Buchenwald

Blog: Radsport und das Konzentrationslager Buchenwald

Am 27. August 2021 passierte das Fahrerfeld der Deutschland Tour den Ettersberg nahe der Gedenkstätte Buchenwald und die Stadt Weimar. Ursprünglich hatten die Veranstalter des mehr tägigen, internationalen Profi-Radrennens einen Streckenverlauf durch die Gedenkstätte geplant. Nach öffentlicher Kritik, unter anderem seitens der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, wurde der Streckenverlauf geändert. Die Etappe über den Ettersberg war dennoch Anlass, sich kritisch mit der Verflechtung des Radsports mit der Geschichte des Konzentrationslagers Buchenwald auseinanderzusetzen – ein bislang vollkommen unbekanntes Terrain.

 

Kurzfristig entstanden sechs kleinere Beiträge, die einige Schlaglichter auf das Thema werfen. Über die Social-Media-Kanäle der Stiftung wurden sie parallel zur Austragung der Tour veröffentlicht, um das Ereignis zumindest digital auch historisch zu begleiten. Andere Radsportblogs nahmen die Geschichten auf.

 

Die Spurensuche führte unter anderem ins Weimar des Jahres 1937, zur Tour des France im Jahre 1921, in das radsportbegeisterte Belgien und auf den Gipfel des Col d’Aubisque in den französischen Pyrenäen.

68 Radprofis starteten am 6. Juni 1937 zur ersten Etappe der Deutschland-Rundfahrt, dem Vorläufer der heutigen Deutschland-Tour. Nach einer sechsjährigen Unterbrechung war es die erste Austragung des internationalen Radrennens in Nazideutschland. 12 Etappen führten quer durch das Deutsche Reich mit Start und Ziel in Berlin. Die dritte Etappe am 8. Juni startete in Chemnitz und endete in Erfurt. Kurz vor dem Ziel passierte das Fahrerfeld Weimar. Die für seine Kulturstätten bekannte Stadt war zu dieser Zeit als Landes- und sogenannte Gauhauptstadt auch das Zentrum der NS-Bewegung in Thüringen. Für den ersten Fahrer, der Weimar erreichte, hatte der NS-Gauleiter Fritz Sauckel einen Ehrenpreis gestiftet. Reinhold Wendel aus Schweinfurt sicherte sich ihn. Rund fünf Wochen nach der umjubelten Durchfahrt der Deutschland-Fahrer erreichten 149 Männer den Ettersberg vor den Toren der Stadt. Es waren die ersten Häftlinge des neu gegründeten Konzentrationslagers Buchenwald.

Zeitungsausschnitt: Foto von drei Radfahrern, die den Hitlergruß zeigen; links der Reichssportführer, der den Kranz zur Ehrung hält
Siegerehrung der Deutschland-Rundfahrt am 20. Juni 1937 im Olympiastadion Berlin.
©Deutsche Illustrierte, 6. Juli 1937
Schwarz-Weiß-Fotografie eines Jungen, Alfred Salomon, mit seinem Vater (rechts)
Alfred Salomon (links) mit seinem Vater, um 1930
©Stadtarchiv Bochum/Erinnern für die Zukunft Bochum e.V.

Bereits mit sechs Jahren trat Alfred Salomon (1919-2013) in seiner Heimatstadt Bochum in den Radrennverein Westfalia 1895 ein. Er stammte aus einer jüdischen Familie und wurde ein begeisterter Radfahrer. Sein Onkel Moritz Lindau hatte maßgeblichen Anteil am Bau der Bochumer Radrennbahn. In der Gastwirtschaft seiner Eltern fanden viele lokale Sportvereine ein Zuhause. Mit Freunden nahm er an Radrennen teil – auf der Straße und der Bahn. Als Preise erhielten sie Pokale oder Schlauchreifen. Ab 1933 schlossen viele Vereine ihre jüdischen Mitglieder aus. Alfred Salomons Vereinsfreunde standen jedoch zu ihm. Damit er weiter Rennen fahren konnte, startete er nun unter falschem Namen. Ab 1935 war dies jedoch nicht mehr möglich.Beim Novemberpogrom 1938 entging der gelernte Fleischer nur knapp seiner Verhaftung. Er floh nach Berlin, wo er bei Freunden unterkam und als angelernter Elektriker arbeitete. Mit seiner Frau wurde er 1943 nach Auschwitz deportiert. Er kam in das Lager Auschwitz-Monowitz, seine Frau ermordete die SS nach der Ankunft. Mit der Räumung des Lagers wurde Alfred Salomon im Januar 1945 in das KZ Buchenwald verschleppt. Von dort schickte die SS ihn in das Außenlager Langenstein-Zwieberge. Nach der Befreiung kehrte er nach Bochum zurück. Er baute sich ein neues Leben auf und engagierte sich wieder für den örtlichen Radsport.

Foto von Alfred Mottard auf dem Fahrrad
Alfred Mottard
©La dernière heure, 16.8.1921

Der 27. Juni 1920 war der Höhepunkt in der Radsportkarriere des Belgiers Alfred Mottard (1892–1945). An diesem Tag ging er als einer von 113 Fahrern in Paris an den Start der 14. Tour de France. Die Rundfahrt fand für ihn jedoch ein schnelles Ende. Bereits auf der ersten Etappe, die über 380 Kilometer von Paris nach Le Havre führte, stürzte er und musste aufgeben. Alfred Mottard wurde 1892 in Jemelle bei Namur in eine Arbeiterfamilie geboren. Seit früher Jugend trainierte der Radsportbegeisterte mit seinem Bruder auf einer nahegelegenen Radrennbahn. Über seine Karriere als Radprofi ist wenig überliefert. In den 1920er-Jahren ging er bei Rennen in Belgien und Luxemburg an den Start. Seinen Lebensunterhalt verdiente der Familienvater mit einem kleinen Fahrradgeschäft. Später arbeitete er als Schweißer und Taxifahrer. Im Krieg geriet er in die Fänge der Gestapo. Als politischer Gefangener wurde er in verschiedenen Gefängnissen in Belgien inhaftiert. Aus dem Fort Breendonk, dem zentralen Gefängnis der Gestapo in Belgien, kam er mit einem Sammeltransport im Mai 1944 in das KZ Buchenwald. Er wurde in verschiedenen Arbeitskommandos eingesetzt. Im Januar 1945 überstellte ihn die SS in das KZ Mittelbau-Dora. Dort starb er kurz darauf am 24. Januar 1945. Alfred Mottard wurde 52 Jahre alt.

coloriertes Porträt von Frans Hotag
Frans Hotag, ohne Datum
©Heemkring Molengalm

Frans Hotag (1920-1945) stammte aus Stabroek bei Antwerpen. Seit frühester Jugend war der Radsport seine Leidenschaft. In zahlreichen Nachwuchswettbewerben machte er sich schon bald einen Namen in seiner radsportbegeisterten belgischen Heimat. Der Krieg ließ seinen Traum von einer Karriere als Radprofi in weite Ferne rücken. Mit Glück entging er der Kriegsgefangenschaft. Zwei Jahre nahm er an keinem Rennen mehr teil und arbeitete bei der Eisenbahngesellschaft. Erst 1942 kehrte er zurück in die Radsportszene. Ein Jahr später bereits wurde er Berufsrennfahrer. Mit Erfolgen empfahl er sich. Unter anderem gewann er das bis heute ausgetragene Eintagesrennen Nationale Sluitingsprijs Putte-Kapellen. Für 1944 nahm ihn das französische Radteam Alcyon unter Vertrag. Doch seine Karriere fand ein abruptes Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Anfang 1944 verhaftete die Gestapo Frans Hotag. Mit anderen hatte er eine Widerstandsgruppe gegen die deutschen Besatzer gebildet. Nach Wochen in einem Gefängnis in Antwerpen wurde er im Mai in das KZ Buchenwald deportiert. Zur Zwangsarbeit schickte die SS ihn in das Außenlager Dora, später nach Ellrich. Den Bedingungen dort hielt er nicht stand. Mit 24 Jahren starb Frans Hotag am 6. Februar 1945 im KZ-Außenlager Ellrich. In seiner Heimatstadt erinnert heute eine Straße an den jungen Radprofi und Widerstandskämpfer.

Totenzettel für André Dekeyser mit einem Bild von ihm links und dem Nachruf rechts
Totenzettel für André Dekeyser, Juni 1945.
©Nederlands Bidprentjes Archief

„Radrennfahrer André Dekyser verstorben. Ein Opfer der Nazis“ – so die Schlagzeile in der Sportrubrik der Roode Vaan, der Zeitung der kommunistischen Partei Belgiens, vom 15. Juni 1945. Fünf Wochen zuvor war André Dekeyser (1922–1945) aus dem KZ Buchenwald in seine Heimatstadt Torhout in Westflandern zurückgekehrt. In der Radsportszene Belgiens galt er als ein hoffnungsvolles Talent. 1938 nahm er erstmals an Juniorenradrennen teil. Schon bald erschien er in den Siegerlisten. Seit 1942 ging er als Nachwuchsfahrer für den Radsportverein W.S.C. Torhout an den Start. Ab Mitte 1943 jedoch tauchte sein Name in keiner Starterliste mehr auf. André Dekeyser wurde nach Deutschland verschleppt, vermutlich als Zwangsarbeiter. Im Februar 1945 wies die Gestapo Dresden ihn als politischen Häftling in das KZ Buchenwald ein. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits sehr schwach. Die folgenden Wochen bis zur Befreiung verbrachte er im Kleinen Lager von Buchenwald, dem Elendsquartier des Lagers, in das die SS nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge pferchte. Bei seiner Rückkehr nach Torhout wog er nur noch 37 Kilogramm und kam sofort in ein Krankenhaus im nahegelegenen Brügge. Von den Folgen der KZ-Haft erholte er sich jedoch nicht mehr. André Dekeyser starb am 11. Juni 1945 im Alter von 23 Jahren. Er hinterließ eine Frau und eine Tochter.

Foto von André Bach auf einer Straße, neben seinem Fahrrad stehend
André Bach, ohne Datum
©Cyclo Club Béarnais

Auf dem Gipfel des Col d’Aubisque, einem Bergpass in den französischen Pyrenäen, erinnert seit 1948 ein Denkmal an André Bach. Generationen von Teilnehmern der Tour de France passierten es seitdem. Doch wer war André Bach? André Bach (1888–1945) stammte aus Paris. Im Ersten Weltkrieg wurde er schwer verwundet. Er verlor seinen linken Arm. Sport und insbesondere das Radfahren verliehen ihm neue Lebensfreude. 1936 zog der Familienvater ins südfranzösische Pau. Dort arbeitete er als Journalist und Redakteur. Dem Radsport blieb er nicht nur journalistisch treu. Regelmäßig erklomm er die Bergpässe der Pyrenäen, insbesondere den Col d’Aubisque. Mit nur einem Arm war dies eine außerordentliche Leistung. Über Jahre amtierte er zudem als Präsident im Cyclo Club Béarnais, einem lokalen Radsportverein. Seit Kriegsbeginn engagierte sich André Bach in der Résistance. Er schmuggelte Nachrichten und Kuriere über die Grenze und half jüdischen Familien bei der Flucht in die Schweiz. 1943 wurde er verhaftet und im Januar darauf in das KZ Buchenwald deportiert. Seine Befreiung erfolgte auf einem Todesmarsch im April 1945. Doch die Strapazen waren zu groß. Anfang Mai 1945 starb André Bach auf dem Weg in seine Heimat. Das Denkmal auf dem Col d’Aubisque entstand auf Initiative des Cyclo Club Béarnais. Bis heute treffen sich dort jedes Jahr Radsportbegeisterte, um mit einer Gedenkfahrt an den ehemaligen Vereinspräsidenten zu erinnern.

Der Historiker Michael Löffelsender promovierte 2011 mit einer Studie zur Justiz im Zweiten Weltkrieg.

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