Interviews: Neue Wege in der Geschichtskultur

„Den Raum der Verantwortung erweitern …“

Ein Gespräch mit Urs Lindner über Straßenumbenennungen, Dekolonisierungen und ihr Verhältnis zum NS-Gedenken

Straßennamen sind öffentliche Ehrungen, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausdrücken. Joachim Nettelbeck war ein preußischer Seefahrer, der als Obersteuermann auf niederländischen Versklavungsschiffen den Handel mit bis zu 700 Menschen abgewickelt hat, der den Versuch unternommen hat, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen und der seine Heimatstadt Kolberg 1807 in eine mörderische Abwehrschlacht gegen Napoleon hineingezogen hat, die primär der „nationalen Ehre“ diente. Als es 1905 zur Straßenbenennung im Erfurter Norden kam, wurde Nettelbeck als nationalistischer „Volksheld“ und Ahnherr der Kolonialbewegung verehrt. Eine Generation später machten die Nazis ihn zur Propagandaikone, insbesondere in dem von Goebbels in Auftrag gegebenen Durchhaltefilm „Kolberg“. 1950 wurde das Nettelbeckufer in Goerdelerufer umbenannt, nach dem konservativen Widerstandskämpfer gegen Hitler. 1956 – in der DDR hatte es mittlerweile eine positive Nettelbeckrezeption gegeben, während das Gedenken an den Widerstand gegen Hitler zunehmend entpluralisiert wurde – erfolgte die Rückbenennung. Der Erfurter Straßenname verkörpert so ziemlich alle autoritären und demokratiefeindlichen Tendenzen der neueren deutschen Geschichte: NS, Nationalismus, Kolonialismus, Versklavungshandel und SED-Diktatur. Gert Schramm, der Sohn eines afroamerikanischen Ingenieurs und einer Erfurter Näherin, stellt dazu die Antithese dar: Als Buchenwald-Häftling und Zeitzeuge gegen Rechts symbolisiert er antifaschistischen Widerstand; in der DDR lebte er, dessen Vorfahren väterlicherseits nach Kuba versklavt worden waren, als Nonkonformist. Damit nicht genug: Gert Schramm wurde auch noch am Erfurter Nettelbeckufer geboren. Ich würde behaupten, es gibt kaum eine Straßenumbenennung, die eine größere erinnerungspolitische Stringenz aufweist. Erfurt kann auf diese Weise zeigen, dass es sich gegen die autoritär-antidemokratischen Tendenzen der deutschen Geschichte stellt, Schwarze Menschen als gleichberechtigte Mitbürger:innen anerkennt und bereit ist, den Perspektivwechsel von den Täter:innen zu den Opfern zu vollziehen.

Seit März 2020 wirbt Decolonize Erfurt zusammen mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland für eine Umbenennung des Erfurter Nettelbeckufers in Gert-Schramm-Ufer. Der dort geborene Schwarze Gert Schramm war als 15-Jähriger im KZ Buchenwald inhaftiert. Auf seiner Häftlings-Personal-Karte verzeichnete die SS als Haftgrund: „Politisch – Negermischl. 1. Grades“. Gert Schramm erhielt für seine Aufklärungsarbeit und sein Engagement gegen Rechtsextremismus 2014 das Bundesverdienstkreuz.

 

Decolonize Erfurt ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die mit Stadtrundgängen und der Ausstellung „Kolonialismus in Erfurt, 1503 bis heute“ eine öffentliche Debatte über die Kolonialgeschichte von Thüringens Landeshauptstadt angeregt hat.

 

https://decolonizeerfurt.wordpress.com/

Die Kampagne hat mit ihrem breiten Medienecho die Debatte um Erfurts Kolonialgeschichte intensiviert. Der Erfurter Stadtrat seht kurz vor Verabschiedung eines Antrags, der die Stadt zur Aufarbeitung ihres kolonialen Erbes verpflichtet und dafür auch Mittel bereitstellt. Darüber hinaus haben wir überregional gewirkt: Eberswalde hat mit Bezug auf unsere Kampagne beschlossen, seinen Bahnhofsvorplatz nach Gert Schramm zu benennen. In Dortmund wurde im Dezember 2020, ebenfalls mit Bezug auf uns, entschieden, die dortige Nettelbeckstraße umzubenennen. Neben viel Zustimmung gibt es in Erfurt allerdings auch massiven Gegenwind. Die AfD hat 2020 ihren gesamten Parteiapparat mobilisiert, um die Umbenennung zu verhindern. Die CDU möchte eine neue Straße nach Gert Schramm benennen und am Nettelbeckufer ein Zusatzschild anbringen. Ausgang ungewiss.

Die Ablehnung äußert sich auf unterschiedliche Weisen. Wir bekommen E-Mails, in denen steht: „Es gab nie und wird nie schwarze Deutsche geben.“ Wir werden mit neurechten Ideologemen angegangen: „Meinungsdiktatur einer Minderheit“ oder „Cancel Culture“. Teilweise wird mit Relativierungen gearbeitet: „Nettelbeck war nur ein Kolonialist zweiten Ranges; zu seiner Zeit war Sklaverei kein Verbrechen; alle Menschen haben ihre Schattenseiten.“ Dann die klassischen Ablenkungsmanöver: „Haben wir denn keine anderen Probleme?“ Und nicht wenige Anwohner:innen sagen: „Gert Schramm war ein toller Typ, aber wir wollen unseren Straßennamen behalten.“ Diese Reaktionen verweisen auf unterschiedliche Motivlagen und Dispositionen: fehlende Bereitschaft, sich für etwas Richtiges zu engagieren (die Sympathie für Gert Schramm hört beim Gang zum Bürger:innenamt auf), kein Bewusstsein für die Notwendigkeit von Erinnerungspolitik, ein historistisches Geschichtsbild (der Zeitgeist als Rechtfertigungsinstanz; nur die großen Männer machen Geschichte), eine grundsätzliche Aversion gegen Veränderungen, insbesondere wenn sie „von außen“ kommen, Überwältigungserfahrungen der Nach-Wende-Zeit und natürlich auch Rassismus bzw. die Weigerung, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Es handelt sich um komplexe Gemengelagen, die in der politischen Praxis gar nicht so leicht aufzubrechen sind.

Weil das unserem Verständnis von Demokratie und Erinnerungspolitik entspricht. Der weltweite Vormarsch rechtspopulistischer Bewegungen verweist auf eine „Krise der Repräsentation“, die auch mit fehlenden Partizipationsmöglichkeiten zu tun hat. Repräsentative Demokratie war und ist nur allzu oft ein Elitenprojekt zur Aufrechterhaltung von Ausschlüssen und Ungleichheiten. Davon müssen wir weg und eine demokratische Praxis entwickeln, in der sich Repräsentation und Partizipation wechselseitig verstärken. Wenn heute eine Mehrheit der Deutschen einen „Schlussstrich“ will, liegt es nahe, ein tiefsitzendes, intergenerationell tradiertes Bedürfnis nach Verdrängung zu diagnostizieren. Wir können uns aber auch fragen, was in der Erinnerungspolitik schiefgelaufen ist. Heutzutage haben wir eine hochprofessionelle Gedenkstättenarbeit. Aber die Erinnerungspolitik braucht immer auch zivilgesellschaftliche Initiativen, die sie auf die Straße tragen, z. B. ans Erfurter Nettelbeckufer. Wir müssen gerade in diesem Feld neue partizipative Wege beschreiten und dürfen nicht in der eigenen Blase verbleiben, so unangenehm und anstrengend das auch mitunter werden kann.

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Global gesehen meint „Decolonize“ die Aufforderung, die Fortwirkungen des Kolonialismus zu überwinden, vor allem Rassismus und globale Ungleichheit (ich behaupte nicht, dass sich jede Form des Rassismus und alles an globaler Ungleichheit auf die koloniale Expansion zurückführen lässt). Im Lokalen bedeutet „Decolonize“, sich kritisch mit kolonial geprägten Objekten und Praktiken auseinanderzusetzen, die uns in unserer Stadt umgeben, und danach zu fragen, wie sie in Hinblick auf eine egalitäre Zukunft verändert werden können. Dazu gehört, ihre Geschichten neu zu erzählen und das kolonial Verdrängte und Verzerrte sichtbar zu machen. Was hat das Erfurter Burenhaus mit Kolonialismus zu tun? Dazu finden Sie auf unserer Website einen super Artikel des Südafrika-Historikers Douglas Booth. Im Fall der Erfurter Südseesammlung, um ein anderes Beispiel zu nehmen, setzen wir uns dafür ein, dass ein politischer Prozess in Gang kommt, in dem das Entscheidungsrecht über die Zukunft der Objekte an die Herkunftsgesellschaften zurückgegeben wird. Oder das Usambaraveilchen: Wussten Sie, dass es von einem Berliner Kolonialbeamten in Deutsch-Ostafrika „entdeckt“, d. h. kolonial angeeignet wurde, um dann von der Erfurter Gartenbaufirma Ernst Benary züchterisch veredelt und in den Weltsamenhandel eingeführt zu werden? Wäre das Usambaraveilchen nicht der perfekte Gegenstand, um im Deutschen Gartenbaumuseum, das ja in Erfurt angesiedelt ist, über Kolonialismus zu sprechen?

Ihre Frage enthält schon die Antwort. Werden die NS-Verbrechen in menschenrechtlicher Perspektive betrachtet, liegt ihre Sensibilisierungswirkung nahe. Sie erscheinen dann als extremer Fall von Gewalt und Entmenschlichung, der uns dazu drängt, die Menschenrechte universell zu achten. Allerdings steht dieser menschenrechtliche Rahmen in Deutschland derzeit selbst zur Disposition. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein etwa möchte die NS-Verbrechen primär aus der Perspektive der Singularität der Shoah betrachtet wissen und rückt den universell-menschenrechtlichen Ansatz in die Nähe der Holocaustrelativierung. Nun denke ich, dass sich beide Perspektiven keineswegs ausschließen. In der historischen Beschreibung werden die Spezifika der Vernichtung der europäischen Jüd:innen deutlich. Die entscheidende Frage ist allerdings, welche wertenden Konsequenzen wir daraus ziehen. Sagen wir: „Der Holocaust war das schlimmste Verbrechen der Menschheitsgeschichte“ – womit wir immer auch sagen, dass andere Menschheitsverbrechen wie z. B. der transatlantische Versklavungshandel „weniger schlimm“ waren? Oder sagen wir, dass es schlichtweg keinen Sinn macht, Menschheitsverbrechen in „schlimmer“ oder „weniger schlimm“, „größer“ oder „kleiner“ zu hierarchisieren? Interessanterweise war es mit Steven Katz einer der führenden Vertreter:innen der Singularitätsthese, der bereits vor 25 Jahren davor gewarnt hat, das Böse und das Leid verschiedener Menschheitsverbrechen gegeneinander abzuwägen. Forschung und öffentliche Debatte gehen nicht immer Hand in Hand.

Wir sollten mit dem Vorwurf der Holocaustrelativierung (genauso wie mit dem des Antisemitismus und des Rassismus) verantwortlich umgehen. Holocaustrelativierung bedeutet, die verbrecherische Enormität der Shoah in Abrede zu stellen bzw. zu verharmlosen. Ein Holocaustrelativierer ist z. B. Alexander Gauland, demzufolge „Hitler und die Nazis nur ein Vogelschiss in über 1.000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ waren. Autoren wie Jürgen Zimmerer und Michael Rothberg, die nach einem gemeinsamen Rahmen für Holocaust und Kolonialismus suchen und dabei die Singularitätsthese kritisch befragen, mit derselben Kategorie zu belegen wie Gauland, zeugt nicht gerade von politischem Weitblick. (Teil von Gaulands Holocaustrelativierung ist im Übrigen die Verdrängung von fünf Jahrhunderten deutscher Beteiligung an der kolonialen Expansion.) Bei Vergleichen zwischen Holocaust und Kolonialismus ist es entscheidend, wem der letztere zugeschrieben wird. Erscheint das koloniale Unrecht als Problem der anderen, ist die verharmlosende Schuldaufrechnung nicht fern: „Wir Deutschen hatten den Holocaust, die Amis haben ihre Ureinwohner ausgerottet.“ Die dekoloniale Perspektive nimmt den Kolonialismus dagegen umfassend in den Blick, unter Einschluss der deutschen Beteiligungen. Es geht nicht darum, Schuld aufzurechnen, sondern den Raum der Verantwortung zu erweitern: Die Deutschen haben nicht nur die NS-Genozide zu verantworten, sondern auch den Genozid an den Herero und Nama. Sie haben es geschafft, in weniger als einem halben Jahrhundert zweimal genozidal tätig zu werden.

Der Philosoph Urs Lindner ist Junior Fellow am Max-Weber-Kolleg für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt und engagiert sich in der Initiative Decolonize Erfurt.

Fragen: Rikola-Gunnar Lüttgenau


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