Interviews: Neue Wege in der Geschichtskultur

„Es ist unverzichtbar für Forschungen wie diese, von der zunehmenden Globalisierung der Gedenkkultur zu profitieren.“

Marc Bartuschka im Interview über seine Forschung zu den KZ-Außenlagern in Mühlhausen

Meine Vorgänger haben zu den Außenlagern bereits kürzere Beiträge publiziert, doch bis heute fehlt eine umfassende Gesamtbetrachtung. Was ich ermitteln konnte, war zunächst einmal ein genaueres Bild über die Insassen – woher sie kamen, wann und unter welchen Umständen sie in die Hand der Deutschen fielen. In einigen hundert Fällen konnte ich zudem Hinweise finden, ob sie an den Folgen von Zwangsarbeit, Unterernährung und Gewalt zugrunde gingen oder den Krieg überlebten. Von vielleicht 200 Männern und Frauen sind Fotos aus der Zeit kurz vor, während oder nach ihrer Gefangenschaft bekannt. Zusammen mit den erhaltenen Augenzeugenberichten ehemaliger Häftlinge ermöglichen es diese Details, den nach Mühlhausen deportierten und von der SS auf eine Nummer reduzierten Männern und Frauen Name, Gesicht und Stimme zurückzugeben.

Sowohl das Bundesarchiv, die Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und die Arolsen Archives verfügten über Material, das bisher nicht oder nur teilweise ausgewertet wurde, etwa zur Vorgeschichte des späteren Frauen-Außenlagers, aber auch zu den individuellen Hintergründen der Gefangenen. Besonders wichtig war darüber hinaus der Kontakt mit ausländischen Einrichtungen wie beispielsweise der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel, dem Holocaust Memorial Museum Washington, der Yale University und der University of Southern California Shoah Foundation. Es ist unverzichtbar für Forschungen wie diese, von der zunehmenden Globalisierung der Gedenkkultur zu profitieren. Dank der Hilfsbereitschaft amerikanischer, israelischer und anderer Kolleginnen und Kollegen konnte ich Dutzende Aussagen ehemaliger Gefangener des Frauenlagers einsehen. Diese ausländischen Quellen, verfasst in mehr als einem halben Dutzend unterschiedlicher Sprachen, konnten bei den Untersuchungen meiner Vorgänger bisher nicht ausgewertet werden. Sie geben einen – wenn auch erst mit deutlichem zeitlichem Abstand entstandenen – individuellen Einblick in den Lageralltag. Leider litten die Recherchen unter der momentanen Corona-Situation. So kam es zu erheblichen Zeitverzögerungen bei der Arbeit, konnten vielversprechende Quellen – etwa ein längerer Bericht des Lagerarztes des Männerlagers – bisher nicht in Kopie beschafft werden, weil die entsprechende Gedenkstätte geschlossen werden musste.

Hier kenne ich für das Frauen-Außenlager am Mühlhäuser Stadtwald nahezu alle eingesetzten drei Dutzend Frauen mit Namen und Vornamen, oft auch mit Geburtsdatum. Und in der Tat handelte es sich mehrheitlich um Frauen, die vor ihrer freiwilligen Meldung zur Ausbildung als SS-Helferinnen in Mühlhausen bei der Gerätebau GmbH tätig gewesen waren. In diesem Werk mussten später die jüdischen Häftlinge arbeiten. Die deutschen Freiwilligen wurden nach einer kurzen Ausbildung im KZ Ravensbrück zurück nach Mühlhausen geschickt. Einige waren aus Mühlhausen und Umgebung gebürtig, andere wohl ursprünglich als Arbeiterinnen für das Rüstungswerk zugezogen. Man kann bei wenigen auch eine Tätigkeit in anderen Lagern nachweisen. Die vorliegenden Dokumente geben auch interessante Einzeleinblicke in den Dienstablauf – etwa über interne Konflikte, Vorwürfe wegen Dienstvergehen und ähnliches mehr. In den Erinnerungen von ehemaligen Häftlingen werden die Aufseherinnen ebenfalls erwähnt, leider kaum namentlich. Mehrfach wird ihnen bescheinigt, rücksichtsloser und brutaler als das männliche Wachpersonal aufgetreten zu sein – dass sie so präsent und negativ in Erinnerung sind, kann auch daran liegen, dass die SS-Helferinnen viel mehr Kontakt mit den Gefangenen hatten. Von etwa jeder fünften der Aufseherinnen ist belegt, dass sie nach dem Krieg längere Zeit interniert bzw. zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Vom männlichen Personal dieses und des Männer-Außenlagers sind leider weniger Details bekannt. Zwar konnten mehr als 30 von den ca. 50-60 Männern namentlich ermittelt werden, aber die Angaben sind nicht immer vollständig. In einem Teil der Fälle handelte es sich auch bei den Männern um „Quereinsteiger“ – ehemalige Wehrmachtsangehörige niederer Dienstgrade, die in der letzten Kriegsphase in den SS-Dienst übernommen wurden, und nicht um längerdienende Angehörige der Totenkopfverbände. Mehrere der Wachmannschaften des Männerlagers – aber auch zivile Vorgesetzte – machten sich brutaler Übergriffe auf die Gefangenen schuldig.

Luftaufnahme des Stadtwalds von Mühlhausen
Stadtwald von Mühlhausen, Luftaufnahmen der US-Air Force, 8. April 1945.
Markierungen: Produktionshallen der Gerätebau GmbH (links), Baracken des Außenlagers (rechts) und heutiger Standort des Bratwurstmuseums (schraffiert).
©Geodateninfrastruktur-Thüringen

Ja, vor allem dank der Hilfe der Mitarbeiter des Stadtarchivs konnte ich ein knappes halbes Dutzend Personen kontaktieren, die Erinnerungen an eines der Lager oder aber an den Zwangsarbeitereinsatz im Stadtgebiet hatten. Natürlich waren die noch lebenden Zeitzeug:innen damals Kinder bzw. Jugendliche, ihr Einblick in die Ereignisse musste deshalb begrenzt bleiben. Aber sie konnten mir wertvolle Hinweise geben. So verdanke ich einem Zeitzeugen eine eindrucksvolle Beschreibung vom Ende des Frauen-Außenlagers. Er begegnete zufällig der nächtlichen Marschkolonne, die durch die Stadt in Richtung Bahnhof zog. An der Spitze und am Ende marschierte ein Wachmann mit Taschenlampe – der Rest des Zuges blieb im Dunkeln, auch die übrigen Wachen. Die Gefangenen hatten sich gegen die Kälte Decken über Kopf und Schultern gelegt, so dass man die gestreifte Kleidung nicht sah. Zu hören war nur ein undeutliches Murmeln vieler Stimmen.

Verglichen mit meinen Erfahrungen in anderen Städten war das Echo recht groß. Ein Vortrag Anfang 2020 – wenige Wochen bevor die Pandemie weitere Veranstaltungen unmöglich machte – wurde von bis zu 200 Personen besucht, und das Publikum zeigte sehr lebhaftes Interesse.

Gemeinsam haben alle diese Orte, dass oft wesentliche Aspekte der Lokalgeschichte nicht umfassend aufgearbeitet waren, auch Jahrzehnte nach dem Krieg, und dass sich immer noch viele neue Erkenntnisse ermitteln lassen. Dies lag zum einen daran, dass wesentliche Quellen nicht vor Ort, sondern nur in entfernt liegenden Archiven, gar im Ausland zu finden sind. Viele der engagierten Lokalforscher wussten nicht einmal, dass dieses Material existiert. Zudem ist Forschung natürlich auch immer eine Frage der finanziellen Mittel – ohne eine Förderung seitens der jeweiligen Stadt, des Kreises und oft auch des Landes Thüringen bleiben viele Forschungsziele unerreichbar. Andererseits wurden einige Fragen einfach noch nicht gestellt – Fragen etwa wie die nach der Haltung der lokalen Bevölkerung gegenüber Häftlingen und Zwangsarbeiter:innen. Diese Themen sind in den Jahren der DDR, aber oft auch später nicht untersucht worden. Mitunter gab es nicht einmal Klarheit über die genauen Lagerstandorte. Ein Interesse an der Thematik war vor Ort in jedem Fall vorhanden, doch dies war zumeist nur die Haltung einer kleinen Minderheit interessierter Bürger:innen, Archivar:innen, Historiker:innen und Vertreter:innen der politischen Parteien. Viele andere betrachteten das Thema als unwichtig oder nahmen in Abwehr der vor 1989/90 erfolgten Instrumentalisierung des Gedenkens eine eher apathische Haltung ein. In Einzelfällen musste ich mich aber auch mit einer direkten Abwehrhaltung gegen die Recherchen auseinandersetzen, bis hin zum Versuch, die Forschungen oder ihre Publikation zu sabotieren, sei es aus persönlichen Gründen oder aus Furcht vor dem Imageverlust für Firmen, die während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeiter:innen ausbeuteten. In Mühlhausen war dies glücklicherweise nicht der Fall.

Von zentraler Bedeutung ist die Unterstützung durch engagierte Kolleg:innen und Unterstützung vor Ort. Städtische Archivar:innen, die die lokalen Bestände kennen und mit Interesse bei der Sache sind, Geschichtsvereine, die beim Kontakt mit Zeitzeug:innen helfen können etc. Forschung baut eigentlich immer auf der Arbeit anderer auf und ist stets eine gemeinsame Anstrengung vieler. Doch auch die generelle Aufgeschlossenheit der Zivilgesellschaft vor Ort ist wichtig – wenn das Ergebnis der Forschung sich nicht auf ein wenig gelesenes Buch beschränken soll, benötigt man eine Offenheit gegenüber der Thematik in Teilen der Gesellschaft. Glücklicherweise war dies bisher immer der Fall, so dass ich stets umfassende Unterstützung fand. Leider ist Forschung wie bereits erwähnt auch eine Frage der zur Verfügung stehenden Mittel – es bedarf also auch der Bereitschaft, dafür Geld aufzuwenden, um Wege zu gehen, die bisher nicht verfolgt werden konnten. Schließlich und endlich ist es manchmal aber auch einfach Glückssache – selbst die engagierteste Forschung und Förderung versagt, wo Quellen in großem Umfang bei Kriegsende vernichtet wurden oder aus anderen Gründen kaum Material vorliegt. Von daher ist Forschung stets auch ein Stück weit ein Abenteuer – man weiß am Anfang selten, was man am Ende als Ergebnis präsentieren kann.

Natürlich ist das eine Frage, die nur vor Ort entschieden werden kann – am besten im Dialog zwischen Stadtverwaltung, zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und, in beratender Funktion, mit Vertreter:innen der Wissenschaft bzw. geschichtspolitischen Akteur:innen wie der Gedenkstätte Buchenwald. Wichtig wäre es meiner Meinung nach, das Wissen um die Außenlager – und den Zwangsarbeiter:inneneinsatz generell – noch stärker als bisher dauerhaft im öffentlichen Bewusstsein zu verankern, das Bewusstsein noch mehr zu schärfen, welche Rolle Mühlhausen in der NS-Rüstungsindustrie und im Repressionsapparat übernahm. Die Geschichte der Menschen, die in die Stadt verschleppt wurden, begann nicht mit ihrer Ankunft und endete nicht mit ihrem Abtransport Dies muss nicht zwangsläufig über traditionelle Gedenkelemente wie die Markierung der Lagerstandorte geschehen. Dabei besteht immer ein wenig die Gefahr, dass Gedenktafeln und ähnliches rasch wieder in Vergessenheit geraten, gerade wenn sie eher am Stadtrand gelegen sind. Auch Formen der virtuellen, interaktiven Markierung und Geschichtsvermittlung scheinen mir eine Überlegung wert. Aber wie gesagt: Vor allem wäre eine dauerhafte Kooperation zwischen der Stadt, den zivilgesellschaftlichen Akteur:innen und der Gedenkstätte sicherlich von großem Vorteil, um eine dauerhafte Wirkung zu erzielen.

Marc Bartuschka arbeitet seit 2010 als selbstständiger Historiker und Autor an Projekten zur thüringischen Geschichte, vor allem zu den Themen Zwangsarbeiter:inneneinsatz und KZ-Außenlager im Zweiten Weltkrieg. Seit Herbst 2019 ist er von der Stadt Mühlhausen beauftragt mit Recherchen zu den dortigen KZ-Außenlagern und der Ausarbeitung eines monographischen Abschlussberichtes.

Fragen: Rikola-Gunnar Lüttgenau

Alles Wurst?

 

Am 1. Februar 2019 schaffte es die thüringische Kreisstadt Mühlhausen immerhin auf die Seite 6 der New York Times. Die Entscheidung der Stadt, auf dem Areal des ehemaligen Buchenwalder Außenlagers „Martha II“ ein Bratwurstmuseum entstehen zu lassen, löste internationale Aufmerksamkeit und Erstaunen aus.

 

Tatsächlich hatte niemand bei der Entscheidung, dem Träger des Bratwurstmuseums just dieses Baugelände anzubieten, an dessen eigentlich bekannte Geschichte gedacht: Anfang September 1944 war dort, am Rande des Mühlhäuser Stadtwaldes, ein KZ-Außenlager für weibliche Gefangene entstanden. Die zunächst 500, dann rund 700 jüdischen Deportierten kamen größtenteils aus dem KZ Auschwitz und mussten im Stadtwald in der Produktion von Geschosszündern arbeiten.

 

Damit verfügte die ehemalige Reichsstadt 1944 über zwei Buchenwalder Außenlager: Im innerstädtischen Lager „Martha“ leisteten rund 650 männliche KZ-Häftlinge für einen Zweigbetrieb der Junkers-Werke Zwangsarbeit.

 

Die scharfen Kontroversen über die künftige Nutzung des Areals hatten zwei wesentliche Konsequenzen: Zum einen entsteht das Bratwurstmuseum nun nicht mehr auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers (sondern auf einem Grundstück nebenan). Zum anderen beauftragte die Stadt Mühlhausen mit Mitteln des Freistaats Thüringen Marc Bartuschka mit einem Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte der beiden Buchenwalder Außenlager.

Homepage des Bratwurstmuseums
Webseite des „1. Deutschen Bratwurstmuseums“
©https://www.bratwurstmuseum.de

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