Buchenwald

Dr. Gotthard Martin Gauger (1905 – 1941)

Eine Spurensuche in Buchenwald 80 Jahre nach seiner Ermordung

Schwarz-Weiß-Foto von Martin Gauger
Martin Gauger, um 1936
©Familie Gauger

Dr. Gotthard Martin Gauger,

 

geboren am 4. August 1905 in Elberfeld, stammte aus einer protestantischen Pfarrersfamilie. Mit 28 Jahren war er zum Dr. jur. promoviert worden. Mit 29 warf man ihn aus dem Staatsdienst; er wollte den Eid auf Hitler nicht leisten. Vorübergehend stellte ihn die Leitung der Bekennenden Kirche in Berlin an. Er half Verfolgten. Als überzeugter Pazifist konnte er der Aufforderung, sich für den Kriegsdienst mustern zu lassen, nicht Folge leisten. Er versuchte sich umzubringen und floh schließlich, kurz vor der Besetzung der Niederlande durch deutsche Truppen, über die niederländische Grenze. Bei der weiteren Flucht wurde er angeschossen und geriet in Gestapo-Haft. Vor Gericht drohte ihm ein Todesurteil, doch das Regime, in Siegesstimmung, wollte offensichtlich keinen öffentlichen Prozess. Nach einem Jahr im Gefängnis Düsseldorf-Derendorf verlegte ihn die Gestapo in das Konzentrationslager Buchenwald. Nur einen Monat später, am 15. Juli 1941, wurde er in der Tötungsanstalt Sonnenstein (Pirna) ermordet.

 

Anlässlich seines 80. Todestages wurde vom 10. bis zum 18. Juli 2021 in Weimar und Buchenwald an den evangelischen Kirchenjuristen in einer Reihe von Veranstaltungen gedacht, die von der Gedenkstätte Buchenwald, der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Weimar und der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland in Kooperation mit der Katholischen Pfarrgemeinde Weimar und der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen organisiert wurde. Die Evangelische Kirche in Deutschland erinnert Martin Gauger als einen der Märtyrer des 20. Jahrhunderts.

Wegweiser am Carachoweg
Wegweiser am Carachoweg
© SS-Foto 1943

Hier hielt am Nachmittag des 12. Juni 1941 ein Gefangenenwagen aus Weimar – zum zweiten Mal an diesem Tag. 22 Männer mussten vor der „Politischen Abteilung“, der Lager-Gestapo, antreten. Nach der Ankunft ihrer Züge aus dem Rheinland und Sachsen hatte man sie im Polizeigefängnis, 200 Meter vom Weimarer Hauptbahnhof entfernt, gesammelt: Zwei, die schon einmal in Buchenwald waren; fünf Vorbestrafte, die im Lager den grünen Winkel der „Berufsverbrecher“ tragen mussten; ein Dresdner Jude, der eine Haft wegen „Rassenschande“ verbüßt hatte; vier politische Häftlinge und zehn junge Polen. Die nun folgende „Aufnahme“ verlief nach immer gleichem Muster, denn sie diente der Abschreckung und nur nebenbei der Kontrolle der Personendaten. Ein ebenfalls im Sommer 1941 eintreffender politischer Gefangener erinnert sich: „Die Wagentür wurde geöffnet. SS stand mit Maschinenpistolen bereit. Einer nach dem anderen sprang oder fiel aus dem Wagen. Jeder drängte, um schnell herauszukommen. Niemand wollte der letzte sein. Wir wurden aufgestellt, gezählt und der Lager-SS übergeben. Dann wurden wir in eine Baracke geführt, vor der wir standen. Es war die Baracke der ‚Politischen Abteilung‘, die Baracke, vor der sich die frommen polnischen Häftlinge immer bekreuzigten, bevor sie eintraten. Mit dem Gesicht zur Wand standen wir da und warteten auf unseren Aufruf. […] Dann kam die Reihe an mich. Als ich die Tür geschlossen hatte, sagte ich mein Sprüchlein her und wartete, bis man mich rief. ‚Komm her, du Schwein!‘“1 In den Aufnahmebogen des Häftlings Nummer 4953, Martin Gauger, wurde die „Wehrdienstentziehung“ nicht genannt. Stattdessen hielt man fest: „nach Holland emigriert“.

AUsschnitt aus Karte von Buchenwald, markiert: Carachoweg und Block 10

Im Frühsommer 1941 befanden sich im Konzentrationslager Buchenwald 6.800 Häftlinge. Block 10, eine Holzbaracke in der zweiten Barackenreihe, war Aufnahmeblock für „Zugänge“. Er bestand aus zwei Flügeln: der Abteilung für die Neuankömmlinge und dem „Arbeitserziehungslager“, das die Weimarer Gestapo dort im April 1941 eingerichtet hatte. Die „Arbeitserziehungshäftlinge“ – im Lager nannte man sie auch 56-Tage-Häftlinge – sollten binnen kurzer Zeit mit Gewalt demoralisiert und „umerzogen“ werden. Block 10 war umzäunt, es gab keinen Kontakt zum übrigen Lager. „Zugänge“ blieben in der Regel vier Wochen hier. In dieser Zeit waren sie dem Steinbruch zugeteilt, dem härtesten Arbeitskommando. Martin Gauger musste ab Montag, dem 16. Juni 1941, dort arbeiteten. Tags zuvor schrieb er die erste Nachricht nach Hause: „Liebste Mutter! Am vorigen Donnerstag, den 12., bin ich hier eingetroffen. Es geht mir gesundheitlich gut. Anfragen an die Lagerleitung sind verboten und zwecklos. An Geld können mir höchstens 30,- RM im Monat – durch Postanweisung gesandt werden. Dir, allen Geschwistern und Bekannten, die sich meiner noch erinnern, die herzlichsten Grüße/ Dein dankbarer Sohn Martin“2

In Block 10 blieb Martin Gauger wahrscheinlich nur wenige Tage, denn eine Woche nach seinem Eintreffen in Buchenwald erhielt er auf Anweisung der Gestapo den Buchstaben „K“ in den roten Winkel. Er war jetzt K-Häftling und wurde bald darauf in Block 1 verlegt, wo die SS diese Gruppe konzentrierte. Seit Sommer 1940 ließ die „Politische Abteilung“ einzelne Gefangene als „K-Häftlinge“ kennzeichnen. „K“ stand für jede Form von Kriegssabotage, sei es aus politischen oder kriminellen Motiven oder als spontane Reaktion auf Zumutungen des Regimes. In der Lagersprache nannte man die K-Winkel-Träger auch „Kriegsverbrecher“. Das hatte Folgen: Die meisten gehörten zum Steinbruchkommando, mit wachsender Zahl wurden sie in einem Block zusammengezogen; aus dieser Gruppe entstand Mitte Juli 1941, die „K-Kompanie“, eine Abteilung der Strafkompanie, die vom übrigen Lager isoliert und permanenten Schikanen ausgesetzt war. Martin Gauger kam zu dieser Gruppe, als die Baracke der K-Häftlinge noch nicht umzäunt war. Dadurch konnte er in Kontakt mit anderen politischen Häftlingen treten. Abends oder an Sonntagen traf er sich mit dem elf Jahre jüngeren Alfred Leikam, vor der Haft Notariatsanwärter und Anhänger der Bekennenden Kirche. Der Kontakt ging wohl von Leikam aus, der als Schreiber im Häftlingskrankenbau arbeitete und schon fast zwei Jahre im Lager war. Sie tauschten sich über Glaubensfragen aus und über den Zustand der deutschen Gesellschaft.

Ausschnitt aus der animierten Karte von Buchenwald, markiert: Block 1 und Steinbruch

Die Steinbruchkolonne sammelte sich täglich unter den Fenstern des Zellenbaus und zog mit Marschmusik durch das Lagertor zum tausend Meter entfernten Steinbruch. Der Häftling, der das Kommando führte, Kapo Johann Herzog, war ein früherer Fremdenlegionär. Er kollaborierte mit der SS und verschärfte in eigener Initiative den Terror im Kommando. Im Bruch wurde Kalkstein abgebaut, der im Straßenbau Verwendung fand. Die Zwangsarbeit war körperlich aufreibend, Häftlinge mussten die mit Steinen beladenen Loren aus der Sohle des Bruchs nach oben zur Straße schieben. Schon in der ersten Woche im Steinbruch erlebte Martin Gauger, wofür dieser Ort außerdem berüchtigt war. Am frühen Vormittag des 23. Juni 1941 wurde Horst Reichel, 23 Jahre alt, Musikschüler aus Breslau, im Steinbruch „auf der Flucht erschossen“; zwei Wochen später, am 10. Juli 1941, Siegfried Jacobsohn, der einen Monat zuvor mit Martin Gauger nach Buchenwald gekommen war. In den Hitzetagen der ersten Julidekade 1941 starben fünf Häftlinge an Hitzschlag. Martin Gauger musste sich, vermutlich im Rahmen einer Reihenuntersuchung auf Tuberkulose, in diesen Tagen im Krankenbau vorstellen, ein Röntgenbild wurde angefertigt.

Schwarz-Weiß-Foto vom Steinbruch
Steinbruch, April 1945.
©Alfred Stüber

Wegen ihrer in den Hang gebauten Lage mit dem nach Norden ausgerichteten Giebel wurde die Mitte 1941 eröffnete Baracke für Tuberkulosekranke in Buchenwald „Alm“ genannt. Diese Bezeichnung war nicht ohne Sarkasmus, denn die „Alm“ war von Beginn an auch ein Ort der Aussonderung und des Krankenmords. Seit Beginn seiner Tätigkeit in Buchenwald hatte der von der SS-Zentrale beauftragte SS-Offizier für den „Arbeitseinsatz“ darauf gedrängt, die nicht mehr zur Arbeit tauglichen Häftlinge loszuwerden. Von „unproduktiven Juden“ und „Gesox“ war in diesem Zusammenhang die Rede. Kranke und Schwache störten das Bild der SS von einer möglichen wirtschaftlichen Effizienz der Lager. So kam es 1941 zur Kontaktaufnahme mit dem Personal der Krankenmord-Aktion „T4“ und schließlich zur Nutzung der Mordstätten der „T4“ bei der Ermordung von Häftlingen. In den Konzentrationslagern lief sie unter der Deckbezeichnung „Sonderbehandlung 14f13“. Gleichzeitig begann in der „Alm“ der Mord an Tuberkulosekranken mittels Injektionen. Zahlreiche der Mitte Juli 1941 aus dem Konzentrationslager Dachau eintreffenden 2.000 Häftlinge wurden so ausgesondert und, namentlich durch den SS-Arzt Dr. Hanns Eisele, ermordet. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion, der mit beispiellosen Massenmorden einher ging, kannte auch die Lager-SS keine Grenzen mehr.

Ausschnitt aus der animierten Karte von Buchenwald, markiert: "Die Alm" und Wechselbad

Bis Mitte 1941 gehörten zum Häftlingskrankenbau drei Baracken, eine vierte, die „Alm“, war gerade fertiggestellt. Im Kellergeschoss der Baracke 3, dem Wechselbad – heute durch archäologische Grabungen wieder freigelegt – fanden Aufnahmeuntersuchungen und auch Selektionen statt. Hier fiel vermutlich schon am Tag der Ankunft von Martin Gauger eine Vorentscheidung – jeder Vierte aus seiner Gruppe, die sich am Nachmittag oder Abend des 12. Juni 1941 zur Zugangsuntersuchung stellen musste, stand später auf der Todesliste des Transports nach Sonnenstein – aus dem Vormittags-„Zugang“ vom 12. Juni niemand. Die genauen Umstände sind nicht mehr rekonstruierbar. Nur das Tagebuch des Häftlingskrankenbaus stützt den Verdacht. Es verzeichnet am 13. Juni 1941: „Transportuntersuchungen: 200“3 – die Zusammenstellung der zwei Transporte in die Tötungsanstalt Sonnenstein, die vier Wochen später folgten. Die Selektion führte eine Kommission externer, eigens dafür angereister Ärzte durch: der Leiter der Tötungsanstalt Sonnenstein, Horst Schumann, und sein Mitarbeiter Hans Bodo Gorgaß. Mit Sicherheit waren sie am 13. Juni, wahrscheinlich schon am Nachmittag des 12., in Buchenwald. So fiel die Zugangsuntersuchung des zweiten Transports vom 12. Juni, in dem sich Martin Gauger befand, mit ihrem Erscheinen zusammen. Die am 13. Juni 1941 erstellte Liste für die Mordstätte Sonnenstein ist nicht erhalten geblieben. Sie wurde offensichtlich im Laufe der folgenden vier Wochen noch korrigiert. Einen Monat später, am 13. Juli 1941, nahm die SS einen Transport mit 94 Personen, einen Tag später einen Transport mit 93 Personen aus der Lagerstärke. Auf der ersten Liste stand der Name von Martin Gauger.

„Folgende Häftlinge sind morgen früh 3 Uhr am Haupttor des Schutzhaftlagers transportfertig bereitzustellen:“4 Es folgen sieben Namen von Patienten des Häftlingskrankenbaus, alle von der Liste des ersten Sonnenstein-Transportes. SS-Unterscharführer Gotthold Michael, ein enger Vertrauter des SS-Lagerkommandanten Karl Koch, der am 14. Juli 1941 diesen Befehl an den Krankenbau schrieb, war offensichtlich für die Organisation der geheim gehaltenen Transporte zuständig. Noch vor Anbruch des Tages trat am 15. Juli der Transport am Lagertor an. Wahrscheinlich wurden sie in Lastkraftwagen gepfercht und von hier nach Pirna-Sonnenstein gebracht. Gleich nach der Ankunft dort wurden die 94 Männer des ersten Transportes, und mit ihnen auch Martin Gauger, in der Gaskammer der „T4“-Anstalt Sonnenstein erstickt.

Schwarz-Weiß-Fotografie: drei uniformierte Männer vom Steinbruchkommando vorm Lagertor, im Hintergrund treten Häftlinge an
Steinbruchkommando, angetreten unter den Zellenfenstern am Lagertor, Herbst 1938.
©International Court of Justice, The Hague

Vom 18. bis 21. Juli (1. Transport) und vom 22. bis 26. Juli (2. Transport) meldete die SS den Tod der 187 Menschen dem Standesamt Weimar II. Der ehemalige Schreiber des Häftlingskrankenbaus, Rudolf Gottschalk, sagte darüber aus: „Als die Transporte weggingen, wußten wir noch nicht, wohin die Häftlinge verbracht wurden. Einige Tage später kam der Sanitätsdienstgrad Wilhelm mit den Effekten ins Revier und übergab mir in einigen Persilschachteln Zahnprothesen, Brillen, ferner Krücken. Von da ab wussten wir mit Gewißheit, dass die Häftlinge getötet worden waren. Auf meine Frage sagte der SDG [Sanitätsdienstgrad] etwa sinngemäß: ‚Hoven kommt gleich runter und wird dir das Nötigste sagen.‘ Kurz darauf erschien auch der SS-Lagerarzt, und nachdem er mich nochmals auf meine Verschwiegenheit verpflichtet und auf etwaige Folgen, wenn das, was gesprochen werde, in die Öffentlichkeit gerate, hingewiesen hatte, übergab er mir eine Liste der abtransportierten und getöteten Häftlinge und befahl mir, diese Häftlinge vom Revierbestand abzusetzen und die Karteikarten auszusondern. Hoven bestätigte mir, daß die Häftlinge der beiden Transporte tot seien, und daß ich die amtlichen Totenpapiere fertigzumachen hätte. Auf meine Frage nach der Todesursache wurde mir gesagt, ich solle mir irgend etwas aus dem medizinischen Wörterbuch aussuchen. Im Laufe der nächsten 8 bis 14 Tage war ich unter Aufsicht von SDG Wilhelm beschäftigt, nachträglich Krankengeschichten anzulegen, die zu dem angeblichen Tod des einzelnen Häftlings geführt haben ...“5 Auch die Angehörigen von Martin Gauger erhielten eine gefälschte Krankengeschichte. Es dauerte Jahre, bis das Verbrechen aufgeklärt war.

Der Historiker Harry Stein ist Kustos für die Geschichte des KZ Buchenwald an der Gedenkstätte Buchenwald.

Fußnoten

1 Finkelmeier, Conrad (1947): Die braune Apokalypse. Erlebnisbericht eines ehemaligen Redakteurs der Arbeiterpresse aus der Zeit der Nazityrannei, Weimar, S. 67f.

2 Zitat in: Böhm, Boris (2018): „Recht muss doch Recht bleiben!“ Die Verfolgung des Juristen Martin Gauger (1905-1941) im Nationalsozialismus, Dresden, S. 99.

3 Dienstbuch des Häftlingskrankenbaues vom 22. April 1941 bis 15. Dezember 1941, Teilbestand 1.1.5.1., Individuelle Unterlagen Männer Buchenwald, ITS Digital Archive, Arolsen Archives.

4 Befehl des SS-Unterscharführers Gotthold Michael an den Häftlingskrankenbau, 14.7.1941, Landesarchiv Thüringen, Hauptstaatsarchiv Weimar, KZuHafta Buchenwald, Nr. 9, Bl. 65.

5 Zitat in: Kogon, Eugen/Langbein, Hermann/Rückert, Adalbert u. a. (Hrsg.) (1986): Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Eine Dokumentation, Frankfurt a. M., S. 72f.


var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();