Im Juli 1997 traf ich Günter Pappenheim zum ersten Mal direkt in der Gedenkstätte. Auf einer Veranstaltung anlässlich der 60. Wiederkehr der Lagergründung sprach er über seine Erlebnisse während der Haft in Buchenwald. Meine Aufgabe bestand darin, das historische Umfeld der Lagergründung zu erläutern. Damals waren wir zwei Akteure einer Veranstaltung – der ehemalige Häftling und die Historikerin, die sich mit Zurückhaltung begegneten. Erst im Laufe der Jahre entstand eine engere Verbindung, wuchs Vertrauen. Im August 2015 beging Günter Pappenheim seinen 90. Geburtstag, zu dem auch ich eingeladen war. Seine Kameraden der Lagerarbeitsgemeinschaft gratulierten ihm mit einer Laudatio. Erst da erfuhr ich Details aus seinem langen Leben.
Buchenwald
Geboren im August 1925 in der kleinen thüringischen Stadt Schmalkalden, wuchs er in einer sozialdemokratischen Familie auf. Sein Vater Ludwig Pappenheim, Parteivorsitzender des SPD, Stadtrat und Leiter der „Volksstimme“ wurde bereits im März 1933 verhaftet und am 4. Februar 1934 im Lager Neusustrum ermordet. Die Mutter Frieda blieb mit vier Kindern mittellos zurück. Da der Vater aus einer jüdischen Familie stammte, erfuhr die Familie Pappenheim Ausgrenzung und antisemitische Beschimpfungen. Es gelang, für Günter eine Lehrstelle als Schlosser in der Schmalkalder Werkzeugfabrik „Gebrüder Heller“ zu bekommen. Hier fand er zusammen mit seinem Bruder Kurt Anschluss an die dort beschäftigen Kriegsgefangenen und ausländischen Zivilarbeiter. Einer von ihnen, der junge Flame Etienne de Belair gehörte bald zur Familie. Gemeinsam hörten sie in der Wohnung Nachrichten von Radio London. Am 14. Juli 1943 spielte Günter Pappenheim auf seiner Ziehharmonika für die französischen Arbeiter zu ihrem Nationalfeiertag die „Marseillaise“. Eine Tat, die sein ganzes Leben verändern sollte.1 Er wurde denunziert und in das Suhler Polizeigefängnis gebracht – später in das Arbeitserziehungslager Römhild. Auf einer nicht ungefährlichen Radtour besuchten ihn dort Kurt und Etienne de Belair. Mit „Schutzhaftlagerbefehl“ kam Günter Pappenheim im Oktober 1943 als 18-Jähriger in das KZ Buchenwald.
In seiner, für den 75. Jahrestag der Befreiung vorbereiteten Rede, sprach er aus, was entscheidend für sein Überleben war: „Ich, der wenig Erfahrene, neunzehnjährige politische Häftling, wäre gnadenlos dem Mordterror der SS ausgeliefert gewesen, hätten mir nicht erfahrene Kameraden beigestanden. Noch heute verneige ich mich vor dem Sozialdemokraten Hermann Brill und dem Kommunisten Eduard Marschall, die mich im Kleinen Lager ausfindig machten und dafür sorgten, dass ich in’s Hauptlager kam. Ich verneige mich vor Hermann Schönherr und Walter Wolf, die mutig und uneigennützig solidarisch als Kapos das Leben von anderen Kameraden beschützten – auch mein Leben. Und ich erinnere mich in Dankbarkeit an den Stubendienst im Block 45 Fritz Pollack, der für mich eine Schlafstelle fand.“ Und er erinnerte auch an das Totengedenken auf dem Appellplatz vom 19. April 1945. „Wo sich heute die Gedenkplatte befindet, war ein schlichter hölzerner Obelisk errichtet und vor diesen traten blockweise die 21.000 Überlebenden an, um im Gedenken an die 51.000 Toten (später sollte die Zahl auf 56.000 ergänzt werden) den Schwur zu leisten mit der Grundaussage: ‚Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.‘“2 Diese Worte begleiteten Günter Pappenheim sein ganzes weiteres Leben, ihnen fühlte er sich als seinem Kompass verpflichtet.
Bereits 1946 engagierte er sich in der SED, war später in der staatlichen Verwaltung der DDR und als Parteifunktionär tätig, so zum Beispiel als Erster Sekretär der SED-Kreisleitungen von Schmalkalden und Luckenwalde und Vorsitzender des Rates des Bezirkes Potsdam. Erst nach seinem Ruhestand im Jahr 1990 widmete Günter Pappenheim seine Zeit intensiv der Erinnerung an Buchenwald. Er machte sie zu seinem Lebensinhalt – ab 2000 als Erster Vizepräsident des Internationalen Buchenwaldkomitees und von 2005 bis zu seinem Tod als Vorsitzender der Lagerarbeitsgemeinschaft Buchenwald. Darüber gibt der Teilnachlass sehr detailliert Auskunft. Unterlagen zu seiner beruflichen Tätigkeit in der DDR finden sich nicht darin.
Im September 2018, zur Trauerfeier für seinen Bruder Kurt in Schmalkalden, sprach er mich als Archivarin der Gedenkstätte an. Er bat um die baldige Übernahme der Unterlagen aus seiner Zeit als Vertreter der verschiedenen Häftlingsorganisationen. Schon einen Monat später trafen wir uns bei ihm in Zeuthen mit Gerhard Hoffmann, einem langjährigen Mitglied der Lagerarbeitsgemeinschaft und engem Vertrauten, zu einer ersten Sichtung der Materialien. Gerhard Hoffmann übernahm die Sortierung, gemeinsam mit Günter Pappenheim. Bis Ende November 2018 hatten sie bereits ca. 800 Blatt Korrespondenz geordnet. In dreizehn gemeinsamen Sitzungen sortierten beide das umfangreiche Schriftgut und im Anschluss erfasste es Gerhard Hoffmann akribisch. Am 3. August 2019 erhielt das Archiv das vorläufige Findbuch. Zwei Monate später konnte ich bereits große Teile des Vorlasses geordnet übernehmen.
Im Juli 2020 erfolgte die Unterzeichnung des Depositalvertrages zwischen Günter Pappenheim und dem Archiv der Stiftung zum Vorlass. In einer Anlage bestimmte er Gerhard Hoffmann als Person seines Vertrauens, die in Bezug der Nutzung inhaltlich zu konsultieren ist. „Das betrifft insbesondere Material, dass sich zu meinen Lebzeiten in meinem Besitz befindet, im Vorlass aber bereits erfasst ist.“ Kurz nach seiner Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Weimar verstarb Günter Pappenheim am 31. März 2021 in Zeuthen. Gemäß seinem Wunsch übergab Gerhard Hoffmann bis zum Juli 2021 die persönlichen Dokumente und Fotografien, die noch bei Günter Pappenheim verblieben waren. Sie werden in seinen Nachlass eingegliedert. Ich bin sehr froh, dass der „Buchenwald Nachlass“ von Günter Pappenheim Teil des Archivs geworden ist. Nach seiner abschließenden Bearbeitung wird er zur Nutzung zur Verfügung stehen. Eine Meldung zur Zentralen Datenbank Nachlässe (ZDN) des Bundesarchivs wird erfolgen.
Die Historikerin Sabine Stein leitete das Archiv der Gedenkstätte Buchenwald von 1982 bis 2022.