Mittelbau-Dora

Täter und Opfer im Nationalsozialismus

Gesellschaftliche und kulturelle Kontexte der Verbrechen im KZ Mittelbau-Dora im Fokus der Gedenkstättenarbeit

An der Geschichte des Konzentrationslagers Mittelbau-Dora lässt sich die gesellschaftliche Verankerung der KZ-Zwangsarbeit und insbesondere das Ineinandergreifen von vermeintlich normalem Alltagsleben in der Region und fortschreitender Radikalisierung der NS-Herrschaft während der letzten Kriegsphase aufzeigen. Die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora widmet sich als ein konkreter Lern- und Gedenkort der europäischen Dimension der nationalsozialistischen Verfolgungen.

Die historisch-politische Bildungsarbeit in KZ-Gedenkstätten steht immer noch vor der Herausforderung, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu stärken. Es wäre eine bedauerliche Verkürzung, an die Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, ohne den historischen Kontext herauszuarbeiten, der ihr Leiden verursacht hat. Um zu verstehen, wie konkrete Handlungen von Täter:innen konkrete Menschen zu Opfern des nationalsozialistischen Deutschlands gemacht haben, muss unser Blick auf die Tätergesellschaft gerichtet sein. Ohne sie zu vernachlässigen, werden wir folglich in unserer historischen Bildungsarbeit über die strafrechtlich relevanten Verbrechen hinausgehen, die in den Konzentrationslagern von SS-Männern, aber auch Wehrmachtsangehörigen im Wachdienst begangen wurden. Ein umfassender kultur- und sozialhistorischer Ansatz nimmt als wichtige Ergänzung die langen historischen Linien von Denkstrukturen der Ausgrenzung und Kriminalisierung in den Blick. Außerdem gilt es konkrete Anreizsysteme und Bindungskräfte des Nationalsozialismus zu analysieren, um die vielfältigen Motive für das Mitmachen der überwiegenden Mehrheit der Deutschen sichtbar zu machen.

Der Ort Mittelbau-Dora weist ein Spezifikum auf: Die Beschäftigung mit dem letzten, noch 1944 eingerichteten Konzentrationslager verlangt von uns eine Ergänzung bzw. Verschiebung der Fragestellung. Es kann nicht nur um die Frage gehen, warum die Nazis 1933 an die Macht kamen. Vielmehr steht in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora die Frage im Zentrum, warum die Mehrheit der Deutschen auch 1943 weitermachte, obwohl nach der Niederlage von Stalingrad sehr offensichtlich war, dass der Krieg für Deutschland verloren war. Warum unterstützten so viele Deutsche weiterhin zumindest passiv das Regime? Wie ist die erschreckend hohe Zahl der aktiven Täter:innen am Ende des Krieges zu erklären? Ganz normale Deutsche hatten sich längst an den alltäglichen Anblick von Zwangsarbeiter:innen gewöhnt. Beispielweise gingen hunderte Menschen täglich in der Nordseite des Kohnsteins zu ihrer Arbeit im Nordwerk, in dem zivile Zwangsarbeiter arbeiten mussten. Häftlinge des KZ Mittelbau-Dora mussten im gleichen Stollensystem, also in direkter Nähe, für die fixe Idee einer „Wunderwaffe“ Zwangsarbeit bei der Montage der V2-Rakete leisten.

Deutsche Zivilarbeiter auf dem Weg zur Arbeit im Junkers-Nordwerk
Deutsche Zivilarbeiter auf dem Weg zur Arbeit im Junkers-Nordwerk an der Nordseite des Kohnsteins, 1944
©Hanns Hubmann, Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz

Die Allgegenwart von KZ-Zwangsarbeit in den Jahren 1944 und 1945 lässt sich an einem weiteren Aspekt verdeutlichen, der im öffentlichen Geschichtsbewusstsein noch zu wenig Aufmerksamkeit erfahren hat: das System der Außenlager. In regionaler Perspektive lässt sich an den Beispielen der Außenlager des KZ Mittelbau europäische Geschichte erzählen. Die Häftlinge kamen aus allen Teilen des von Deutschland besetzten Europas, während die Täterschaft starke regionale Bezüge durch unmittelbare wirtschaftliche Beziehungen ortsansässiger Unternehmen zu den Lagern hatte. Die jüngsten Schritte zur Neugestaltung des Gedenkortes Ellrich-Juliushütte versprechen endlich einen angemessenen Umgang mit dem historischen Ort des größten Außenlagers im Komplex Mittelbau-Dora. 2020 hat ein Preisgericht einen Siegerentwurf in einem Ideen- und Realisierungswettbewerb gekürt. Dieser Entwurf nutzt landschaftsarchitektonische Stilmittel, um die Orientierung für Besucher:innen zu verbessern und eine Vorstellung von der Größe des Lagers zu generieren. Weiterhin enthält er konkrete Vorschläge für einen Umgang mit baulichen Relikten, der beim Besuch des ehemaligen Außenlagers dabei hilft, zwischen Gedenkorten für die Häftlinge und Lernorten über das System der Ausbeutung zu unterscheiden. Auf diese Weise wird für Besucher:innen nun erstmals klar und leicht erkennbar, an welchen Stellen Häftlingsbarracken und an welchen Stellen SS-Wirtschaftsgebäude standen. In den kommenden Jahren ist mit einer Umsetzung der Gestaltungsideen zu rechnen.

An vielen anderen Standorten ehemaliger Außenlager besteht weiterhin das Desiderat, die Öffentlichkeit und die lokale Bevölkerung überhaupt zunächst auf das Thema aufmerksam zu machen und einen sensiblen Umgang mit den historischen Relikten einzufordern. Im sachsen-anhaltinischen Blankenburg beispielsweise stehen Pläne im Raum, die Stollenanlage des KZ-Außenlagers Klosterwerke dauerhaft zu verfüllen. Aufgabe der Gedenkstätten ist es, in solchen Debatten zu intervenieren und ein kluges Abwägen zwischen pragmatischen Notwendigkeiten einerseits und dem Erhalt historischer Gedenkorte andererseits einzufordern.

Portraits und Lebensläufe ehemaliger KZ-Insassen
Sonderausstellung „… und dann fängt das zweite Leben an“ in der ehemaligen Feuerwache der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora

Keineswegs soll also der verstärkte Fokus der Gedenkstättenarbeit auf die deutsche Tätergesellschaft die Erinnerung an die Opfer beiseite schieben. Vielmehr schärft der Blick auf die NS-Gesellschaft die Perspektive auf die Geschichte der NS-Opfer in den Konzentrationslagern. Wie wurde es möglich, dass so viele Menschen zur Zwangsarbeit in einem breiten Konzentrationslagernetz in verschiedene Orte des Südharz verschleppt wurden? Wer profitierte davon? Warum akzeptierten das so viele Deutsche? Selbst der konkrete Anblick von KZ-Häftlingen im eigenen Dorf oder in der eigenen Kleinstadt, selbst der direkte Kontakt mit KZ-Zwangsarbeitern am eigenen Arbeitsplatz führte nur in sehr wenigen Ausnahmen zu Reaktionen des Mitgefühls und brachte so gut wie nie konkrete Hilfe für die Häftlinge.

Selbstverständlich hat die Gedenkstättenarbeit also weiterhin ein zentrales Interesse an den Opfern, ihrer Leidensgeschichte, aber auch ihrer weiteren Lebensgeschichte nach 1945. So rückte Sonderausstellung „… und dann fängt das zweite Leben an“ die Nachkriegsbiographien von ehemaligen Häftlingen Mittelbau-Doras in den Mittelpunkt, um deren Leben nicht unzutreffend auf Jahre der Gefangenschaft zu verkürzen. Die fotografischen Porträts und Biografien betonen die Individualität der Überlebenden. Im Jahr 2020 konnte die Ausstellung pandemiebedingt nicht in angemessener Form eröffnet werden. Sie war auch nur zeitweise und eingeschränkt für Besucher:innen geöffnet. Die Gedenkstätte hofft auf die Möglichkeit einer würdigen Eröffnung im Jahr 2021.

Der Historiker Karsten Uhl ist seit 2020 Leiter der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora.


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