Buchenwald

Sowjetische Speziallager im Kontext

Einblick in eine Neuerscheinung

Cover "Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik"

Das Cover des Bandes zeigt sowjetische Offiziere und Wachmannschaften vor dem sowjetischen Klub in der Vorzone des Speziallagers Nr. 1 in Sachsenhausen, November 1949. (Archiv Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen)

 

Bis heute wird kontrovers diskutiert, ob sich die sowjetischen Speziallager als Instrument von Herrschaftssicherung, als Arbeitskräfte-Reservoir für die Sowjetunion oder als Entnazifizierungsmaßnahme charakterisieren lassen. Häufig verstellen Deutung und Interpretation der Speziallager deren eigentliche Geschichte. Der Sammelband will mit zahlreichen Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven neues Licht auf ein seit nunmehr 30 Jahren historisch bearbeitetes und unterschiedlich eingeordnetes Thema werfen.

Was genau waren eigentlich „sowjetische Speziallager“ und wie ordnen wir sie historisch ein? Zum Handwerk von Historikerinnen und Historikern gehört, vergangene Sachverhalte in ihre jeweiligen historischen Kontexte zu setzen und bei der Beurteilung komplexer Vergangenheiten verschiedene Perspektiven einzunehmen. Bei diesen Beurteilungen sollen sie sich nicht von Vorannahmen oder Vorurteilen leiten lassen, sondern von den wissenschaftlichen Kriterien der Quellenkritik. Der Sammelband „Zwischen Entnazifizierung und Besatzungspolitik. Die sowjetischen Speziallager 1945–1950 im Kontext“, gemeinsam herausgegeben von den Gedenkstätten Sachsenhausen und Buchenwald, setzt sich zum Ziel, in einzelnen empirischen Studien neue Impulse zur Speziallagergeschichte zu vermitteln. Er vereint selbst verschiedene Perspektiven, möchte die Wahrnehmung des Themas Speziallager erweitern und zu weiteren Forschungen und Debatten anregen. Die Kontexte, in die die Geschichte der sowjetischen Speziallager einzuordnen ist, geben auch die Gliederung des Sammelbandes in drei Teile vor: Das Kriegsende und die Internierungs- und Verurteilungspraxis in Ost und West (1), der Kontext des Stalinismus in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg (2) und die Aufarbeitung der Speziallager-Geschichte im politischen Diskurs der 1950er-, 1990er-Jahre und heute (3).

Der Aufbau des Bandes folgt der historischen Chronologie. Zunächst nimmt Jost Dülffer, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Köln, überblicksartig die Situation in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blick. Alle vier Besatzungsmächte hatten zunächst ähnliche Probleme und sahen sich angesichts der Zerstörungen in Folge des von Deutschland begonnenen Zweiten Weltkriegs mit enormen Herausforderungen konfrontiert: Millionen Obdachlose und Flüchtlinge, darunter die befreiten ehemaligen KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter:innen, Versorgungsprobleme und das damit verbundene Nahen einer gesamteuropäischen Hungersnot. Auch bei der Internierungspolitik, die zunächst unter anderem der sicherheitspolitischen Prävention und – im weiten Verständnis des Begriffs – der Entnazifizierung dienen sollte, verfolgten die Besatzungsmächte zunächst übereinstimmende Ziele. In der Durchführung unterschied sich ihre Praxis jedoch sehr deutlich, wie der australische Historiker Andrew Beattie in seiner Einführung in die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der alliierten Internierungspolitik nach 1945 zeigt. Andrea Genest stellt in ihrem Beitrag die Besonderheiten der britischen Internierungspraxis heraus. Die Beiträge von Natalia Jeske und Julia Landau befassen sich mit regionalen Beispielen und untersuchen das Vorgehen der sowjetischen Geheimdienste bei Verhaftungen in Neubrandenburg bzw. in Altenburg.

Weitere Beiträge im ersten Teil nehmen bislang unbekannte Aspekte in den Fokus: So untersucht Enrico Heitzer die Auslieferung von etwa 400 mutmaßlichen NS- und Kriegsverbrechern aus der britischen in die sowjetische Gefangenschaft im Jahr 1946. Diese Personen waren aufgrund in Norwegen verübter Verbrechen an sowjetischen Kriegsgefangenen von der britischen War Crimes Investigation Branch an die sowjetischen Behörden ausgeliefert worden. Sie wurden im Speziallager Sachsenhausen gesondert untergebracht und zum Teil später von sowjetischen Militärgerichten verurteilt. Sjoma Liederwald geht im darauffolgenden Artikel in einer Stichprobenuntersuchung der Frage nach, welche Angehörigen der Gestapo Potsdam im Speziallager Sachsenhausen inhaftiert waren, welche Tätigkeiten sie vor 1945 ausgeübt hatten und wie der sowjetische Geheimdienst mit dieser Gruppe umging: ob er sie vor Gericht stellte oder ohne weitere Untersuchungen aus dem Lager entließ. Andreas Weigelt stellt synthetisierend die von ihm untersuchten Todesurteile sowjetischer Militärtribunale vor und ordnet sie entlang der verhandelten Deliktgruppen ein. Dabei geht er auch auf die engeren Zusammenhänge zwischen Internierung im Speziallager und der Verurteilung durch sowjetische Militärtribunale ein.

Im zweiten Teil des Sammelbandes werden die Speziallager im Kontext der sowjetischen Lagerpolitik nach Kriegsende diskutiert. In einer biographischen Studie stellt Nikita Petrov, Experte für das Personal des sowjetischen Innenministeriums und der Geheimdienste, den Hauptverantwortlichen für die Speziallager in der sowjetischen Besatzungszone, den NKWD-Beauftragten und stellvertretenden Innenminister Ivan A. Serov, vor. Galina Ivanova, wissenschaftliche Leiterin des Gulag-Museums Moskau, ordnet das Speziallagersystem in das größere System sowjetischer Lager nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Dabei betont sie den Wandel des Lagersystems in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg, als es zunehmend eine wichtige ökonomische Rolle spielte. Zwischen 1945 und 1950, insbesondere nach 1947/48, stiegen die Häftlingszahlen von 1,5 auf 2,5 Millionen Menschen an. Nachdem sich die Vereinten Nationen für die Abschaffung der Zwangsarbeit eingesetzt und Untersuchungskommissionen in der Sowjetunion gefordert hatten, reagierte die sowjetische Regierung mit einer Verschärfung der Haftbedingungen für politische Häftlinge. Gleichzeitig machte sie auch begrenzte Zugeständnisse, die zu Entlassungen führten. Auf Widersprüche der sowjetischen Politik in Bezug auf die Speziallager in Deutschland macht Jörg Morré aufmerksam, der genauer auf die Problematik der Entlassungen 1948 eingeht. Dabei diskutiert er die ebenfalls 1948 vollzogene Eingliederung der Speziallager in das übergeordnete sowjetische Gulag-System.

Er kommt zu dem Schluss, Speziallager seien dem Gulag-System letztlich nur nominell untergeordnet worden, da es sich bei letzterem um ein nach grundsätzlich anderen Prinzipien funktionierendes System handelte: Die Arbeitsfähigkeit der Häftlinge wie auch die Planbarkeit von deren Arbeitskraft, die sich nach der Länge der Strafen bemaß, waren hier entscheidend. Ausgehend von diesen Voraussetzungen waren die Speziallagerhäftlinge – bis auf Ausnahmen, zu denen beispielsweise der Transport von über 1.000 Lagerinsassen im Februar 1947 aus Buchenwald nach Karaganda zählte – für das späte Gulag-System nicht einsetzbar: Sie waren zum größeren Teil nicht verurteilt, und ihr Alter wie auch ihre körperliche Konstitution erlaubten keine Arbeitseinsätze unter schwierigsten Bedingungen in den Lagern der Sowjetunion. Die völlig unzureichende Ernährung und Versorgung in den Speziallagern nehmen Julia Landau und Anne Kolouschek schließlich aus verschiedenen Perspektiven in den Blick: Julia Landau untersucht die katastrophale Unterversorgung in den Lagern mit Lebensmitteln um die Jahreswende 1946/47, Anne Kolouschek setzt sich aus medizinischer Perspektive mit der mangelhaften medizinischen Versorgung im Lager auseinander und geht dabei auch auf Biographien des medizinischen Personals am Beispiel des Speziallagers Mühlberg ein.

Im dritten Teil des Bandes geht es um die wechselvolle Nachgeschichte der Speziallager. Die Debatte um die Deutung der Speziallager stand früh im Schatten des Kalten Krieges. So wurde in den 1950er-Jahren mit dem Begriff „rote Konzentrationslager“ das sowjetische Unrecht in den Kategorien der NS-Zeit angeprangert und damit die NS-Verbrechen und die Verantwortung der deutschen Gesellschaft in den Hintergrund gerückt. Bis heute überlagert häufig die Deutung der Lager deren eigentliche Geschichte. Die Debatten dienen zum Teil ganz anderen Zielen als der historischen Erkenntnis. Am Beispiel des Schauspielers Heinrich George, inhaftiert im Speziallager Sachsenhausen, zeigt Norman Warnemünde wie stark dessen Bild von der unkritischen Sicht seiner Nachkommen dominiert wird. Wie Wolfram von Scheliha an zahlreichen Beispielen bis in die Gegenwart darlegt, wird die Geschichte sowjetischer Speziallager in geschichtsrevisionistischen Diskursen häufig instrumentalisiert, wenn es darum geht, NS-Verbrechen zu relativieren oder sogar zu leugnen. Dass die Debatte um Speziallager inzwischen selbst zu historisieren ist und welche „beharrlichen Tendenzen“ dabei immer wieder festzustellen sind, zeigt Andrew Beattie in einem Rückblick. Die zeitgenössische Debatte um Speziallager führte jedoch auch zu einer Ergänzung im Grundgesetz, wie der Jurist Kai Cornelius anhand des westdeutschen Prozesses der Verfassungsgebung zeigen kann: Anhand der Beispiele von Speziallager-Internierten und der Entführungen aus West-Berlin durch sowjetische Geheimdienste wurde ein subjektives Grundrecht auf Kontaktaufnahme zu Angehörigen im Grundgesetz etabliert.

Der Sammelband geht in seinem Kern auf eine Konferenz zur Speziallagergeschichte 2015 in Weimar zurück, organisiert von den Gedenkstätten Sachsenhausen und Buchenwald. Den Band beschließt die damalige Abschlussdiskussion, moderiert von Prof. Jörg Ganzenmüller, mit Beiträgen von Prof. Dr. Volkhard Knigge, Prof. Dr. Günter Morsch, Prof. Dr. Bonwetsch (Ɨ), Prof. Dr. Sergej Mironenko und Prof. Dr. Andrew Beattie. Dabei plädiert etwa Günter Morsch dafür, die „Forschungsergebnisse und -defizite der Speziallager-Forschung konkret [zu benennen] und gemeinsam [zu diskutieren].“ Volkhard Knigge verweist auf die „spezifischen Bildungsgehalte der Speziallagergeschichte“: „Etwa, dass im Fall dieser Lager die Kategorie einer gerechten Bestrafung der vorausgegangenen nationalsozialistischen Gewalt und Verbrechen stalinistisch beschädigt und ad absurdum geführt wurde, dass niemand das Recht hat, Menschen verschwinden zu lassen, oder dass Unrecht sich durch Unrecht nicht aus der Welt schaffen lässt.“ Sergej Mironenko, wissenschaftlicher Direktor des Russischen Staatsarchivs, verweist in seinem Abschlussplädoyer auf den Historiker M. N. Pokrovskij, der Geschichtsschreibung als Politik bezeichnet hatte, die in die Vergangenheit zurückgeworfen werde. Aufgabe der Historiker:innen sei es, „solchen Vorstellungen zu widerstehen und sich auf Fakten zu stützen, zu versuchen, die historische Wahrheit zu finden“. Man müsse die Prozesse „in ihrer Kompliziertheit erklären [und könne sie nicht] vereinfachend darstellen“. Dies wird weiterhin gleichermaßen Aufgabe und Herausforderung für die Forschung und Didaktik zu sowjetischen Speziallagern nach Kriegsende bleiben.

Die Historikerin Julia Landau ist spezialisiert auf die Geschichte der Sowjetunion und heute Kustodin für die Geschichte des sowjetischen Speziallagers Nr. 2 an der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.


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