Buchenwald

Ein Lehrer im Widerstand

Michail Wassilewitsch Lewschenkow (1914 – 2004)

Schwarz-Weiß-Fotografie von Lewschenkow, seiner Frau und den Kindern.
Michail Lewschenkow, seine Frau und Kinder der Dorfschule Krutzy, 1934.

Mit dem Blick auf die Biographie und das Schicksal eines einzelnen Menschen entfaltet sich Geschichte besonders eindrücklich – so auch am Beispiel des russischen Lehrers, sowjetischen Soldaten und Buchenwald-Überlebenden Michail Lewschenkow, der als Foto- und Technikenthusiast bereits vor dem Zweiten Weltkrieg seine Umgebung porträtierte und uns einzigartige fotografische Zeugnisse hinterließ. Nach seiner Befreiung aus Buchenwald und der Rückkehr in seine durch den deutschen Überfall und beim Rückzug der deutschen Armee zerstörte Heimat nahm Lewschenkow den Kontakt zu anderen ehemaligen Häftlingen auf. Sein umfangreiches Archiv, den das militärhistorische Freiluftmuseum bei Pskow im nordwestlichen Russland verwahrt, konnte das Archiv der Gedenkstätte Buchenwald nun in digitaler Form für die Forschung und historische Bildung erwerben.1

Michail Wassilewitsch Lewschenkow wurde am 15. August 1914 in eine Bauernfamilie im Dorf Zaretsche bei der Stadt Pskow geboren. Sein Vater kämpfte im Ersten Weltkrieg in den Reihen der Zarenarmee. Mit neun Jahren wurde Michail im benachbarten Dorf eingeschult. Er konnte jedoch, da er zu Hause als Arbeitskraft gebraucht wurde, kaum den Unterricht besuchen und eignete sich den Schulstoff weitgehend selbstständig an. Als Externer erreichte er nach sieben Klassen einen Schulabschluss. Es war die Zeit nach der Gründung der Sowjetunion 1922. Die damit verbundenen Hoffnungen auf einen gesellschaftlichen Aufbruch nach Zarenherrschaft und Krieg, die Versprechen von Fortschritt, Entwicklung und moderner Technik ebenso wie von Teilhabe und Bildung erreichten auch das russische Dorf. Michail begeisterte sich für das sowjetische Bildungsideal, ließ sich für die Alphabetisierungskampagne mobilisieren und brachte den Erwachsenen im Dorf das Lesen und Schreiben bei. Im Jahr 1931, als Siebzehnjähriger, absolvierte er einen 8-monatigen Kurs in der Abteilung für Volksbildung in der nahe gelegenen Kleinstadt Noworschew. In den folgenden drei Jahren arbeitete er als Lehrer einer Dorfschule in Wetschno. Mit 21 Jahren wurde er bereits zum Direktor einer kleinen Dorfschule in Krutzy ernannt, wo er bis zu seiner Einberufung in die sowjetische Armee im Jahr 1940 tätig war. Aus den Bildern, die uns Michail Lewschenkow aus seiner Zeit als Direktor der Dorfschule überlieferte, spricht eine besondere Nähe und eine intensive Beziehung der Lehrer:innen zu den Schüler:innen. Die wenigen Schüler:innen unterschiedlichen Alters wirken skeptisch angesichts der neuen Foto-Technik, aber konzentriert und aufmerksam. Viele Kinder bedurften in dieser Zeit der Fürsorge. Die repressive Politik der sowjetischen Regierung unter Stalin richtete sich in besonderem Maße gegen die Dörfer. Die Bauern wurden gedrängt, in die kollektivierten Landwirtschaftsbetriebe einzutreten, die Familien von Bauern, die als wohlhabend galten, wurden verfolgt. Viele flohen vom Land in die Städte oder wurden zwangsweise umgesiedelt. Kinder trugen in dieser Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs, der forcierten Industrialisierung und Kollektivierung häufig das meiste Leid, Familien wurden auseinandergerissen.

Es gibt keine Hinweise im vorliegenden Material, dass Michail Lewschenkow selbst oder seine Familie von Repressalien betroffen waren. Privat scheinen die 1930er-Jahre für Michail Lewschenkow eine glückliche Zeit gewesen zu sein: Er lernte seine Frau kennen, die gemeinsam mit ihm an der Dorfschule unterrichtete. Sie heirateten 1938, ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Lewschenkow schloss im Fernstudium eine Fotokorrespondentenausbildung ab. Ausgestattet mit einem für die damaligen Verhältnisse auf einem sowjetischen Dorf seltenen und sehr wertvollen Fotoapparat dokumentierte er seinen Alltag und die technischen Neuentwicklungen dieser Zeit: den ersten Radioempfänger, das erste Grammophon. Neben seiner praktischen Arbeit als Lehrer und Direktor an der Dorfschule schloss er 1937 als externer Student die Lehrerausbildung an der pädagogischen Hochschule in der Stadt Opotschka ab.

Schwarz-Weiß-Fotografie von Lewschenkow, er selbst blickt aus dem Fenster, vor ihm steht ein Grammophon
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Das erste Grammophon im Dorf Krutzy bei der Familie Lewschenkow, Mai 1938.
Schwarz-Weiß-Foto von Lewschenkow und einem weiteren Soldaten
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Michail Lewschenkow (links) als Soldat, 1940.

1940 wurde Michail Lewschenkow zum Militärdienst eingezogen. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet er bereits am 15. Juli 1941 bei Minsk in Gefangenschaft. Von Beginn an verstieß die deutsche Wehrmacht vorsätzlich gegen die Genfer Konvention des Völkerrechts im Umgang mit Kriegsgefangenen. Die Umstände in den direkt hinter der Front eingerichteten Gefangenenlagern waren entsetzlich: Die Gefangenen litten an Durst und Hunger, sie wurden auf dem nackten Erdboden bei großer Hitze ohne jegliche Infrastruktur festgehalten, es gab keinen Ort für die Notdurft. Viele starben. Von diesen provisorischen Durchgangslagern transportierte die Wehrmacht einen Teil der Gefangenen in Kriegsgefangenenlager („Stalag“) im Reich. Lewschenkow wurde zunächst im Lager Bela-Podljaska in Polen festgehalten und von dort in das Stalag 310 in Wietzendorf (Lüneburger Heide) gebracht.

Auch das Stalag in Wietzendorf wies noch nicht einmal eine rudimentäre Infrastruktur auf: Die Gefangenen bauten sich einfachste Erdhütten, sie wurden kaum mit Wasser und Nahrung versorgt. Am 18. Oktober 1941 wurde Lewschenkow mit 2.000 weiteren Kriegsgefangenen in das Konzentrationslager Buchenwald transportiert. Nach den Vorstellungen Himmlers sollten sowjetische Kriegsgefangene in den Konzentrationslagern zur Zwangsarbeit eingesetzt werden. Für ihre Unterbringung wurden gesonderte Bereiche mit Stacheldraht als Kriegsgefangenenlager abgezäunt – in Buchenwald zunächst drei Baracken. Allerdings fand die geplante Zwangsarbeit zunächst nicht statt. Stattdessen wurden die sowjetischen Häftlinge isoliert und ihre Verpflegung herabgesetzt. Die kargen Rationen beschrieb Nikolai Simakow, ebenfalls als sowjetischer Kriegsgefangener seit dem 18. Oktober in Buchenwald, in seinen Erinnerungen wie folgt: „Zum Frühstück gab es einen halben Liter dünne Suppe mit Holzspänen und einer Prise Roggen. Mittags 300 g Ersatzbrot, das aus Holzspänen, Kartoffeln, 30 Prozent Roggen und 20 g Margarine bestand. Abends, nach einem 14-stündigen Arbeitstag, erhielten die Gefangenen 800 g Suppe aus Steckrüben. Die Ration war so bemessen, dass ein Mensch einen langsamen Tod starb.“2 Bereits innerhalb eines halben Jahres war jeder dritte sowjetische Kriegsgefangene in Buchenwald an Hunger oder Krankheit gestorben.

Erst ab 1942 mussten die Kriegsgefangenen im Steinbruch oder beim Bau der Bahnlinie Weimar-Buchenwald arbeiten. Die SS vermietete ihre Arbeitskraft auch an Firmen der Umgebung, was nicht selten eine gewisse Verbesserung der Ernährung bedeutete. Lewschenkow war zur Zwangsarbeit im Steinbruch eingesetzt, er arbeitete auch im Tischlereikommando und als Sanitäter. Nach den Erinnerungen sowjetischer Häftlinge, die ab Ende der 1950er-Jahre in der Sowjetunion erscheinen konnten, war Lewschenkow auch als Pädagoge im Lager tätig: Er habe mit den Mitgefangenen Gespräche über patriotisch-historische Themen geführt, wie über die Vertreibung der französischen Armee aus Moskau und den Sieg des Zaren Alexander über Napoleon 1813.3 Ab 1943 begannen sowjetische Häftlinge, eine militärische Widerstandsorganisation im Lager aufzubauen. Lewschenkow beteiligte sich als Verantwortlicher für Agitation und Propaganda. In Schulheften, die im Lager weiterverbreitet wurden, sammelte er Informationen für eine selbstgefertigte Broschüre „Prawda Plennych“ (Prawda der Gefangenen). Gemeinsam mit anderen Häftlingen organisierte er eine Schule für inhaftierte sowjetische Kinder und Jugendliche, meist minderjährige Zwangsarbeiter, die wegen Fluchtversuchen oder vermeintlichen Verstößen gegen die Arbeitsdisziplin in das in Buchenwald existierende Arbeitserziehungslager (AEL) eingewiesen worden waren. Er brachte den Jugendlichen, die häufig vor ihrer gewaltsamen Verschleppung nach Deutschland kaum eine Schule hatten besuchen können, Lesen und Schreiben bei. Heimliche Konzerte, Schachturniere und ein Weihnachtsbaum halfen den Jugendlichen, den Lebenswillen zu erhalten.

Schwarz-Weiß-Fotografie von mehreren Soldaten der Roten Armee, darunter Lewschenkow in der Mitte mit Mandoline.
Nach der Befreiung in einer Militäreinheit der Roten Armee, Mai 1945. (Lewschenkow in der Mitte mit Mandoline)

Kurz vor der Befreiung Buchenwald, am 10. April 1945, war Lewschenkow in einer Gruppe von 600 sowjetischen Kriegsgefangenen, die die SS auf einen Todesmarsch schickte. Die Kriegsgefangenen wurden im Weimarer Bahnhof in Güterwaggons gepfercht und in Richtung tschechische Grenze gebracht. Lewschenkow und einigen anderen gelang es jedoch, von dem Transport zu fliehen und sich sowjetischen Einheiten anzuschließen, die nach Prag vorrückten.4 Bis zu seiner Demobilisierung Ende September 1945 diente Lewschenkow in den Reihen der Roten Armee, unter anderem im besetzten Deutschland; er wurde schließlich als Lehrer in die Heimat entlassen, auch da Pädagogen dort dringend benötigt wurden. Im Juni 1945 schrieb er in einem Brief an seine Eltern: „Ich kann es selbst kaum glauben, dass ich noch lebe! Als ich im Konzentrationslager Buchenwald war, über das Ihr sicher in der Iswestija vom 26.4.1945 gelesen habt, beschäftigte ich mich mit politischer Untergrund-Arbeit und wusste über das Herannahen unserer Front Bescheid. […] Ich floh von dem Zug in der Tschechoslowakei, dort traf ich in der Partisaneneinheit einen Flieger, der an den Kämpfen um unsere Ortschaft teilgenommen hatte. Er teilte mir mit, dass unser Noworschew vollständig zerstört ist […].“5 Über die Rückkehr in sein Heimatdorf hielt Lewschenkow am 1. Dezember 1945 in seinem Tagebuch auf einem Notizblock fest: „Auf den alten Wegen. Am 1. Dezember 1945 kehrte ich nach Hause zurück. Wie viel Freude und wieviel Kummer.“6

Eintrag in sein Tagebuch
Tagebuch von M. Lewschenkow in einem Notizbuch, Dezember 1945.

Lewschenkows Heimatort war von den deutschen Besatzern vollständig zerstört worden. Seine beiden Brüder waren im Krieg gefallen, seine Frau 1942 an Tuberkulose verstorben. Er fand den Rest seiner Familie in einer selbstgebauten Erdhütte vor: seine Eltern, die Frau seines Bruders und seine Tochter. Er arbeitete wieder als Lehrer und leitete eine Schule im Dorf Dubrowi. 1952 beendete er ein Abendstudium und wurde Lehrer für Biologie und Chemie, 1954 stellvertretender Schulleiter in der Stadt Noworschew. Er setzte sein Abendstudium ausländischer Sprachen an der pädagogischen Hochschule fort, 1964 wurde er zum Fakultätsleiter der pädagogischen Hochschule für berufliche Schulen ernannt, vier Jahre später ging er krankheitsbedingt in den Ruhestand.

Wie viele andere sowjetische Kriegsgefangene musste auch Lewschenkow lange um Anerkennung ringen. In der stalinistischen Sowjetunion waren Kriegsgefangene dem pauschalen Verdacht ausgesetzt, nicht tapfer genug gekämpft zu haben und hatten Repressionen zu fürchten. Der zwangsweise und völkerrechtswidrige Einsatz der Kriegsgefangenen für die deutsche Rüstungsindustrie galt als Kollaboration mit dem Feind. Zudem wurde es bereits als Verstoß gegen das sowjetische Kriegsrecht angesehen, überhaupt in Gefangenschaft geraten zu sein. Erst in der „Tauwetter“-Periode unter Chruschtschow erhielten die ehemaligen Kriegsgefangenen eine eigene Sektion im Veteranenverband.

Schwarz-Weiß-Fotografie: vier Männer in Anzügen in Moskau
Lewschenkow auf dem Ersten Allrussischen Veteranenkongress in Moskau, Juni 1959. (Von links nach rechts: Waleri Cheifez, Nikolai Simakow, Michail Lewschenkow, Nikolai Kjung)

Nun konnten sie ihre Erinnerungen publizieren; sie wurden auch über das Radio in der gesamten Sowjetunion verbreitet. Ein Korrespondent der Lenfilm-Produktion interviewte Lewschenkow 1958 für die Nachrichtensendung „Kinojournal“. Der kurze Beitrag proträtiert Lewschenkow als ehemaligen Widerstandskämpfer in seiner Vorbildfunktion als Biologie-Lehrer.7 Die öffentliche Resonanz der Lager-Erinnerungen führte auch zu einer gewissen Rehabilitierung ihrer Autoren, die nun wieder in die Partei aufgenommen wurden oder sich dem Veteranenverband anschließen konnten. Dies war angesichts der schlechten gesundheitlichen Verfassung der ehemaligen Häftlinge wichtig, da der Status des Veteranen auch eine entsprechende medizinische Versorgung und die Zuteilung von Sanatoriumsaufenthalten bedeutete. Im Juni 1959 fand das erste allrussische Veteranentreffen der „Buchenwalder“ in Moskau statt, an dem auch Lewschenkow teilnahm. Zahlreiche Fotografien halten diese wichtige Begegnung der ehemaligen Häftlinge fest. Rechts neben Lewschenkow ist Nikolai Simakow zu sehen, einer der Köpfe der Widerstandsorganisation, der nach seiner Rückkehr nach Nowosibirsk mehrfach verhört und 1948 bis 1950 erneut inhaftiert war.

Bis zu seiner Verrentung aus gesundheitlichen Gründen im Jahr 1968 war Lewschenkow als Lehrer tätig. Er wurde 1985 mit einem Orden für seine Kriegsteilnahme ausgezeichnet und starb neunzigjährig im Jahr 2004. Sein umfangreiches Archiv übergab er der Sammlung des militärhistorischen Museums Pskow. Neben zahlreichen persönlichen und beruflichen Dokumenten enthält es Fotografien und Schriftwechsel, unter anderem mit anderen ehemaligen Häftlingen aus Buchenwald in der Sowjetunion und der DDR. Die Buchenwald bezogenen Dokumente konnten nun als Scans für das Archiv erworben werden.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Fußnoten

1 Wir danken herzlich der ehemaligen wissenschaftlichen Volontärin Elena Petuhova, die den Kontakt für die Gedenkstätte vermittelte, sowie der Bearbeiterin des Nachlasses, Marina Michajlowna Pachomenkowa, und dem Direktor des Militärhistorischen Freiluftmuseums Pskow, Pjotr Michajlowitsch Grintschuk, für die Zusammenstellung und Überlassung eines digitalen Teil-Nachlasses von Michail Lewschenkow.

2 G. Polivin (1959), Eto bylo v Buchenval´de [G. Polivin nach dem Bericht von N. Simakov, Das war in Buchenwald], Novosibirsk, S. 21.

3 Polivin, S. 45.

4 Bericht Ju. Sapunov (1958), in: M. Vilenskij, Vojna za koljučej provolokoj, Moskau, S. 28.

Brief M. Lewschenkow an seine Eltern, 15.06.1945, NL Lewschenkow, Archiv Gedenkstätte Buchenwald.

6 Tagebuch-Aufzeichnungen M. Lewschenkow, 1.12.1945. NL Lewschenkow, Archiv Gedenkstätte Buchenwald.

7 https://www.net-film.ru/film-71725/; Наш край № 29 (1958). Киножурнал №71725, 1 часть, хронометраж: 0:10:21, ценовая категория G


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