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Digitaler Zugang zu Quellen der nationalsozialistischen Verbrechen

In den Sammlungen der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora liegt ein Fundus historischer Quellen, der in Teilen schon digital zugänglich ist. In den nächsten Jahren soll der Zugang zu diesen Quellen ausgebaut werden. Wie offen kann der Zugang dazu gestaltet sein? Und welches Potenzial steckt in diesen besonderen Quellen?

An Quellensammlungen zur nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte müssen bei der Digitalisierung besondere Anforderungen gestellt werden. In vielen Gedenkstätten sind diese Sammlungen über Jahrzehnte zusammengetragen worden. Sie enthalten Originale aus der NS-Zeit und den folgenden Jahrzehnten ebenso wie Kopien aus anderen Institutionen und Schenkungen von Einzelpersonen in verschiedenen Formen und Formaten. Fragen des Zugangs zu diesen Beständen wurden bisher größtenteils unter rechtlichen Gesichtspunkten diskutiert. Einschränkungen durch Urheberrecht und Datenschutz sind für Archive und Forschungsinstitutionen wichtige Faktoren bei der Regelung der Einsichtnahme in ihre Bestände. Beim Umgang mit Quellen aus der Zeit des Nationalsozialismus ist die historische Kontextualisierung als inhaltliche Anforderung allerdings entscheidend – sowohl für Gedenkstätten, aber auch für alle anderen Institutionen, die solche Quellen in ihren Beständen haben.

Ein großes Versprechen der Digitalisierung ist eine möglichst freie und barrierearme Verfügbarkeit historischer Quellen. Internationale Normen für Informationsmodelle und digitale Archivierung ermöglichen die Sichtbarkeit von Quellensammlungen in einer Fülle von Anwendungen, Portalen und Katalogen. Dadurch werden zunächst nur grundlegende Informationen (wie Personennamen, Dokumententitel oder Entstehungszeitpunkt) verfügbar gemacht. Für die Kontextualisierung mit dem Wissen, das in den Gedenkstätten vorhanden ist, und die Verknüpfung mit Quellen in anderen Institutionen gibt es noch keine Lösung, die eine vergleichbare Akzeptanz gefunden hat.

Im Unterschied zu anderen digitalen Quellensammlungen, die (scheinbar) selbstevident wertvolles Kulturgut umfassen oder Grundlagen für die historische Forschung legen, müssen bei Quellenbeständen zur Geschichte der nationalsozialistischen Verbrechen gesellschaftliche Vermittlungsformate von Anfang an mitgedacht werden. Das hat gute Gründe: Herrschaftswissen des Nationalsozialismus, das in diesen Beständen enthalten ist, konnte und kann zur Aufrechterhaltung von Diskriminierungsstrukturen beitragen. Sinte:zza und Romn:ja, als „Asoziale“ oder „Berufsverbrecher“ Verfolgte, Homosexuelle, Angehörige von Opfern der nationalsozialistischen Patient:innenmorde und andere Opfergruppen mach(t)en auch nach 1945 viele leidvolle Erfahrungen, in denen historisches Wissen gegen sie gewendet wurde. Dafür gibt es zahlreiche Beispiele: Deutsche Behörden nutzten Adressdaten für rassistisches Profiling und politische Diskriminierung, das Stigma einer Sterilisation nach den Maßstäben der nationalsozialistischen „Rassenhygiene“ wirkte fort und die Wiedergutmachungsbürokratie nutzte Angaben aus den Personalkarteien der Konzentrationslager, um Ansprüche auf Entschädigung ins Leere laufen zu lassen. Zugang gerade zu den Quellen, die individuellen Opfern zugeordnet werden können, muss daher diese verschiedenen Dimensionen des nach 1945 fortgeführten Unrechts mitdenken. Gleichzeitig bieten ein offener, digitaler Zugang und die Nutzung digitaler Werkzeuge für die Millionen Karteikarten, Deportationslisten und Verwaltungsdokumente, die aus den verschiedenen Verfolgungskontexten überliefert sind, eine große Chance. Die Ausmaße der nationalsozialistischen Gesellschaftsverbrechen können damit ebenso nachvollziehbar gemacht werden, wie individuelle Verfolgungsbiografien.

Ansicht eines Berichts über das Novemberprogrom
Auszug aus einem Bericht über das Novemberpogrom am 9.11.1938 in Erfurt, BwA-K-31/117. Der Bestand BwA-K-31 im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald ist der erste Bestand, den das Digitalisierungsprojekt der Stiftung bearbeitet.
©Archiv der Gedenkstätte Buchenwald

Die schrittweise Öffnung der Archive des Internationalen Tracing Service in Bad Arolsen seit 2015 markiert einen wesentlichen Schritt, die Namen der Opfer der Konzentrationslager digital präsent zu machen. In den frei zugänglichen Sammlungen der Arolsen Archives können viele der erhaltenen Dokumente aus dem Verwaltungssystem der Lager eingesehen werden. Eine vergleichbare Öffentlichkeit für die Namen der Täter:innen gab es in den Nachfolgestaaten des NS-Regime nie. Für die erhaltenen Mitgliederlisten der Wehrmacht, der SS und der NSDAP steht auch 76 Jahre nach dem Ende des Nationalsozialismus nicht zur Debatte, ob sie digital zugänglich gemacht werden sollen. Aufrufe wie „Macht die Personalakten der Wehrmacht öffentlich!“ anlässlich des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion verhallen meist ungehört. Dieses Missverhältnis beim Zugang zu historischen Dokumenten verhindert die Verknüpfung zwischen der verbrecherischen deutschen Vergangenheit mit persönlichen und gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten. Auch diese Dimension muss in der Diskussion um digitalen Zugang problematisiert werden.

Beim Umgang mit Informationen zu den Opfern des Nationalsozialismus ebenso wie bei Täter:innen-Quellen kommt es auf die Kontextualisierung an. Ebenso wenig wie im analogen Archiv gibt es in digitalen Sammlungen unvermittelte dokumentarische Evidenz. Aber es gibt die Chance, die gewachsene Ordnung der Quellen, ihre Lücken und ihre Aussagekraft nachvollziehbar zu machen. Dazu müssen ihnen Informationen beiseitegestellt werden, die eine kritische Einordnung ermöglichen. Digitale Werkzeuge, gemeinsam genutzte Forschungsdaten, Infrastruktur und offene Erschließungsinformationen helfen dabei, solches Wissen aus verschiedenen Quellen bereitzustellen. Voraussetzung für eine kritische Kontextualisierung ist auch die Verfügbarkeit der Forschungsergebnisse in wissenschaftlichen Publikationen, die bisher hinter der Zugänglichkeit zu digitalen Quellen zurückbleibt. Das Primat der Verwertungslogik in der Verlagslandschaft sorgt hier für Wissenslücken, die eine konsequente Hinwendung zu Open-Access Publikationen schließen kann. Es kommt in jedem Fall darauf an, einen möglichst freien Zugang zu den Quellen, den respektvollen Umgang mit den Informationen der Opfer und Überlebenden sowie kontextualisierende Informationen zusammenzudenken. Digitale Sammlungsbestände zu nationalsozialistischen Verbrechen sind so zu erschließen, dass ihr kritisches Potenzial auch für die Gegenwart erkennbar ist. Dabei müssen Werkzeuge und Arbeitsschritte gefunden werden, die mit den knappen Ressourcen auch kleinerer Institutionen vereinbar sind. Das Digitalisierungsprojekt der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora will zu diesen Anforderungen Lösungswege aufzeigen und zusammen mit anderen Institutionen diskutieren.

Das Digitalisierungsprojekt ist eine Kooperation mit der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten und der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen. In einem Teilprojekt zur Online-Präsentation ist die HPI School of Design Thinking des Hasso-Plattner-Instituts an der Universität Potsdam zusätzlicher Partner. Von 2021 bis 2024 wird das Gesamtprojekt durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Länder Thüringen und Brandenburg sowie mit einer Spende der Fondation Tour du Monde gefördert. Mehr Informationen zum Projekt gibt es unter https://sgbmdigital.hypotheses.org/

Der Historiker Markus Wegewitz koordiniert an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora seit 2021 die Digitalisierung zentraler Bestände aus Archiv, Sammlung und Bibliothek.

Nestl, Andreas (2020): Zugang im Archiv. Möglichkeiten und Grenzen für ein offenes Archiv im digitalen Zeitalter, in: Recht und Zugang 1 (1), S. 5–15. https://doi.org/10.5771/2699-1284-2020-1-5

 

Stumpf, Markus, Petschar, Hans, Rathkolb, Oliver (Hrsg.) (2021): Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS-Zeit im Netz, Göttingen. https://doi.org/10.14220/9783737012768.19

 

Urban, Susanne (2018): „Mein einziges Dokument ist die Nummer auf der Hand…“. Aussagen Überlebender der NS-Verfolgung im International Tracing Service, Berlin.


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