Liebe Leser:innen,
Sie haben Heft 5 unseres (Online-)Jahresmagazins Reflexionen vor sich. Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes und der Befreiung vom Nationalsozialismus widmet es sich in seinem Schwerpunkt der Eskalation der NS-Verbrechen im Frühjahr 1945 und der Frage, wie die Überlebenden, aber auch die Täter:innen das Kriegsende sowie die Wochen und Monate danach erlebten: Wie gestaltete sich das Leben in den befreiten Konzentrationslagern? Wie handelten die Befreiten? Die Bandbreite zeigen im vorliegenden Heft exemplarisch u. a. Berichte über die Rückkehr befreiter Häftlinge nach Paris und über die Selbsthilfe jüdischer Häftlinge aus dem KZ Mittelbau-Dora, die – angeführt u. a. vom späteren Präsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland Heinz Galinski – unmittelbar nach ihrer Befreiung im KZ Bergen-Belsen ein Komitee gründeten, um sich gegenseitig zu unterstützen und die Interessen der jüdischen Überlebenden gegenüber den britischen Befreiern zu vertreten. Das Heft richtet den Blick auf die Akteur:innen, nicht nur unter den Opfern, sondern auch auf Seiten der Täter:innen und Profiteure der NS-Verbrechen. Deutlich wird, dass Geschichte nicht einfach geschieht, sondern eine Folge konkreter Entscheidungen handelnder Personen ist – Entscheidungen, die von Solidarität und Humanität getragen sein können, oder auch, wie die im Heft vorgestellten Verbrechen während der Todesmärsche zeigen, von Hass, Eigennutz, Ängsten oder auch Feigheit. Der Blick auf die Akteur:innen bildet einen didaktischen Schwerpunkt in der historisch-politischen Bildungsarbeit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora. Das zeigen auch die Beiträge zur Tätigkeit der beiden Gedenkstätten wie auch des Museums Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, das im Mai 2024 eröffnet wurde. Die akteursorientierte Bildungsarbeit soll die Besucher:innen darin stärken, ethisch und politisch verantwortungsbewusst zu handeln.
Stiftung

©Jens Meyer
Dazu tragen auch historisch-politische Interventionen der Stiftung im öffentlichen Raum bei, sowohl mit digitalen als auch mit analogen Formaten. Vorgestellt wird im vorliegenden Heft etwa unsere zusammen mit der Friedrich-Schiller-Universität Jena realisierte Website „Geschichte statt Mythen“, die sich mit wissenschaftlich basierten und quellengestützten Informationen gegen den zunehmend verbreiteten Geschichtsrevisionismus wendet. (S. 68) Auch der Beitrag über neue forensische Befunde zu menschlichen Überresten in den Sammlungen der Gedenkstätte Buchenwald setzt Mythen und Desinformation seriöse Aufklärung entgegen. (S. 102)
Wie wichtig diese Aufklärungsarbeit ist, zeigen die inzwischen auch offenen Angriffe von Rechtsextremen
auf die Gedenkstättenarbeit. Einen wesentlichen Anteilhat dabei die AfD. Notorisch wird unsere Arbeit aus ihren Reihen als „Schuldkult“ diskreditiert und wird versucht, dem kritischen Blick auf die NS-Verbrechen den Stolz auf eine vermeintlich ruhmreiche deutsche Geschichte entgegenzustellen. Wenn so etwas aus den Parlamenten heraus verkündet wird, wie etwa im November 2024 zum Fall Gispersleben (S. 36), dann fühlen sich Neonazis animiert, selbst zur Tat zu schreiten. Hakenkreuz-Schmierereien in den Gedenkstätten, abgesägte Gedenkbäume für KZ-Opfer und Drohungen gegen Gedenkstättenmitarbeiter:innen sind die Folge.
In der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora werden wir uns davon aber nicht einschüchtern
lassen und uns weiterhin nicht nur für die kritische Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Folgen, sondern auch für eine weltoffene, freie und demokratische Gesellschaft einsetzen, in der die Rechte und
die Würde aller Menschen geachtet werden. Darin bestärkt uns ein wegweisender aktueller Beschluss des
Verwaltungsgerichts Weimar in einem Rechtsstreit mit der AfD, der deutlich macht, dass es für Gedenkstätten
gegenüber Holocaustverharmlosung und Angriffen auf die Menschenwürde keine Neutralität geben kann (S. 54).
2024 war kein einfaches Jahr, und dass das Jahr 2025 besser wird, ist eher unwahrscheinlich. Der russische
Angriffskrieg gegen die Ukraine tobt nach wie vor, etliche von der Hamas nach ihrem brutalen Überfall auf Israel am 7. Oktober 2023 entführte Geiseln befinden sich noch immer in der Hand ihrer Entführer (falls sie noch leben), und im Gaza-Streifen werden, sollte der Waffenstillstand nicht halten, neben Hamas-Terroristen vielleicht auch wieder Unschuldige Opfer israelischer Angriffe. Überall auf der Welt nehmen Antisemitismus und Rassismus zu. Zugleich sind Gegner der liberalen Demokratie und der offenen Gesellschaft weltweit auf dem Vormarsch: In den USA ist Donald Trump wieder im Amt, in Italien regiert eine Postfaschistin und in Österreich vielleicht auch bald ein extrem Rechter, in den Niederlanden ist die rechtsextreme PVV von Geert Wilders Teil der Regierung, in Ungarn ist die liberale Demokratie de facto abgeschafft, in Frankreich greift die Rechtsextreme Marine le Pen nach der Macht, und in Deutschland wurden extrem Rechte bei der Bundestagswahl zweitstärkste Partei – etwas, was nach 1945 jahrzehntelang undenkbar war.
Weltweit lässt das Bewusstsein der Menschen für den Wert von Demokratie, Humanität und unteilbaren Men-
schenrechten nach. Umso wichtiger ist die Arbeit von Gedenkstätten und Geschichtsinitiativen, die einen kritischen Blick auf Regime- und Gesellschaftsverbrechen werfen und deutlich machen, welche Relevanz dieser Blick für die demokratische Selbstverständigung in den jeweiligen Ländern hat: Die Geschichte zeigt uns, in welcher Gesellschaft wir nicht leben wollen. In Deutschland zogen die Mütter und Väter des Grundgesetzes 1949 mit Artikel 1 eine ganz grundlegende Lehre aus den Verbrechen des Nationalsozialismus. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, schrieben sie. Die Würde des Menschen, nicht nur des Deutschen. Das kann man nicht oft genug wiederholen.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre unserer Reflexionen 2025!
Jens-Christian Wagner ist der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.