwoben.
Die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs ist für die belarusische Gesellschaft traumatischer als die Erfahrung der stalinistischen Zeit, aber dennoch gibt es eine auffallend ungleiche Darstellung dieser beiden Themen im öffentlichen Raum. Das Ignorieren des Themas der sowjetischen Repressionen durch das Lukaschenka-Regime und die gleichzeitige totale Konzentration auf die Zeit des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges führte zu einer gewissen Konfrontation zwischen kommunikativem Gedächtnis und offizieller Erinnerungspolitik.
Lange Zeit galt die Erinnerung an den Krieg stereotypisch als das Hauptthema der offiziellen Patriotismuserziehung des Regimes. Das war nichts Neues – die Ausrichtung auf die Betonung des Heldentums der Kriegszeit gab es schon in der Sowjetzeit. Das Lukaschenka-Regime hat diese Tendenz fortgesetzt, nur entsprechend seinen Vorstellungen angepasst. Die Rituale haben eine Kontrollfunktion und sind für die meisten jungen Menschen nicht besonders interessant. Man orientiert sich am sowjetischen Narrativ, in dem z. B. Juden und Jüdinnen als besondere Opfergruppe nicht gewürdigt wurden und komplexe existenzielle Entscheidungen, die nicht nur durch den Patriotismus gegenüber der Sowjetunion bedingt waren, keinen Platz hatten. In dieser Hinsicht sind die Schulbücher bezeichnend dafür, dass sie unangenehme Themen bei der Darstellung des Sowjetregimes vermeiden; es gibt nicht genügend Informationen über die Tragödie des Holocaust, bei dem fast alle Juden und Jüdinnen in Belarus vernichtet wurden. Erst 2019 taucht das Wort „Holocaust“ in einem belarusischen Schulbuch auf, und zwar in kleinen Buchstaben.
Es gibt eine Hierarchie der Opfer, die in Maly Traszjanez am Beispiel des Gedenkzeichens in Blahaushchyna deutlich wird. Als Trend in der Gedenkkultur setzt sich die Entpersönlichung fort. Die Vorbereitung der Gedenkstätte auf die Eröffnung durch das Regime wurde von der Beseitigung des „unbequemen“ Teils der Geschichte begleitet. Kreuze für NKWD-Häftlinge, die in den ersten Kriegstagen durch Blahaushchyna geführt und von denen einige getötet wurden sowie für Vinzent Hadleuski, ein Opfer der Nazis, der wegen seiner national orientierten Ansichten nicht in das ideologische Format des Regimes passte, verschwanden.
Gleichzeitig interessierten sich zivilgesellschaftliche Aktivisten:innen, die aufgrund ihrer Einseitigkeit und mangelnden kritischen Reflexion die offiziellen Formate der Kriegserinnerung nicht akzeptierten, für das, was nicht gesagt wurde, sowohl zum Thema der stalinistischen Repressionen als auch zu den „unbequemen“ Seiten der Kriegsgeschichte. Mangels ausreichender Forschungsergebnisse verließ man sich sehr oft auf das, was man von Zeitzeug:innen gehört hatte. Vor 2020 entwickelten sich noch verschiedene unabhängige Projekte im Bereich der Erinnerungskultur.
Akteur:innen aus der Zivilgesellschaft und Vermittler:innen versuchten, die Situation der Erinnerungskultur zu verbessern. Vor 2020 gab es viele verschiedene Projekte in diesem Bereich, auch internationale, die über die Verfolgung von Menschen mit Behinderungen, Ostarbeiter:innen, Juden und Jüdinnen, einschließlich der nach Minsk deportierten, berichteten. Im Rahmen von Hackathons und anderen Veranstaltungen wurden von Vertretern unterschiedlicher Berufsgruppen verschiedene Formate diskutiert, wie sie am besten umgesetzt werden können. Solche Projekte zeigten die zunehmende Einbeziehung des Themas der Kriegsopfer aus Belarus in den allgemeinen Kontext der europäischen Erinnerungskultur. Verschiedene lokale Initiativen setzten sich dafür ein, dass kein Ort, der mit der Tragödie des Holocaust und anderen Gruppen von Kriegsopfern verbunden ist, vergessen wird. So wurden beispielsweise von der Lasarus-Stiftung mehr als hundert Denkmäler errichtet. Die emotional bewegenden Denkmäler aus der Kreativwerkstatt des Architekten Leanid Levin sind unvergesslich (zum Beispiel Denkmäler für sowjetische Kriegsgefangene in Babrujsk oder für Kinder, die dem Krieg zum Opfer gefallen sind, in Krasny Berah).
Bei der Eröffnung der Gedenkstätte Maly Traszjanez in Blahaushchyna im Jahr 2018, in Anwesenheit des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier und anderer Würdenträger, schienen die Wege zu einer transnationalen Erinnerung geebnet zu sein. Doch nachdem das Lukaschenka-Regime im Jahr 2021 gegenüber dem gesamten Westen Ansprüche mit Bezug auf die Erinnerung an den Krieg erhoben hatte, änderten sich die Prioritäten deutlich. Grund dafür war die reale Niederlage des Diktators bei den Wahlen 2020 (er ist seit 1994 an der Macht) und seine mangelnde Bereitschaft, zurückzutreten. Dies führte zu einer massiven Unterdrückung Andersdenkender im Land, die bis heute anhält.
Das Regime beschloss, seine Gegner und die demokratische Gemeinschaft aus verschiedenen Ländern, die sie unterstützte, mit dem Thema Krieg zu bekämpfen. Die neue Tendenz wird durch die Erklärung von Aleh Dzjatschenka, Vizerektor der Staatlichen Universität Mahilou, zum Jahrestag des Beginns des Deutsch-sowjetischen Krieges, die von mir übersetzt wurde, belegt:
„...wir erinnern uns gut daran, dass es vor 80 Jahren das damalige „vereinte Europa“ war, das unter der Führung von Nazi-Deutschland einen totalen Krieg gegen unser Volk entfesselte. Die Geschichte wiederholt sich. Die westlichen Politiker wollen sich heute nicht mehr daran erinnern, also sind sie aufgestiegen und versuchen, mit Hilfe neuer Kollaborateure die Tagesordnung zu ändern, indem sie einen weiteren hybriden Krieg gegen das belarusische Volk entfesseln, Wirtschaftssanktionen verhängen, Flugverbindungen blockieren und Desinformationen über unser Land verbreiten. Dies ist ein Versuch des kollektiven Westens, sich der Verantwortung für den Völkermord am belarusischen Volk während des Großen Vaterländischen Krieges zu entziehen und eine ernsthafte Entschädigung für die Familien der Opfer des belarusischen Holocausts zu vermeiden.“
Die Instrumentalisierung der Geschichte des Krieges nach 2020 für politische Zwecke zeigte sich besonders im Fall des so genannten Völkermordes am belarusischen Volk. Das entsprechende Gesetz, das Anfang 2022 verabschiedet wurde, erkennt „die Ermordung von Sowjetbürgern, die während des Großen Vaterländischen Krieges und bis zum 31. Dezember 1951 auf dem Gebiet der BSSR lebten, durch die Nazis, ihre Komplizen und nationale Formationen“ als Völkermord an. Dazu gehören nicht nur ethnische Belarusen, sondern auch Kriegsgefangene aus verschiedenen Sowjetrepubliken und Opfer des Holocausts. Letzteres zeigt, dass auf diese Weise das Thema des Genozids an Juden und Jüdinnen im Völkermord am belarusischen Volk versteckt und dadurch das Ausmaß dieser Tragödie geschmälert wird. In dem langen Zeitraum bis 1951 wird besonders auf die antipolnische Kampagne im Land hingewiesen, um den antisowjetischen Widerstand der Nachkriegszeit einzubeziehen. Anstelle von Historikern sind die Hauptakteure Staatsanwälte. Zahlen zu Opfern und Verlusten spielen eine große Rolle, weil das Regime beschlossen hat, Entschädigungszahlungen zu fordern, und versucht, seine Position als die richtige zu rechtfertigen. Die Zahlen sind nicht ausreichend belegt und erscheinen daher willkürlich.
Wäre da nicht die vorherrschende politische Komponente des Kampfes gegen die Gegner, könnte man meinen, es ginge um die wirkliche Bewahrung der Erinnerung: Zeugenbefragungen, Ausgrabungen von NS-Mordstätten, Nachforschungen in Archiven in verschiedenen Ländern, um die Täter zu finden. Aber die Einführung einer Reihe von repressiven Gesetzen und deren Änderungen, die gegen Menschen eingesetzt werden können, die die Geschichte kritisch interpretieren, der Kampf gegen „unbequeme“ Orte der Erinnerung zeugen von etwas anderem. So werden beispielsweise Denkmäler für die Armia Krajowa, die Tragödie von Katyn und die Opfer der kommunistischen Repression zerstört. Es gibt keine offiziellen Verlautbarungen, wie sie entfernt wurden, aber in Wirklichkeit sucht auch niemand nach den Schuldigen.
Ein weiteres Beispiel für den Versuch die „notwendige“ Version der Geschichte durchzusetzen zeigt Kurapaty bei Minsk, der berühmteste Ort für die Erschießung von Opfern des Stalinismus in Belarus. Während der gesamten Regierungszeit Lukaschenkas versuchte die politische Lobby, diesen Ort als einen Ort der Nazi-Verbrechen darzustellen, an dem Juden aus dem Minsker Ghetto ermordet worden seien. Obwohl diese Version nicht durch Quellen gestützt wurde, ist Kurapaty mit Inschriften versehen, die behaupten, dass Juden dort von den Nazis ermordet wurden. Da Aktivisten bereits unterdrückt wurden, weil sie öffentlich auf das Schicksal von Kurapaty aufmerksam gemacht hatten, haben diejenigen, die im Land geblieben sind, bisher davon abgesehen, offen gegen diesen Vandalismus zu protestieren, auch um nicht wegen weit hergeholter Anschuldigungen unterdrückt zu werden.
Im Zuge der Repressionen gegen Dissidenten werden auch diejenigen verfolgt, die unabhängige, internationale Projekte zur Erinnerungskultur organisiert haben und durch ausländische Institutionen finanziert wurden. Diejenigen, die zuvor versucht haben, den Raum der Erinnerung durch multikulturelle, transnationale Projekte zu verändern, stellen fest, dass die früheren Herausforderungen einfacher waren.
Gleichzeitig zeigt das Regime selbst seine politische Abhängigkeit von Russland, die sich im Bereich der Erinnerung in einem deutlichen Anstieg der Zahl russischbelarusischer Veranstaltungen für Lehrer:innen, Historiker:innen und Jugendlichen manifestiert, die auf eine Zusammenführung der Darstellungen abzielen, wobei die offizielle russische Sichtweise des Themas tendenziell überwiegt. Einen großen Einfluss übt auch die Russische orthodoxe Kirche aus, die eng mit dem Regime verbunden ist und oft einen Vorwand hat, Gedenkstätten an den Krieg zu betreuen.
Die Betonung des Themas der Kollaboration mit dem Besatzungsregime während des Krieges offenbart eine gewisse politisch motivierte Interpretation, die sich leicht im Kontext der russischen Aggression gegen die Ukraine und der Unterstützung des Lukaschenka-Regimes dekonstruieren lässt. Zum Beispiel unter „Vergessen“ der Russischen Befreiungsarmee (ROA), die unter der heutigen russischen Flagge agierte. Die Nazi-Kollaborateure werden als Hauptverbrecher dargestellt, die Nazis als Schuldige in den Hintergrund gedrängt und die wichtigsten Begriffe leichtfertig zur Kennzeichnung der gewünschten Feinde verwendet. Das Cover des Buches „Völkermord am belarusischen Volk“ (Chefredakteur: der belarusische Generalstaatsanwalt Andrei Shved) zeigt dies visuell. Darauf sind Fotos des Zweiten Weltkrieges und von jetzigen Demonstranten nebeneinander abgebildet.
Als positives Datum für die Belarus:innen wurde der 17. September künstlich als Tag der Einheit des belarusischen Volkes eingeführt. Der Kriegsbeginn 1939 wird als „Rettung des westlichen Belarus und der westlichen Ukraine“ dargestellt und nicht als Beteiligung der Sowjetunion an der Entfesselung des Krieges betrachtet.
Im belarusischen Schulbuch von 2021 heißt es, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine erzwungene Maßnahme gewesen, um in der Situation des Wartens auf den unvermeidlichen Krieg Zeit zu gewinnen. Den westeuropäischen Ländern wird die so genannte „Beschwichtigungspolitik“ vorgeworfen, sie fürchteten den Kommunismus mehr als den Hitlerismus und überschätzten die Treue Deutschlands zu den Vereinbarungen. Diese Informationen werden durch die Argumente Stalins in seiner Rundfunkansprache vom 3. Juli 1941 gestützt. Die Tatsache, dass der Geheimvertrag das westliche Belarus und die westliche Ukraine in die Einflusssphäre der UdSSR einbezog, wird als ein Akt der historischen Gerechtigkeit bezeichnet.
Das Gefühl der historischen Zweideutigkeit dieses Datums war in Lukaschenkas Rede am 17. September 2021 präsent, als er versuchte, das damalige Vorgehen der UdSSR in folgendem Stil zu rechtfertigen: „Und wenn wir, die Rote Armee, unsere Truppen nicht nach Westen, nach Brest und Hrodna, verlegt hätten, wären die Deutschen dort, an dieser westlichen Grenze, nicht stehen geblieben. Sie wären bereits in der Nähe von Minsk gewesen. Und ich wage heute zu behaupten, dass, wenn die Deutschen 1939, zwei Jahre vor dem Angriff der Nazis auf die Sowjetunion, in der Nähe von Minsk gewesen wären, ich fürchte, dass es 1945 keinen Großen Sieg gegeben hätte. Ein Wurf nach Moskau und die Sowjetunion hätte nicht existiert“.
Wie könnte sich eine gemeinsame belarusisch-deutsche Erinnerungskultur nach einer so massiven Instrumentalisierung entwickeln? Bleibt dieses Thema für junge Menschen interessant, die bereits mehrere Generationen von den Ereignissen entfernt sind und sich von patriotischen Spielchen nicht angesprochen fühlen?
Deutsche Akteure der Erinnerungskultur haben heute so gut wie keine offiziellen Kontakte zu Belarus. Die Arbeit der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission ist eingefroren, die Repräsentanzen fast aller deutschen Organisationen sind geschlossen worden. Die letzten verbliebenen stehen vor der Frage, wie viel Zeit sie noch haben und unter welchen Bedingungen sie arbeiten dürfen.
Nichtsdestotrotz sind an verschiedenen Orten in Belarus die früheren Ergebnisse unabhängiger Projekte zur Erinnerungskultur immer noch sichtbar und es gibt sogar einige neue Initiativen. Diese Informationen werden nicht öffentlich bekannt gemacht, damit diese „Inseln“ nicht verschwinden. Da das Regime die Erinnerungsstätten und den Bildungsbereich in Belarus stark kontrolliert, ist die Präsentation neuer Projekte im Internet der zugänglichste Weg, um sie vorzustellen. Mit Schwierigkeiten werden bei solchen Projekten nicht-öffentliche Partnerschaften mit unabhängigen, qualifizierten belarusischen Akteuren auf dem Gebiet der Erinnerung gepflegt, um einen professionellen Austausch und eine künftige Erneuerung des Erinnerungsdialogs zwischen den beiden Ländern zu ermöglichen. Die Aktivist:innen müssen mit einer Situation umgehen, in der sie aufgrund von Sanktionen nicht offiziell mit europäischen Ländern zusammenarbeiten können und in Belarus selbst von Verfolgung bedroht sind.
Die Herausforderung der Covid-Epidemie hat dazu beigetragen, dass viele digitale Formate entstanden sind, und nun zur Zukunft der Erinnerungskultur in Belarus beitragen, zumindest zur Anhäufung von Wissen. Digitale Produkte können ortsunabhängig genutzt werden und erreichen ein breites Publikum. Die Technologien ermöglichen nicht nur Multiperspektivität, sondern auch die Verarbeitung einer großen Menge von Daten. Zum Beispiel die Analyse einer sehr umfangreichen Sammlung von Erinnerungen von Zeitzeug:innen, um darin die Namen von NS-Opfern zu finden und ihre Biografien zu rekonstruieren, die Schaffung verschiedener Datenbanken, die verbessert werden könnten, usw. Die Entwicklung der Technologie gibt Impulse für die Entstehung neuer Formate, die für die jüngere Generation von Interesse sein können, um das historische Wissen zu entwickeln und weiter zu tragen.
Iryna Kashtalian ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projektes „Erneuerung der Dauerausstellung zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2“. Sie promovierte an der FU Berlin zu den repressiven Faktoren der Innenpolitik der UdSSR und ihren Auswirkungen auf den Alltag der belarusischen Gesellschaft (1944–1953).
1 In Belarus gehört die Mehrheit der Gläubigen der orthodoxen Kirche an.
2 Dieser Trend setzte sich bis in die 1930er-Jahre fort.
3 Interview mit Olga Djatschenko, in: Interview-Archiv „Zwangsarbeit 1939–1945“, za011.
4 Das Gebiet des heutigen Belarus gehörte während der nationalsozialistischen Besatzung zu fünf verschiedenen administrativ-territorialen Einheiten.
5 Weißrussen findet man als Begriff für Weißgardisten sowie Belarusen.
6 https://razam.de/wp-content/uploads/2022/07/200715_pressemitteilung_geschichtskommission_by_de.pdf
7 Die Zeit des sowjetisch-deutschen Krieges von 1941–1945.
8 Zum Beispiel das Museum für Geschichte und Kultur der belarusischen Juden bei der Jüdischen Gemeinde und Geschichtswerkstatt Leanid Levin, beide in Minsk.
9 Ein Forum für Entwickler, in dem Fachspezialisten aus verschiedenen Softwareentwicklungsbereichen und Themen (Programmierer, Designer, Themenexperten, etc.) eine Zeit lang gemeinsam an der Lösung eines Problems arbeiten.
10 https://pravo.by/document/?guid=12551&p0=H12200146
11 Neben dem oben erwähnten „Gesetz über den Völkermord am belarusischen Volk“ gibt es auch das „Gesetz zur Verhinderung der Rehabilitierung des Nazismus“ vom 14.5.2021 (https://pravo.by/document/?guid=12551&p0=H12100103&p1=1), das Gesetz zur Bekämpfung des Extremismus (letzte Änderungen vom 14.5.2021 und 17.7.2023).
12 Koshelev, Vladimir (2021): Vsemirnaja istorija, XIX — nachalo XXI v.: ucheb. posobie dlja 11-go kl. [Weltgeschichte, 19. und frühes 21. Jahrhundert: Lehrbuch für Klasse 11], Minsk, 2021, S. 152–154.
13 Offizielle Seite von Machthaber Lukashenka: https://president.gov.by/ru/events/uchastie-v-forume-patrioticheskih-sil-simvol-edinstva
14 Zum Beispiel, Materialien über Maly Traszjanez: https://izi.travel/de/4f73-maly-trostenets-eine-kultur-der-erinnerung/de https://izi.travel/de/cd94-maly-trostenets-tragodie-und-ihr-ort/de https://trostenez.org/en/ausstellung/ https://malytrostinec.nghm-uos.de/