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Schuldumkehr im Landtag

Sascha Schlösser (AfD) zum 8. Mai 1945

Die Debatte um die historische Bedeutung des 8. Mai 1945 spiegelt in Deutschland eine fortwährende Auseinandersetzung mit der Erinnerungskultur wider. Im Thüringer Landtag wurde jüngst der Vorschlag diskutiert, diesen Tag 2025 als Feiertag zu begehen. Während die Vertreter:innen der meisten Fraktionen diesen Tag vor allem als Anlass für Gedenken und Verantwortung betrachteten, nutzte Sascha Schlösser (AfD) die Gelegenheit, um eine revisionistische Lesart der Geschichte zu präsentieren.

Dieses erschütternde Bild zeigt die Leichen ermordeter Häftlinge eines Konzentrationslagers, vermutlich kurz nach der Befreiung durch alliierte Truppen. Viele der Toten tragen gestreifte Häftlingskleidung, einige sind nur notdürftig bedeckt oder liegen in schmerzverzerrter Haltung am Boden. Im Hintergrund sind amerikanische Soldaten zu sehen, die das Lager gesichert oder gerade entdeckt haben.
Von der SS ermordete Häftlinge des KZ-Außenlagers Ohrdruf. Im Hintergrund amerikanische Soldaten. Foto: Walter E. Cummings, US-Signal Corps, 6. April 1945
©Public domain

Am 14. November 2024 debattierte der Thüringer Landtag über den Antrag der Fraktion „Die Linke“, den 8. Mai 2025 als Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus zum Feiertag zu erklären. Für die AfD nahm deren Abgeordneter Sascha Schlösser dazu Stellung1: Schlösser, Rechtsanwalt aus Erfurt und Landtagsabgeordneter seit 2024, zeigte in seiner Rede klassischen Geschichtsrevisionismus. Zwar betont er die Komplexität des 8. Mai 1945, eines Tages, der deutsche Kriegsniederlage und Befreiung vom Nationalsozialismus zugleich war. In seinen Ausführungen ist von Komplexität aber keine Spur. Die Verbrechen des Nationalsozialismus, das Leid der Häftlinge in den Konzentrationslagern Buchenwald und Mittelbau-Dora – sie erwähnt Schlösser mit keinem Wort. Er spricht ausschließlich von deutschen Opfern, über Flucht und Vertreibung und über die Vergewaltigung deutscher Frauen durch alliierte Soldaten. Der AfD-Abgeordnete nutzt für seine Argumentation die typische „Verzahnungs“-Strategie des neurechten Vordenkers Götz Kubitschek2: Der Tabubruch wird relativiert durch Verweis auf ähnliche Äußerungen demokratischer Politiker. Bei Schlösser müssen die ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker dafür herhalten: Aus deren Reden aus den 1950er-Jahren und von 1985 reißt er Passagen aus dem Kontext, in denen die beiden Politiker auf deutsches Leid verweisen.

Zeichnet sich Schlössers Rede insgesamt durch klassische geschichtsrevisionistische Schuldumkehr aus, in dem er die Alliierten als die eigentlichen Kriegsverbrecher hinstellt, wird diese Schuldumkehr am Ende der Rede des Landtagsabgeordneten besonders drastisch: Mit Bezug auf den von Vorrednern angesprochenen 11. April 1945, dem Tag der Befreiung der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora, sagt er: „Gehen sie nach Gispersleben. Da ist eine kleine Grabplatte. Da wurden am 11. April durch amerikanische Soldaten 50 blut junge Soldaten erschossen.“

Diese Gedenktafel erinnert an Menschen, die am 11. April 1945, also in den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges, noch ihr Leben lassen mussten. Die Inschrift lautet: IN DEN LETZTEN TAGEN DES II. WELTKRIEGES AM 11.4.1945 MUSSTEN SIE NOCH IHR LEBEN LASSEN Es folgt eine Liste mit Namen, Geburtsdaten und teilweise Sterbedaten, beispielsweise: OSWALD ANTON * 5.1.1909 FRITZ ASEL * 18.4.1915 MARIO BALDUTEL KARL BECK * 26.12.1922 … WILLY ZWICK * 10.7.1920 Am Ende der Tafel steht: UND 7 NAMENTLICH UNBEKANNTE SOLDATEN.
Gedenktafel für die am 10. und 11. April 1945 gefallenen Deutschen auf dem Kriegsgräberfriedhof im Kilianipark in Gispersleben.

©Wikimedia Commons, aufgerufen am 21.11.2024

Das ist eine Falschdarstellung. Tatsächlich lieferten sich in Gispersleben, einer Ortschaft am Nordrand von Erfurt, deutsche und amerikanische Soldaten am 10. und 11. April 1945 schwere Straßenkämpfe. Die deutschen Kräfte setzten sich mehrheitlich aus Soldaten der Waffen-SS, zudem regulären Wehrmachtssoldaten sowie Angehörigen des Volkssturms zusammen und standen unter dem Kommando eines SS-Obersturmführers.3 Am Morgen des 11. April 1945 führten sie einen Gegenangriff aus; dabei erschossen sie an mindestens zwei Stellen Amerikaner, die sich bereits ergeben hatten. Ein eindeutiges Kriegsverbrechen, das andere US-Soldaten beobachteten. Als Reaktion beschlossen sie, keine Gefangenen der SS mehr zu machen. An der Flussaue der Gera erschossen sie etwa ein Dutzend Angehörige der SS, die sich zuvor am westlichen Ortsrand von Gispersleben im Umspannwerk bzw. in der Parkschänke verschanzt hatten und gefangen genommen worden waren.4

Der US-Soldat Andrew Z. Adkins schreibt in seinen Erinnerungen: „[Die SS] hat ihre Gefangenen nicht einmal befragt. Stattdessen schossen sie jedem von ihnen eine Kugel in den Kopf. Ich sah ihre Leichen und was von ihren Köpfen übrig war. [...] Wir hatten nicht viele SS-Gefangene gemacht, aber wir beschlossen, dass von nun an keine SS-Soldaten mehr lebend gefangen genommen werden würden.“5

Auch die Erschießung der SS-Angehörigen verstieß gegen das Kriegsrecht. Bei der Einordnung der Reaktion der US-amerikanischen Soldaten ist zu berücksichtigen, dass Einheiten der US-Armee erst wenige Tage zuvor das KZ-Außenlager Ohrdruf, gelegen rund 25 km südwestlich von Erfurt, befreit hatten. Dort waren sie erstmals unmittelbar mit Massengräbern und unzähligen Häftlingen, die die SS vor ihrem Abzug erschossen hatte, konfrontiert worden – ein weiterer Anlass für die amerikanischen Soldaten, der SS mit besonderer Härte zu begegnen.

Der Facebook-Beitrag von Sascha Schlösser dokumentiert eine Gedenkveranstaltung der AfD Erfurt zum Volkstrauertag, die am Weltkriegsdenkmal im Kilianipark in Gispersleben stattfand. Dabei wird Bezug genommen auf eine konkrete historische Tat vom 11. April 1945, bei der – laut Text – „teils blutjunge Soldaten“ erschossen und an diesem Ort beerdigt worden seien. Sascha Schlösser 17. November um 14:36 · Gedenken am Volkstrauertag Heute haben Mitglieder der AfD Erfurt gemeinsam mit Vertretern des AfD-Kreisverbandes Mittelthüringen, Stadträten, unseren Landtagsabgeordneten Sascha Schlösser, Marek Erfurth und Vivien Rottstedt sowie Vertretern der Jungen Alternative und weiteren Sympathisanten am Weltkriegsdenkmal im Kilianipark in Gispersleben unseren Toten der beiden Weltkriege gedacht. Der Kilianipark wurde in diesem Jahr bewusst als Gedenkort gewählt. Hier wurden am 11. April 1945, nur wenige Tage vor Kriegsende, teils blutjunge Soldaten erschossen, die auch an diesem Ort bestattet wurden. Dieses Geschehen in dieser macht die Grausamkeit des Krieges bis heute besonders spürbar. In Redebeiträgen erinnerten Sascha Schlösser, Marek Erfurth und Vivien Rottstedt daran, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist. Sie betonten die besondere Verantwortung Deutschlands, alles dafür zu tun, solche Tragödien für unser Volk zu verhindern. Dabei wurde klar hervorgehoben: Die AfD bietet derzeit als einzige ernsthafte Friedenspartei konsequent für diese Verantwortung ein. Ihr / Euer Sascha Schlösser
Sascha Schlösser legte gemeinsam mit Parteikolleg:innen anlässlich des Volkstrauertags Kränze am Kriegerdenkmal im Kilanipark nieder. In unmittelbarer Nähe des Denkmals erinnert die Gedenktafel an die 45 „blutjungen Soldaten“. Laut Schlösser wurde der Kilianipark aus diesem Grund als Gedenkort für die Veranstaltung ausgewählt.
©Screenshot, https://www.facebook.com/AlternativeausErfurt, aufgerufen am 21.11.2024

Sascha Schlössers Behauptung, amerikanische Soldaten hätten am 11. April 1945 „50 blutjunge deutsche Soldaten“ erschossen, ist eine besonders drastische Form der Geschichtsklitterung. Auf der Gedenktafel im Kilianipark, die 1994 auf Initiative von Angehörigen des SS-Hauptsturmführers Walter Freiherr von Maydell gestiftet wurde6, sind insgesamt 38 Personen namentlich und sieben nicht namentlich erwähnt. Die Historikerin Anja Buresch beziffert die Zahl der deutschen Verluste am 10. und 11. April 1945 von SS, Wehrmacht und Volkssturm auf „mindestens 45“.7 Schlösser nennt die aufgerundete Zahl von 50 und vermischt die im Gefecht Gefallenen mit den Erschossenen. Alle Deutschen sind in dieser Logik Opfer alliierter Willkür. Dass viele der in Gispersleben gefallenen deutschen Soldaten „blutjung“ waren, spricht nicht gegen die Alliierten, sondern gegen das NS-Regime, das junge Menschen bis zuletzt im Namen eines längst verlorenen „Endsiegs“ an die Front zwang. Einige Städte in Thüringen wurden kampflos übergeben, sinnloses Blutvergießen hätte auch in Gispersleben vermieden werden können.

Auf dem Bild ist ein Mann zu sehen, der an einem Rednerpult mit der Aufschrift „THÜRINGER LANDTAG“ spricht. Er trägt einen dunkelblauen Anzug mit einem türkisfarbenen Hemd und passender Krawatte sowie eine Brille. Aufgrund der visuellen Ähnlichkeit mit dem Facebook-Beitrag zuvor handelt es sich sehr wahrscheinlich um Sascha Schlösser, einen Landtagsabgeordneten der AfD Thüringen. Das Setting zeigt eine typische Szene aus einer Parlamentssitzung im Landtag von Thüringen, erkennbar an der Inneneinrichtung und dem Aufbau des Plenarsaals.
Sasha Schlösser (AFD) bei seiner Rede im Landtag am 14.11.2024.
©Screnshaot:https.//www.facebook.com/AlternativeausErfurt, aufgerufen am 21.11.2024

Dass Schlösser versucht, die Opfer der Konzentrationslager Buchenwald und Mittelbau-Dora gegen die getöteten deutschen Soldaten und SS-Angehörigen in Gispersleben auszuspielen, ist eine besonders perfide Variante der Schuldumkehr. Schlösser zeigt, was unter der von seinem Parteichef Björn Höcke geforderten „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ zu verstehen ist: Statt der Opfer der Konzentrationslager soll Angehörigen der verbrecherischen SS gedacht werden.

Rikola-Gunnar Lüttgenau, Jakob Schergaut und Jens-Christian Wagner gehören zum Redaktionsteam der Website geschichte-statt-mythen.de

Der Artikel erschien erstmals im November 2024 auf der Website geschichte-statt-mythen.de, die Geschichtsrevisionismus in Thüringen dokumentiert und analysiert. Über die Hintergründe dieses Pilotprojektes berichtet Jakob Schergaut auf S. 68.

www.geschichte-statt-mythen.de

1 Sascha Schlösser: 3. Plenarsitzung. Thüringer Landtag, dort datiert 14.11.2024, URL: https://live.thltcloud.de/ Veranstaltung/Plenarsitzung_2024_2-3/20241114 (20.11.2024). Ab 7:58:30.

2 Vgl. Götz Kubitschek: Selbstverharmlosung. In: Sezession 76 (2017), S. 26–28.

3 Jürgen Möller beschreibt die Zusammensetzung der „Gemischten Kampfgruppe“ unter dem Kommando von SS-Obersturmbannführer Kauer am Morgen des 11. April 1945 als zu 80 Prozent bestehend aus Mitgliedern des Alarm-Bataillons des SS-Kraftfahrausbildungs- und Ersatzregiments Bad Tennstedt und 20 Prozent Wehrmacht. Vgl. Jürgen Möller: Panzerkeile auf der Thüringer Autobahn April 1945. Bad Langensalza 2017, S. 111.

4 Das LKA Thüringen führte nach einer Anzeige durch eine:n Einwohner:in von Gispersleben 1996 Ermittlungen wegen des Verdachts des Mordes an Kriegsgefangenen durch. Im Zuge dieser Ermittlungen wurden mehrere Anwohner:innen befragt, die im April 1945 in Gispersleben zugegen waren. Die Berichte der Zeug:innen stimmen darin überein, dass amerikanische GIs deutsche Soldaten, die ihre Hände über dem Kopf hielten, zur Gera führten und dort mit Maschinengewehren erschossen. Die Berichte über die Anzahl der gefangen genommenen und erschossenen Deutschen variieren allerdings zwischen 10 bis hin zu 20. Die am häufigsten genannte Anzahl deutscher Soldaten ist 12. Vgl. Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar. Landeskriminalamt Thüringen Nr. 658, Bl. 80-83.

5 Andrew Z. Adkins/A.Z. Adkins Junior: You can’t get much closer than this. Philadelphia & Oxford 2005, S. 195. Auch Sergeant Percy Smith von der G-Company berichtet in einem Brief vom 16. April 1945 an seine Frau von Hinrichtungen durch die SS: „The other day, a section of my Company hat to surrender to the S.S. troops, and they shot them all through the head – one of the men saw it and played dead until we could get some help up and push them back.” Vgl. Robert M. Smith: Mother Of The Company. Sgt. Percy M. Smith’s World War II Reflections. Austin 2022, S. 110.

6 Vgl. H.P. Brachmanski: Ereignisse und Erinnerungen. Erfurt in den letzten Kriegswochen 1944/1945. Erfurt 1995. Hier zitiert nach: Landesarchiv Thüringen-Hauptstaatsarchiv Weimar, Landeskriminalamt Thüringen Nr. 658 Bl. 31-39.

7 Anja Buresch: Kampf um Erfurt. Erfurt 2016, S. 67.

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