Stiftung

Gewalt ohne Grenzen

Die Todesmärsche und die Deutschen

„Wieder Anschlag auf Weimarer Gedenkprojekt“, „Todesmarsch-Gedenktafel in Kranichfeld gestohlen und durch Polizei gefunden“, „Sprayer beschmiert im Kreis Nordhausen eine Todesmarsch-Stele“ – diese Schlagzeilen aus den vergangenen Jahren1 verdeutlichen, dass Erinnerungszeichen für die Opfer des Nationalsozialismus immer wieder zum Ziel von Attacken und Vandalismus werden. Die zunehmenden politisch motivierten Aggressionen gegen Gedenkstätten finden nicht nur an Orten ehemaliger Lager statt, sondern richten sich zudem gegen Erinnerungstafeln, Gedenksteine oder andere Installationen im öffentlichen Raum, die fast überall in Deutschland und auch in ländlichen Regionen zu finden sind. Viele von ihnen beziehen sich historisch auf die Todesmärsche im Frühjahr 1945. Dass sie in den Fokus von Geschichtsrevisionist:innen und Neonazis geraten, ist kein Zufall. Denn sie sind sichtbare Zeichen dafür, dass die nationalsozialistischen Massenverbrechen inmitten der deutschen Gesellschaft stattfanden – und damit erinnern sie nicht nur an die Opfer, sondern auch an die Täter:innen, Zuschauer:innen und Mitwisser:innen von flächendeckender Gewalt und tausendfachem Mord.

Zu Beginn des Jahres 1945 befanden sich mehr als 700.000 Gefangene in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten. Neben den großen Hauptlagern hatte die SS ein flächendeckendes Netz von mehr als 700 KZ-Außenlagern eingerichtet. Noch während sich dieses Lagersystem immer weiter ausbreitete, schrumpfte der deutsche Machtbereich durch das Vorrücken der Alliierten. Da kein Häftling lebend in die Hände der Befreier fallen sollte, räumte die SS fast alle Konzentrations- und Außenlager vor deren Eintreffen. Die Gefangenen wurden auf mörderische Bahntransporte oder auszehrende Gewaltmärsche getrieben – angetrieben von den Wachmannschaften, die Fliehende oder vor Erschöpfung Zurückbleibende erschossen.

Diese von den Häftlingen so bezeichneten Todesmärsche und Räumungstransporte mit hunderttausenden entkräfteten, hungernden und sterbenden KZ-Häftlingen sowie deren Bewacher:innen kamen nun auch in Orte, in denen es keine Lager gegeben hatte. Gefangene wurden mitten in Dörfern und Städten, auf Bahnhöfen, Waldwegen oder Landstraßen misshandelt, ermordet und anschließend verscharrt.

Anfang April 1945 stand den Deutschen nur noch ein schmaler Korridor zur Verfügung, in dem die Häftlinge immer zielloser verschoben wurden. Die Räumung der Konzentrationslager Mittelbau und Buchenwald markiert die verbliebenen Richtungen: Die Häftlinge aus Buchenwald – viele von ihnen waren erst kurz zuvor bei der Auflösung der Außenlager ins Stammlager verfrachtet worden – wurden zumeist nach Südosten, in Richtung der Lager Flossenbürg und Dachau getrieben.2 Bald darauf räumte die SS auch diese Lager. Die Insassen des KZ Mittelbau wurden vor allem nach Norden verbracht – insbesondere nach Bergen-Belsen. Als die letzten Häftlinge Anfang Mai 1945 von den Alliierten befreit wurden, waren Schätzungen zufolge bei den Todesmärschen bis zu 250.000 Menschen gestorben.3 Das KZ-System hatte mit einem letzten Gewaltexzess seine Grenzen vollständig verloren und sich Stück für Stück, Kolonne für Kolonne inmitten der nationalsozialistischen Gesellschaft der Kriegsendphase aufgelöst.4

Auf den ersten Blick erwecken die Todesmärsche den Eindruck, es habe sich um ein völlig spontan improvisiertes Chaos gehandelt. Und tatsächlich wurde häufig von einer Situation zur anderen entschieden. Allerdings erforderte die Durchführung des komplexen Unternehmens, hunderttausende entkräftete Häftlinge wochenlang quer durchs Reichsgebiet zu treiben, große logistische Anstrengungen. Von Beginn an waren die Kolonnenführer der SS und die Wachmannschaften auf die lokalen Strukturen und Akteure sowie deren Mitwirkung vor Ort angewiesen. Das begann bei der Versorgung von Wachmannschaften und Gefangenen mit Lebensmitteln sowie der Bereitstellung von Unterkünften oder Transportmitteln, setzte sich mit der Unterstützung der Bewacher:innen fort, reichte bis zur Involvierung Einheimischer in Gewalttaten und Morde und fand sein Ende beim Verwischen der Spuren durch das Verscharren der Opfer.

Beteiligt waren an all dem neben der Verwaltungsebene paramilitärische Formationen wie die Hitler-Jugend (HJ) sowie andere gut zu mobilisierende NS-Organisationen wie der Reichsarbeitsdienst oder das NS-Kraftfahrerkorps – und nicht zuletzt Zivilist:innen. Je nach Konstellation agierten diese Akteure als Einzelpersonen, in Gruppen, als Unterstützer:innen und Helfer, als Gelegenheits­täter, erfahrene Tötungsprofis oder widerwillige Vollstrecker: NSDAP-Ortsgruppenleiter traten häufig als radikale „Macher“ auf, Ortsbürgermeister hingegen waren als Organisatoren und Verwalter um eine pragmatische und „ordnungsgemäße“ Abwicklung bemüht und stellten ihr Improvisationsgeschick unter Beweis. Polizei und Gendarmerie agierten als flexible Ordnungsmacht. Sie taten sich besonders dann mit Gewalttaten hervor, wenn keine Wachmannschaften in der Nähe waren. Dies trifft auch für den „Volkssturm“ zu, die im Herbst 1944 aufgestellte Miliz, in der alle „waffenfähigen“ Männer zwischen 16 und 60 Jahren zusammengefasst werden sollten.

Auch hier prägten persönliche Beziehungen und situative Faktoren die Gewaltdynamiken mitunter stärker als politische Dispositionen. Die HJ war straffer organisiert – dennoch zeigen sich auch dort nur wenige Beispiele für nationalsozialistische Weltanschauungs- und Überzeugungstäter. Für die Jugendlichen war die Jagd auf geflohene Häftlinge vielmehr eine Gelegenheit, sich gegenseitig Mut, Militanz und Männlichkeit zu beweisen.

Dass es parallel dazu im Einzelfall durchaus Unterstützung und Hilfeleistung seitens der einheimischen Bevölkerung für KZ-Häftlinge gab; dass Geflohene mitunter mit Essen versorgt oder gar versteckt wurden, zeigt deutlich die Breite der Handlungsspielräume, die für die beteiligten Akteure in der unübersichtlichen Situation der Kriegsendphase bestanden. Allerdings sind für das Gebiet im Inneren des Deutschen Reichs keine organisierten größeren Rettungsaktionen für KZ-Häftlinge überliefert, wie sie etwa aus der Gegend um Prag bekannt wurden. Dort verhalf die tschechische Bevölkerung mehreren hundert KZ-Häftlingen zur Flucht aus einem Zugtransport.5

Dem Durchzug oder der Ankunft der KZ-Häftlinge in den Ortschaften gingen sich verselbständigende Gerüchte über Raub und Gewalttaten seitens der Gefangenen voraus und mobilisierten die Bevölkerung. So rechneten die Bewohner:innen von Dörfern im heutigen Salzlandkreis Anfang April 1945 mit dem Eintreffen von „mehreren tausend Kriminellen“, die von den US-Amerikanern in Nordhausen befreit worden seien und sich angeblich marodierend Richtung Osten bewegen würden. In Wirklichkeit handelte es sich dabei jedoch um von der SS bewachte Todesmärsche aus dem Buchenwalder Außenlager Langenstein-Zwieberge. Der lokale Volkssturm war dennoch alarmiert und beteiligte sich am Transport und der Ermordung von KZ-Häftlingen. In Roxförde bei Gardelegen lieferten aufgebrachte Männer und Frauen aus dem Dorf Häftlinge an Soldaten aus. Einen der Geflohenen hatten sie dafür mit dem Versprechen, ihm Essen zu geben, aus seinem Versteck gelockt.6 Mitunter griffen Zivilisten auch zur Selbstjustiz und töteten KZ-Häftlinge auf Eigeninitiative: In den Wäldern um Breitenstein im Harz waren etliche Gefangene von einem Todesmarsch geflohen. An einem Aprilmorgen wurden zwei von ihnen in einem Schuppen entdeckt, der dem örtlichen Förster gehörte. Er erschoss einen der Flüchtenden, der andere konnte entkommen. Auf der nördlichen Seite des Harzes wiederum, in Börnecke, versorgte eine Familie zwei KZ-Insassen, die sich vor der Räumung des nahe gelegenen KZ-Außenlagers Langenstein-Zwieberge verstecken und kurz darauf fliehen konnten, in ihrem Haus.7

Diese Beispiele zeigen nur einen kleinen Ausschnitt. Doch wo immer man das Geschehen während der Todesmärsche in den Blick nimmt – ob in Thüringen oder Sachsen, in Bayern oder Schleswig-Holstein – die Handlungsmuster gleichen sich, sie traten dezentral und flächendeckend auf. Das ist bemerkenswert, da kaum direkte Verbindungen zwischen den Tatorten oder einheitliche Befehle festzustellen sind. Die konkrete Bewältigung der Räumungstransporte, die Einbindung von Organisationen, Autoritäten sowie der Einwohner:innen wurde auf lokaler Ebene nicht durch Befehle von oben durchgesetzt, sondern ad hoc improvisiert.

Der Handlungsrahmen war für die Beteiligten aus der Bevölkerung zum einen die zusammenbrechende, aber noch immer auch ideologisch wirkmächtige nationalsozialistische Herrschaft; zum anderen das zu erwartende und in seinen Auswirkungen kaum vorhersehbare Eintreffen der Alliierten. Es zeichnet sich ab, dass die Konfrontation mit den Todesmärschen, mit tausenden Fremden in den Dörfern, einhergehend mit massiver Gewalt und zahlreichen Toten, als Bedrohung und Zumutung wahrgenommen wurde – als ein Problem, dessen man sich umgehend entledigen wollte. Innerhalb der Ortschaften wurden andere Einwohnerinnen und Einwohner meist im Sinne von „Nachbarschaftshilfe“ unterstützt. Vor allem aber bestand die Lösung aus dieser Perspektive darin, das Problem an die nächstgelegene Gemeinde zu delegieren: Wenn möglich, wurden die Häftlinge so schnell es ging weitergeschleust; wenn nötig, wurden die Zwischenstationen bereitet, Gefangene selbst transportiert und erschöpfte Wachleute entlastet oder ersetzt. Zurückgebliebene oder Geflohene wurden an SS, Polizei oder Wehrmacht ausgeliefert; wenn das nicht möglich war, teilweise auch eigenhändig ermordet. Nach dem Durchzug bemühte man sich, die Leichen der Opfer vor ihrer Entdeckung durch die Alliierten verschwinden zu lassen, um Schaden von der Ortschaft abzuwenden.

In der Regel versuchten die Einheimischen, den direkten Kontakt zu den Gefangenen zu meiden, solange noch KZ-Wachmannschaften vor Ort waren. Sobald dies nicht mehr der Fall war, übernahmen sie mit Bewachung, Transport und Gewaltausübung zu großen Teilen deren Funktionen. Feindliches Verhalten gegenüber KZ-Häftlingen hing also weniger – wie später häufig behauptet – mit der bedrohlichen Allgegenwart der SS zusammen, sondern häufig ganz im Gegenteil mit deren Abwesenheit.

Auch wenn die einheimischen (Mit-)Täter:innen zweifellos noch einmal ganz im Sinne der sich gerade auflösenden „Volksgemeinschaft“ handelten und einige unter Umständen die letzte Chance zur nationalsozialistischen Selbstermächtigung wahrnahmen, ging es bei der Beteiligung an diesen Verbrechen weniger um die ideologisch motivierte Aufrechterhaltung der rassistischen und antisemitischen Gesellschaftsordnung als vielmehr um die lokale Bewältigung einer als Bedrohung und Zumutung wahrgenommenen Situation. Damit sind die Todesmärsche ein extremes historisches Beispiel für das Handeln „ganz normaler“ Leute in Momenten, in denen die kollektiv eingeübte und praktizierte Abwertung bestimmter Menschengruppen auf gezielt geschürte Ängste trifft und zugleich der Möglichkeit zur Gewaltausübung keine Grenzen gesetzt werden.

Nach Kriegsende wurden einige der (Mit-)Täter:innen aus der lokalen Bevölkerung strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen – insbesondere in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ). Mit der Gründung der DDR 1949 kam die justizielle Ahndung der Todesmarschverbrechen allerdings fast zum Erliegen. Im Geschichtsbild der SED als Staatspartei eines neuen, sich als antifaschistisch verstehenden Landes war wenig Platz für eine Thematisierung der breiten Involvierung der Deutschen in nationalsozialistische Massenverbrechen. Deshalb spielte dieser Aspekt in der Betrachtung der Geschichte der Konzentrationslager kaum eine Rolle. Zwar wurden insbesondere in den 1980er-Jahren DDR-weit zahlreiche Denkmäler und Gedenksteine mit Bezug zu den Todesmärschen auch in kleinsten Ortschaften errichtet – ihre Inschriften blieben jedoch in der Regel formelhaft und schrieben die Verantwortung ausschließlich der SS als Tätergruppe zu. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands entstanden darüber hinaus aus zivilgesellschaftlichen Initiativen an vielen Orten neue Gedenkzeichen, die an die Todesmärsche erinnern – nun auch im Westen Deutschlands, wo es bislang kaum Gedenkzeichen für Todesmarschopfer gegeben hatte.

Somit gibt es über das ganze Land verteilt und insbesondere im ländlichen Raum eine dichte Topographie von Gedenk- und Informationstafeln, Gedenksteinen und anderen sichtbaren historischen Markierungen aus verschiedenen Zeitschichten zum Komplex der Todesmärsche. Sie sind auch abseits großer Gedenkstätten mit pädagogischen Bildungsangeboten8 ein zugänglicher und lokal verankerter Anknüpfungspunkt für eine tiefere Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen vor Ort und deren Nachwirkungen.

Damit können sie – kritisch erörtert – Fragen nach den gesellschaftlichen und situativen Bedingungen von „nachbarschaftlicher“ Gruppengewalt gegenüber Schwächeren aufwerfen. Schändungen und Zerstörungen wie in den eingangs angeführten Beispielen richten sich gegen dieses Potenzial für die historisch-politische Bildungsarbeit und gegen ein Gedenken der vor aller Augen ermordeten Opfer. Umso mehr sollten diese „kleinen“ dezentralen Gedenkorte und Erinnerungszeichen geschützt und gepflegt, vor allem aber noch stärker dafür genutzt werden, ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein direkt vor der Haustür zu entwickeln.

Martin Clemens Winter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Alfred Landecker Lecturer am Historischen Seminar der Universität Leipzig. In seinem Post-Doc-Projekt forscht er zu „Unternehmenskultur, Zwangsarbeit und Judenmord beim Leipziger Rüstungskonzern HASAG“.

  1. Vgl. die Online-Artikel: https://www.thueringer-allgemeine.de/lokales/ nordhausen/article407019517/sprayer-beschmiert- im-kreis-nordhausen-eine-todesmarsch-stele-polizei- sucht-zeugen.html (2024), https://www.thueringer-allgemeine.de/regionen/weimar/article238077133/ Gedenktafel-in-Kranichfeld-verschwunden.html (2023), https://www.buchenwald.de/en/newsroom/Wieder Anschlag-auf-Weimarer-Gedenkprojekt (2022).
  2. Greiser, Katrin (2008): Die Todesmärsche von Buchenwald. Räumung, Befreiung und Spuren der Erinnerung, Göttingen.
  3. Vgl. als Überblicksdarstellung zu den Todesmärschen Blatman, Daniel (2011): Die Todesmärsche 1944/45. Das letzte Kapitel des nationalsozialistischen Massenmords, Reinbek bei Hamburg.
  4. Die folgenden Ausführungen und die nicht separat zitierten Beispiele dieses Artikels entstammen meiner Dissertation: Winter, Martin Clemens (2018): Gewalt und Erinnerung im ländlichen Raum. Die deutsche Bevölkerung und die Todesmärsche, Berlin.
  5. Vgl. dazu u. a. die TV-Dokumentation Todeszug in die Freiheit (2018), Regie: Andrea Mocellin / Thomas Muggenthaler, Bayerischer Rundfunk.
  6. Urteil des BG Magdeburg, 13.4.1953, in: Rüter, Christiaan F. (Hrsg.) (2004): DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen, Bd. IV, S. 257–262.
  7. Akte 10280, in: Gutman, Israel (Hrsg.) (2005): Lexikon der Gerechten unter den Völkern. Deutsche und Österreicher, Göttingen, S. 257.
  8. Mit der Gedenkstätte Todesmarsch im Belower Wald (Außenstelle des Museums und der Gedenkstätte Sachsenhausen / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten) und der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen (Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt) gibt es derzeit zwei institutionalisierte Gedenkstätten, die sich schwerpunktmäßig und mit regionalem Fokus den Todesmärschen widmen. 
var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();