Schwerpunkt: Neue Rechte und Geschichtsrevisionismus

1. Mai 2000: Weimarer Frühling

Vor über 20 Jahren gründete sich in Weimar das „Bürgerbündnis gegen Rechtsextremismus“. Es existiert noch heute. Weil sich nichts geändert hat? Ein Interview mit Rikola-Gunnar Lüttgenau, einem der Mitbegründer des „BgR“

Ganz ehrlich? Aus Erschöpfung.

Die NPD, die sich damals gerade vom Altherrenverein zur Aktionspartei von Kameradschaften wie dem „Thüringer Heimatschutz“ entwickelte, hatte sich den 1. Mai 2000 auserkoren, um in Weimar einen „Gedächtnismarsch“ abzuhalten. In einem bemerkenswerten Bündnis von Bürger:innen, Museen und Vereinen, Schulen und Hochschulen, Theatern und Schauspielgruppen, von Parteien, Medien und Antifa, schlicht und einfach von Menschen, die sich verantwortlich für ihre Stadt fühlten, gelang es, das große städtische Fest zum 1. Mai – traditionell in Weimar der Beginn der Sommersaison – unter antifaschistischen Vorzeichen zu feiern. Selbst am Maibaum und dem Goethe-Schiller-Denkmal wehte ganz offiziell das Piktogramm des Tages: ein Männchen, das das Hakenkreuz in den Mülleimer wirft. Es waren so viele Plätze mit Aktionen belegt, dass für die NPD schlicht kein Platz mehr blieb. Das wollte die nicht auf sich sitzen lassen, meldete gleich für den 13., dann für den 20. Mai die nächsten Demos an, für die sie bundesweit mobilisierte, um „der Stadt eine Lektion zu erteilen“, wie sie es ausdrückte. Und so ging es im Grunde weiter, über Monate, über Jahre. So rief z. B. die NPD auch für den 20. April 2002 nach Weimar zu einer „nationalen Großdemonstration“ auf. Für die, die die Organisationslast des Gegenprotestes trugen, wurde klar, dass dieser nicht immer wieder neu improvisiert werden kann. Und: Die außergewöhnliche Dynamik, die sich im Mai entfaltete, konnte nicht ewig wiederholt werden. Die Institutionalisierung des Bürgerbündnisses sollte also für alle ein sichtbarer Ankerpunkt werden und Kontinuität gewährleisten.

TLZ-Artikel vom 1. Mai 2000: Weimar setzt ein Zeichen.
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Thüringische Landeszeitung, 1.5.2000
Symbol: Figur wirft Hakenkreuz in den Mülleimer.
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Thüringische Landeszeitung, 1.5.2000

Die Stadt hatte gerade ein besonderes Jahr hinter sich, das Kulturstadtjahr 1999. Mit internationalen Ausstellungen, Konzerten und Theaterstücken, die allesamt das weite Feld zwischen Goethe und Buchenwald beackerten, feilte Weimar an seinem neuen Image als „Weltprovinz“, in der über Humanismus und Moderne nachgedacht wird. Da die öffentliche Anerkennung nicht auf sich warten ließ, waren die Weimarer:innen in der Lage, etwas zu sein, was Bürger:innen anderer Städte im Osten nicht so leicht vergönnt ist: stolz auf ihre Stadt. Zugleich waren die Verantwortlichen des Kulturstadtjahres, von den städtischen Beamt:innen und Polizist:innen bis zu den Museumsleiter:innen und Reporter:innen, inzwischen nicht nur stresserprobt und mediengeschult, sondern besaßen auch ein gerütteltes Maß an Erfahrungen und Praktiken, zahlreiche Events als gemeinsame Projekte zu kreieren. Den 1. Mai als unbeschwerten Weimarer Auftakt des Jahres wollte man sich von einer NPD nicht kaputtmachen lassen. Das entsprang eher etwas Habituellem als einer politischen Analyse – auch wenn die Gefahr, dass es den Kameradschaften gelingt, sich in Weimar eine lokale Basis aufzubauen, real war.

Meldung der tageszeitung am 22.5.2000: Weimar bremst den Eifer der NPD
die tageszeitung, 22.5.2000

Wenn es darum ging, sich ein schönes Stadtfest nicht von Leuten kaputtmachen zu lassen, die so gar nicht ins eigene Weltbild passen, dann schon. Doch das Bemerkenswerte war eigentlich nicht das Einigende, sondern die Vielfältigkeit. Dafür war es wichtig, dass jede:r aus seinen/ihren eigenen Interessen, aus seiner/ihrer eigenen Profession heraus agieren konnte. Ein Beispiel: Als die Thüringische Landeszeitung (TLZ) von dem Plan erfuhr, entlang der vermuteten Route der NPD Protestplakate an die Haushalte zu verteilen – was natürlich mit Kosten verbunden war – bot sie sich an, das Motiv als Doppelseite zu drucken und ihrer Weimarer Ausgabe beizulegen: Sie konnte sich als Lokalzeitung profilieren.

Nein. Später stellten wir z. B. fest, dass die Plakate, die sowohl in reinen Wohngebieten als auch in der Altstadt verteilt worden waren, sich nur in letzterer öffentlich wiederfanden, also dort, wo diejenigen bevorzugt wohnen, die ohnehin im Kulturleben engagiert sind. Die TLZ hatte auch einige Abonnementskündigungen zu verzeichnen. Überhaupt war die Organisierung der Aktionen zu Beginn ausgesprochen zäh, Rechtsradikalismus war zu dem Zeitpunkt noch kein Thema, das öffentlich verhandelt wurde. Die Thüringer Allgemeine (TA), von der TLZ angefragt, zögerte lange mit einer eigenen Beteiligung. Und der MDR folgte weiter seiner damaligen Linie, nicht über fremdenfeindliche und neonazistische Vorfälle zu berichten, um sie – so der Tenor – nicht aufzuwerten. Die großen Hotels verwiesen gar offiziell auf ihre „beschränkten finanziellen Mittel“ und intern wurde ein Hausmeister zusammengestaucht, als er das Plakat aufhängen wollte, da es die Kunden verschrecke. Diese Mischlage änderte sich erst mit dem 20. April 2000: Ein 18-Jähriger, bei dem sich ein Mitgliedsausweis der NPD fand, hatte an diesem Tag zwei Molotowcocktails auf die Erfurter Synagoge geworfen. Damit war die Partei zum allseits anerkannten Gegner geworden, der in jedem Fall abzulehnen sei. In Weimar gehörte es nun endgültig zum guten Ton, sich gegen den beabsichtigten Aufmarsch zu engagieren. Die Hotels griffen gemeinsam mit der TA die „Pantoffel-Aktion“, die wir innerhalb eines Seminars der Bauhaus-Universität geboren hatten, auf und schmückten ihre Häuser mit dem entsprechenden Logo. Im Gegensatz zum eher politisch angelegten Männchen-Piktogramm waren es die selbstironischen „Pantoffelhelden“, die sich nicht nur zum lokalen Medienrenner entwickelten: Am Bahnhof der Museumsstadt wurde ein ganzer Berg von Puschen aufgehäuft, darauf ein Schild mit der Aufschrift: „Wir bitten vor Begehung der Straßen die Stiefel gegen Hausschuhe auszutauschen“. Das kam an – und ließ sich sogar vermarkten: „Goetheguerilla gegen rechts“ titelte die tageszeitung, auch die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche Zeitung und Der Spiegel berichteten nun über das Widerstandsbegehren in der „Weltprovinz“.

Meldung der tageszeitung vom 29.4.2000: Goetheguerilla gegen rechts
die tageszeitung, 29.4.2000

Das war nur mittelbar. Es war schon eine andere Zeit: In den 1990er-Jahren erhielt z. B. in Weimar ein Clubhaus von und für Rechtsradikale staatliche Fördergelder. Diese „akzeptierende Jugendsozialarbeit“ war ein prima Nährboden für rechtsextreme Jugendliche, die sich hier vernetzten und radikalisierten. Das merkten wir auch in der Gedenkstätte Buchenwald. Als wir 1996 dem NSU – die Jungs waren in SA-ähnlichen Uniformen aufgekreuzt – Hausverbot erteilten, musste ich mir anhören, dass dies eine übertriebene Reaktion sei, ich mit ihnen reden müsse. Die Erkenntnis, dass gerade eine demokratische Gesellschaft klare Grenzen ziehen muss, was geht und was nicht geht, setzte sich erst langsam durch. Wobei ich 2000 immer als Bürger der Stadt agierte, nicht als Vertreter der Gedenkstätte. Gerade das war eine schöne Erfahrung: Weimar hatte spätestens 1999 erfolgreich trainiert, ein „negatives Gedächtnis“, d. h. in diesem Fall Buchenwald, nicht zu verdrängen, sondern in seine Identität zu integrieren und es auch öffentlich zu artikulieren. In den Maitagen 2000 zeigte sich: Die Zweifel, ob es sich dabei nur um Lippenbekenntnisse handelte, wurden nicht bestätigt. Das über Jahre entwickelte Selbstbild der Stadt – gerade in Bezug auf Buchenwald – gibt offenbar in politischen Entscheidungssituationen auch eine Handlungsorientierung. Gleichwohl: So eine Gruppendynamik kam vor allem bei jenen zum Tragen, die sowieso schon im öffentlichen Raum agieren. Aber immerhin. Die vielen Widerstände, das Zögern und die Ängste, die in dieser Zeit auftauchten, machen gleichzeitig deutlich, wie fragil ein derartiger Selbstverständigungsprozess ist, der immer wieder erneuert werden muss und nie zu seinem Ende kommt, kommen darf.

Der Holocaustüberlebende Naftali Fürst hält bei einem Zeitzeugengespräch ein Plakat hoch.
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Aktionen des BgR: Zeitzeugengespräch mit Naftali Fürst, 12.4.2013
Podiumsdiskussion mit Live-Publikum
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Podiumsdiskussion zum Umgang mit der abgebrannten Viehauktionshalle, 29.6.2015
Aktion des BgR: viele Leute versammeln sich zum Singen gegen Hass und für Vielfalt.
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„Stimmen.Vielfalt – Lasst uns singen. Für Buntheit und Vielfalt, gegen Hass und Angst!“, 23.9.2017
Protest gegen eine Wahlkampftour der NPD
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Protest gegen eine Wahlkampftour der NPD, 7.9.2013

Es mag wohl stimmen, dass die organisierten Neonazis nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, sondern eher eine Outcast-Szene darstellen, erst recht mit ihren Aktivitäten im Drogen- und Waffenhandel und in der Prostitution, wie es jüngst bei den sog. Turonen öffentlich geworden ist. Hier gilt weiterhin: Zerschlagt ihre Strukturen, wo es nur geht! Aber inzwischen gibt es einen menschenverachtenden Terrorismus von rechts, dessen Dynamik sich komplett anders vollzieht: In Echoblasen, die immer nur die eigenen Hass-Botschaften bestätigen, radikalisieren sich Menschen, die einander komplett unbekannt sind, immer weiter – bis einzelne dann nicht nur verbal zuschlagen. Vor allem: Sie haben inzwischen mit der AfD, erst recht mit der AfD in Thüringen unter Höcke, einen starken parlamentarischen Arm. Und dieser ist in der Lage, das Viertel der Bevölkerung, das ohnehin nicht substanziell demokratisch und humanistisch eingestellt ist, zu aktivieren. Handelte es sich also vor zwanzig Jahren um eine relativ kleine Gruppe, die gebrandmarkt werden musste, ist es jetzt die Aufgabe, dass es diesem Viertel nicht gelingt, die Politik in der Gesellschaft zu bestimmen.

Das Bündnis hat sich ja schon längst verändert, zum Glück. Im Zentrum steht nicht mehr nur die Organisation von Demonstrationen wie bei uns, sondern vor allem Bildungs- und Netzwerkarbeit in und für die Öffentlichkeit. Es werden Zeitzeugengespräche, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Ausstellungen organisiert: Es wird versucht, Themen zu setzen, Orientierung zu geben und Menschen zu vernetzen. Das ist genau das, was in diesen veränderten Zeiten benötigt wird. Das Grundproblem, dass im Kern nur wenige, wie in den letzten Jahren Uwe Adler oder Christine Schild, um nur zwei zu nennen, viel auf ihren Schultern tragen, ist jedoch geblieben. Dabei sind es diese zivilgesellschaftlichen Bündnisse, die dafür Sorge tragen, dass unser Gemeinwesen nicht von innen ausgehöhlt wird. Sie sind es, die die Unterstützung der demokratischen Institutionen, auch der Gedenkstätten, verdienen, nicht umgekehrt.

Der Ausstellungskurator und Kulturhistoriker Rikola-Gunnar Lüttgenau lebt seit 1992 in Weimar. Heute ist er für die Strategische Kommunikation der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora verantwortlich.

Fragen: Jens-Christian Wagner


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