18. April 1945, 15 Uhr, Flughafen Le Bourget bei Paris. Aus einem Flugzeug steigen 24 Männer, die sofort von Journalisten belagert werden. Auf die Frage des Reporters Jean Quittard, wie er sich fühle, antwortet einer von ihnen, Oberst Frédéric-Henri Manhès: „Ich bin so gerührt, Franzosen und Französinnen zu sehen, dass ich nicht weiß, was ich sagen soll. Ich muss Ihnen etwas unbeholfen erscheinen“.1 Manhès war eine Woche zuvor aus dem Konzentrationslager Buchenwald befreit worden. Er gehörte zu den ersten Buchenwald-Überlebenden, die Paris erreichten. Er war Teil einer Gruppe von 44 Persönlichkeiten aus Politik, Militär und Kultur, die auf Befehl des Kommandeurs der III. US-Armee, General Patton, mit zwei Flugzeugen aus Deutschland ausgeflogen wurden, unter ihnen auch der Gewerkschafter Marcel Paul und der Generaldirektor der französischen Nationalbibliothek Julien Cain.
Mit rund 26.000 registrierten französischen Häftlingen war Buchenwald einer der Hauptdeportationsorte für Franzosen innerhalb des KZ-Systems. Am 11. April 1945, dem Tag der Befreiung des Lagers, befanden sich unter den 21.000 Überlebenden jedoch nur noch 4.000 Franzosen im Lager. Die übrigen französischen Buchenwald-Häftlinge hatten entweder die KZ-Haft nicht überlebt, waren in den Tagen vor der Befreiung auf Todesmärsche geschickt oder bereits zuvor zur Zwangsarbeit in andere Lager gebracht worden. Insbesondere nach Mittelbau-Dora waren 1943/44 mehrere tausend Franzosen aus Buchenwald überstellt worden. Als US-Truppen am 11. April 1945 Nordhausen erreichten, fanden sie im Hauptlager des KZ Mittelbau-Dora und im Außenlager in der Boelcke-Kaserne jedoch nur noch einige hundert Schwerkranke vor, darunter auch Franzosen. Bis zum 6. April 1945 hatte die SS Tausende Häftlinge aus Mittelbau-Dora auf Räumungstransporte geschickt, von denen etwa 15.000 in das Kasernenlager des KZ Bergen-Belsen gebracht wurden, wo sie am 15. April 1945 die Befreiung durch britische Truppen erlebten. In allen Lagern stießen die alliierten Truppen auf erbärmliche Zustände und Massentod erschöpfter Insassen – allein in Buchenwald starben nach der Befreiung bis Ende April 75 Franzosen.
An dem Tag, als die Gruppe um Manhès in Paris ankam, traf eine französische Repatriierungsmission unter der Leitung von Pater Jean Rodhain, einem katholischen Geistlichen und Generalkaplan der Kriegsgefangenen in Deutschland, in Buchenwald ein. Über diese Mission ist wenig bekannt. Sie war offenbar durch die Presse von den Zuständen in Buchenwald informiert worden. Ihre Aufgabe war es, die Rückkehr der französischen Überlebenden aus Buchenwald zu organisieren. Bereits am 19. April 1945 begann die Mission mit der Evakuierung der französischen Überlebenden. Unterstützt wurde sie von der amerikanischen Armee, die Lastwagen zur Verfügung stellte. Innerhalb einer Woche gelang es ihr, die meisten noch lebenden Franzosen aus Buchenwald zu repatriieren. Bereits am 27. April gab die französische Regierung bekannt, dass sich nur noch 250 Franzosen in Buchenwald befänden. Die Mission um Pater Rodhain kümmerte sich auch um den Rücktransport der über 250 nicht-französischen Häftlinge, die wie der spanische Widerstandskämpfer Jorge Semprún aus Frankreich nach Buchenwald deportiert worden waren.
Für viele Buchenwald-Überlebende war das Repatriierungszentrum in Eisenach eine Zwischenstation. So berichtet Julien Michel, dass er in Eisenach in einem „alten Rokoko-Hotel aus dem späten 19. Jahrhundert mit dunklen Zimmern und mit Jagdszenen und Trophäen verzierten Wänden“2 übernachtet habe, bevor er per Lastwagen nach Wiesbaden und von dort mit dem Zug nach Frankreich gebracht wurde. Ob sich die Mission auch um die Repatriierung der Überlebenden von Mittelbau-Dora kümmerte, ist unklar. Dem Bericht von Jean-Henri Tauzin zufolge wurden die kranken Franzosen, die die SS im Hauptlager und in der Boelcke-Kaserne zurückgelassen hatte, ab dem 20. April von Nordhausen aus nach Frankreich geflogen. Für die französischen Überlebenden in Bergen-Belsen begann die Repatriierung am 25. April 1945, als etwa 1.600 französische, belgische und niederländische Überlebende das Lager verließen. Mit Lastwagen fuhren sie nach Rheine, unweit der niederländischen Grenze. Von dort flogen sie nach Brüssel und reisten anschließend mit dem Zug über Lille nach Paris.
Als die KZ-Überlebenden in Paris ankamen, hatten sie weder französische Ausweispapiere noch Geld zur Weiterreise in ihre Heimatorte. Deshalb richtete die französische Regierung Aufnahmezentren ein, in denen die Identität der Repatriierten überprüft wurde, bevor sie unter anderem Geld erhielten. Die KZ-Überlebenden wurden zunächst in denselben Zentren betreut wie die mehreren hunderttausend französischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter, die im Frühjahr 1945 ebenfalls nach Frankreich zurückströmten. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass diese Zentren (z. B. der damalige Bahnhof am Pariser „Quai d‘Orsay“) für erschöpfte KZ-Überlebenden nicht geeignet waren. Aus diesem Grund beschloss die Regierung, das Luxushotel „Le Lutetia“ in eine Aufnahmestelle speziell für KZ-Überlebende umzuwandeln.
Das Hotel im Herzen von Paris hatte zu diesem Zeitpunkt bereits eine bewegte Geschichte hinter sich. In den 1930er-Jahren fanden hier prominente deutsche Emigranten wie der Politiker Rudolf Breitscheid, der später in Buchenwald ums Leben kam, oder der Schriftsteller Lion Feuchtwanger temporär Zuflucht. Während der deutschen Besatzung von Paris wurde das „Lutetia“ zum Sitz der deutschen „Abwehr“, des Militärnachrichtendienstes der Wehrmacht.
Als Repatriierungszentrum nahm das „Lutetia“ am 26. April 1945 seinen Betrieb auf. Von Beginn an war es mehr als eine reine bürokratische Durchgangsstation für die KZ-Überlebenden. Mit seinen 350 Zimmern bot ihm das Hotel die Möglichkeit, sich für eine Nacht oder einige Tage zu erholen und medizinisch betreuen zu lassen. Die medizinische Versorgung lag in den Händen von Dr. Toussaint Gallet, der selbst Buchenwaldüberlebender war und zusammen mit der Gruppe um Manhès bereits am 18. April in der französischen Hauptstadt eingetroffen war.
Die Funktion des „Lutetia“ als Repatriierungszentrum ist heute Bestandteil der französischen Gedenkkultur. Seit 1985 erinnert eine Tafel an der Fassade des Gebäudes, das heute wieder ein Sternehotel ist, an die Zeit im Frühjahr 1945. Auch in die Erinnerungsberichte vieler Überlebender fand das „Lutetia“ Eingang. Einige, wie der jüdische Auschwitz- und Buchenwaldüberlebende Paul Steinberg, verbanden mit dem „Lutetia“ die Wiedererlangung ihrer Identität. Andere, wie der spätere Präsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos, Bertrand Herz, der nur eine Stunde in „Le Lutetia“ verbrachte, verbanden den Ort mit eher negativen Erinnerungen: „Wir kamen in der großen Halle des Hotels an. Ständig kamen Familienangehörige und fragten: ‚Haben Sie den gekannt?’, ‚Haben sie die gekannt?’ So viele waren nicht zurückgekommen! Es war schrecklich!“.3
Von den Überlebenden, die dazu körperlich in der Lage waren, engagierten sich einige sofort (wieder) im politischen Leben des Landes. Der 1. Mai 1945, der erste Arbeitertag nach der Befreiung Frankreichs von der Naziherrschaft, bot hierfür eine ideale Bühne. Zu diesem Zeitpunkt waren die Arbeiterdemonstrationen am 1. Mai in den linken Kreisen Frankreichs eine feste Tradition, die bis in die letzten Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreichte – daran hatte die Instrumentalisierung des 1. Mai während der deutschen Besatzung nichts geändert. Aufgerufen von Organisationen der Arbeiterbewegung und der kommunistischen Résistance zogen am Nachmittag mehrere hunderttausend Menschen durch den Osten von Paris. Unter den Teilnehmenden befanden sich auch KZ-Überlebende, die sich durch das Tragen ihrer Häftlingsuniformen oder beschrifteter Transparente als solche zu erkennen gaben. Auf der Place de la Nation hielten fünf Gewerkschaftler, darunter Marcel Paul, der Leiter des französischen Komitees im KZ Buchenwald, Reden „für die Beseitigung aller Überreste des Faschismus, für die Befreiung der Demokratie von den Mächten des Geldes, für ein Regime der sozialen Gerechtigkeit, für die internationale kollektive Sicherheit“.4
Auf der anderen Seite von Paris fand gegen Mittag eine ganz andere Veranstaltung statt. 150 Widerstandskämpfer, die alle die Konzentrationslager Buchenwald, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen überlebt hatten, zogen über die Prachtstraße Champs-Élysées zum Arc de Triomphe. Einer der Teilnehmer, der damals 26-jährige Paul Butet, erinnerte sich später:
„Nach dem Essen haben uns die TCRP-Busse wieder abgeholt und zu den Champs-Élysées gebracht. Wir trafen dort Bollaert, Dejussieu und Debeaumarché, die ihre Häftlingskleidung wieder angelegt hatten. Sie führten einen Zug an, in dem wir, wohl nach alter KZ-Gewohnheit, in Fünferreihen bis zur Place de l’Étoile gingen. Am Straßenrand standen viele Menschen. Die Menge war verblüfft und zu Tränen gerührt, die ‚Überlebenden‘ aus den Lagern vorbeiziehen zu sehen.“5
Am Arc de Triomphe erwartete sie der Militärgouverneur der Stadt Paris, General Kœnig, um die Flamme am dortigen Grab des unbekannten Soldaten des Ersten Weltkrieges neu zu entfachen. Die Zeremonie hatte die Form einer militärischen Totenehrung, d. h. einer Tradition, die mit den Arbeiterdemonstrationen am 1. Mai nichts zu tun hatte. Angesichts der Bedeutung des Arbeitertages in Frankreich ist dies als klares politisches Statement bzw. als Abgrenzung zur Arbeiterbewegung zu verstehen. Wer die Veranstaltung organisierte, ist leider nicht überliefert. Da sich an der Spitze des Zuges Gaullisten wie etwa Pierre Julitte befanden, ist nicht auszuschließen, dass Anhänger von General de Gaulle als Vertreter der konservativen Résistance dabei eine wichtige Rolle spielten. Insofern ist der 1. Mai 1945 auch ein Zeichen für die Spaltung der Welt der französischen Überlebenden zwischen Kommunismus und Gaullismus, die in den folgenden Jahren durch die Gründung von Überlebendenverbänden unterschiedlicher politischer Ausrichtung noch deutlicher wurde.
Die Historikerin Maëlle Lepitre ist wissenschaftliche Volontärin in der Kustodie zur Geschichte des KZ Buchenwald an der Gedenkstätte Buchenwald.
Weiterführende Literatur
Association des amis de la Fondation pour la mémoire de la déportation (Hrsg.) (2015): Lutetia, 1945. Le retour des déportés. Témoignages, Paris.
Matard-Bonucci, Marie-Anne / Lynch, Edouard (Hrsg.) (1995): La libération des camps et le retour des déportés. L'histoire en souffrance, Brüssel.
Navarro, Alain (2015): 1945. Le retour des absents, Paris.
1. Jean Quittard (18.04.1945): Radio-Bericht. Online verfügbar unter: https://www.radiofrance.fr/francecultur/eau-bourget-le-retour-des-deportes-du-camp-de-concentration-de-buchenwald-9087403.
2. Julien Michel (1984): Souvenirs de captivité, BwA, S. 301.
3. Zit. nach: Hirte, Ronald / Röttele, Hannah / von Klinggräff, Friedrich (Hrgs.) (2011): Von Buchenwald nach Europa: Gespräche über Europa mit ehemaligen Buchenwald-Häftlingen in Frankreich, Weimar, S. 22.
4. O. A. (01.05.1945): Demonstrationsaufruf, in: Le Populaire, S. 1.
5. Zit. nach: André Sellier (2000): Zwangsarbeit im Raketentunnel. Geschichte des Lagers Dora, Lüneburg, S. 405.