Ferdinand Peroutka wurde am 6. Februar 1895 als Sohn einer Deutschen und eines Tschechen in Prag geboren. Dort besuchte bis 1913 das Gymnasium. Während des Ersten Weltkrieges versteckte er sich zunächst vor seiner Einberufung in den Alpen, letztendlich wurde er aufgrund von gesundheitlichen Problemen vom Wehrdienst entbunden. Bereits in dieser Zeit arbeitete Peroutka als Journalist, größere Bekanntheit gewann er jedoch erst nach der Gründung der Tschechoslowakei. 1919 übernahm er die Leitung der unabhängigen Zeitung „Tribuna“ (Tribüne). 1924 wurde er Chefredakteur des angesehenen Journals „Přítomnost“ (Gegenwart), das auch der erste Präsident der Tschechoslowakei Tomáš Garrigue Masaryk unterstützte. Für das demokratisch orientierte Blatt schrieben zahlreiche Autoren. Dazu zählten Außenminister Kamil Krofta, der Schriftsteller Karel Čapek und die Journalistin Milena Jesenská.
Buchenwald
Vor fast 50 Jahren veröffentlichte Ferdinand Peroutka im Exil seinen Roman „Oblak a valčík“ (Wolke und Walzer) über die Zeit der nationalsozialistischen Besatzung in Prag. Dieses bisher in Deutschland nahezu unbekannte Werk erhielt im Rahmen des 76. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald im April 2021 mit einer szenischen Lesung seine Bühne im „Deutschen Nationaltheater Weimar“. Zeit, sich Autor und Werk zu nähern.
Peroutka, Ferdinand (2015): Wolke und Walzer, Berlin.
Aus dem Tschechischen übersetzt von Mira Sonnenschein.
Mit den Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš stand Ferdinand Peroutka nicht nur in beruflichen, sondern auch freundschaftlichen Beziehungen. Zwischen 1924 und 1939 kommentierte er in der Zeitung „Lidové noviny“ (Volkszeitung) die politische Lage im Land. In den 1930er Jahren zählte Peroutka zu den wichtigsten Intellektuellen der Tschechoslowakei. Als solcher geriet Peroutka nach der deutschen Besetzung ins Visier des Verfolgungsapparates. Während der Verhaftungsaktion „Albrecht I.“ im September 1939 wurde Peroutka über das Konzentrationslager Dachau in das Konzentrationslager Buchenwald gebracht. Nach der „Aktion Gitter“ vom Frühjahr 1939 war dies die zweite große Verhaftungswelle im Protektorat Böhmen und Mähren. Sie diente als präventive Maßnahme zur Schwächung des tschechischen Widerstandes und betraf Sozialdemokraten, Kommunisten, Intellektuelle, deutsche Emigranten oder Juden. Im April 1943 wurde Peroutka in das Gefängnis Prag-Pankratz (Věznice Pankrác) überstellt. Er sollte die Tätigkeit bei „Přítomnost“ wieder aufnehmen, jedoch das Blatt im Interesse der Nationalsozialisten ausrichten. Dieses Angebot schlug er aus und kam daraufhin im August 1944 zurück nach Buchenwald, wo er im April 1945 befreit wurde.
Wenige Wochen nach seiner Befreiung verfasste er eine kurze Zeugenaussage über die Situation im Konzentrationslager Buchenwald. Darüber hinaus begann er, ein Tagebuch zu schreiben. Nach der Rückkehr 1945 in die Heimat war Ferdinand Peroutka für kurze Zeit Mitglied des tschechoslowakischen Parlaments, der Nationalversammlung. Er arbeitete als Chefredakteur der demokratischen Tageszeitung „Svobodné noviny“ (Freie Zeitung) und der Wochenzeitschrift „Dnešek“ (Heute). In seinen Leitartikeln und Kolumnen zeigte er sich weiterhin als Gegner des Kommunismus, weshalb er die Tschechoslowakei nach dem kommunistischen Putsch 1948 verlassen musste. Die nun regierenden Kommunisten warfen ihm eine prodeutsche Haltung vor und versuchten, ihn durch gefälschte Zitate zu diskreditieren. In den folgenden Jahrzehnten wurde er in der Tschechoslowakei und anderen sozialistischen Staaten zur persona non grata erklärt. Zunächst im britischen Exil verließ Peroutka 1950 Europa in Richtung Amerika. In den USA leitete er von 1951 bis 1961 die tschechische Abteilung von „Radio Free Europe“ und war weiterhin schriftstellerisch tätig. Ferdinand Peroutka starb am 20. April 1978 in New York. Erst 1991 konnte seine Urne auf den Ehrenfriedhof Vyšehrad in Prag umgebettet werden.
Bereits kurz nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Buchenwald fasste Peroutka den Entschluss, die Ereignisse der letzten Jahre literarisch zu verarbeiten. 1947 veröffentlichte er in der Tschechoslowakei den dramatischen Text „Oblak a valčík“. In zwölf Bildern zeigte er darin ein Panorama der Jahre 1939 bis 1945 auf. Die einzelnen Szenen des sich chronologisch entwickelnden Stückes sind nur lose miteinander verbunden. Peroutka versuchte, möglichst viele Themen der jüngsten Geschichte anzusprechen: den Einmarsch der Besatzungstruppen und das (Über-)Leben in einem Konzentrationslager, die Stalingrader Schlacht und das Ende des Krieges.
Das Theaterstück erlebte 1947 seine Premiere an den Nationaltheatern in Prag und Bratislava. Nach dem kommunistischen Februarputsch 1948 verschwand es von den Spielplänen. Planungen, den Text auch im Deutschen Nationaltheater in Weimar zu inszenieren, wurden verworfen. Im US-amerikanischen Exil baute Peroutka das Theaterstück schließlich zum Roman aus, der 1976 in der tschechischsprachigen Exiledition „68 Publishers“ in Toronto publiziert wurde. In seiner Heimat konnte das Buch bis zum Niedergang des Regimes 1989 nicht erscheinen und wurde beschwiegen. Auch in der Bibliographie fremdsprachiger Buchenwaldliteratur, von der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald 1986 veröffentlicht, finden sich keine Verweise auf Ferdinand Peroutka und sein literarisches Schaffen.
Prag im Frühjahr 1939. Im Restaurant „Baroque“ treffen sich die gehobenen Kreise zum Kartenspiel, während sich vor den Türen die Katastrophe der deutschen Besatzung ankündigt. Im Mittelpunkt von Peroutkas Roman steht die tschechische Tischgesellschaft um die Bankangestellten Kraus und Novotný und den Arzt Dr. Pokorný. Auf unterschiedliche Weise und zu verschiedenen Zeiten werden die Protagonisten vom Terror des Besatzungsregimes erfasst. Während der eine durch seine Unterstützung des Widerstandes ins Gefängnis kommt, wird der andere durch eine Namensverwechslung ins KZ verschleppt. Jene, die Krieg und Lagerhaft überleben, kehren zurück in der Hoffnung, das gewohnte Vergangene anzutreffen. Doch das Vergangene scheint tot, fremd und verlassen. Wie das Prager Restaurant „Baroque“, in dessen Räumen den Rückkehrenden nur noch die gestapelten Tische mit dem eingeritzten Namenszug des vormals lebenslustigen Herrn Kraus an die alten Zeiten erinnern.
Peroutka benennt im Roman deutlich, aber nicht aufdringlich die Zwangslagen des mörderischen Systems, in denen sich der:die Einzelne immer wieder befindet und entscheiden muss. So zeichnet er u. a. das Dilemma, dem ein Häftling ausgesetzt ist, der auf Druck der Lager-SS einen anderen Häftling bestrafen soll. Er macht dies schließlich aufgrund der eigenen Angst, obwohl er sich der Verachtung seiner Mitgefangenen bewusst ist. Die Häftlingsgesellschaft ist bei Peroutka keine heroische, homogene Gruppe. Er zeichnet das Bild einer ausdifferenzierten Zwangsgemeinschaft – mit Privilegien und Verrat, aber auch mit Zusammenhalt und Courage. Doch Peroutka geht es nicht nur um die Gefangenen und Leidenden. Er skizziert in seinem Roman ebenso die Charaktere ihrer Peiniger – etwa des Gestapomitarbeiters Jänicke – nach. Während sich dieser in der Theaterfassung in die Nachkriegszeit hinüberzuretten versucht, endet sein Leben im Roman ähnlich qualvoll wie er es selbst andere spüren ließ. An vielen Stellen des Romans wird deutlich, dass sich Peroutka bei der geschilderten Topographie des Lagerortes am Hauptlager des KZ Buchenwald orientierte, auch wenn der Name im Gegensatz zum Schriftzug im Tor – „Jedem das Seine“ – nicht genannt wird. Über allem stehen die titelgebenden Elemente: Wolke und Walzer. Die Wolken verdunkeln den Lauf der Geschichte und reißen auf, nachdem US-amerikanische Panzer das Lager befreiten. Der Walzer begleitet im Radio den Auftakt des Krieges, ist auf den Appellplätzen, bei Peinigungen und in den Träumen der Häftlinge zugegen.
Seit 2015 liegt nun eine deutsche Übersetzung des Romans mit Auszügen aus Peroutkas Tagebuchnotizen von 1945 vor. Im gleichen Jahr wurde die Person Peroutkas erneut zur Zielscheibe von Falschinformation und Diffamierung. Der tschechische Präsident Miloš Zeman bezichtigte ihn der Affinität gegenüber dem Nationalsozialismus. Als Beweis diente ihm dafür ein – wie sich schnell herausstellte – gefälschter Artikel der Zeitschrift „Přítomnost“ mit dem Titel „Hitler je gentleman“ (Hitler ist ein Gentleman) aus den 1930er-Jahren. Peroutkas Enkelin Terezie Kaslová ging dagegen gerichtlich vor. Nach einem mehrjährigen Rechtsstreit entschuldigte sich das tschechische Finanzministerium im November 2021 bei ihr. Der Fall zeigt eindringlich, wie versucht wird, aus der Fälschung historischer Dokumente politisches Kapital zu schlagen. Ein besorgniserregender Trend, dem es immer wieder entgegenzutreten gilt.
Der Historiker und Westslavist Franz Waurig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Forschungsprojekt „Gedenken ohne Wissen? Die sowjetischen Speziallager in der postsozialistischen Erinnerungskultur“ an der Gedenkstätte Buchenwald.
Der Historiker und Jiddist Rene Emmendörffer ist wissenschaftlicher Volontär in der Kustodie zur Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Gedenkstätte Buchenwald.