Schwerpunkt: Nationalsozialismus als transnationales Phänomen

Europa von Buchenwald her denken

Für sein Buchprojekt traf Ronald Hirte Überlebende der Shoah aus den verschiedensten Regionen Europas in Israel.

Da Israel zwar „nicht in Europa, aber doch von Europa“ ist, wie der Historiker Dan Diner zuspitzt, findet sich dort viel Europäisches. Israel kann durchaus als eine westliche, aufgeklärte Gesellschaft wahrgenommen werden, eine Demokratie mit einer lebhaften Zivilgesellschaft und einer Kultur, die denen in europäischen Ländern ähnelt. Auch deswegen haben wir uns, Fritz von Klinggräff und ich, dort vielleicht so wenig fremd gefühlt, als wir für die Gespräche in dieses Land hineinplatzten. Welch Europa sich in Israel natürlich noch findet, ist eines, das es seit dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah auf dem europäischen Kontinent so kaum mehr gibt: ein jüdisches. Von diesem herkömmlich Europäischen ausgehend haben uns bei diesem Projekt zunehmend Elemente eines möglichen, zukünftigen Europas interessiert. So fragten wir unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner nach ihrem gelebten und gleichzeitig immer wieder nach einem lebenswerten Europa – nach Ideen und Vorstellungen von einem kommenden Europa.

Viele fanden wir über befreundete Menschen und Bekannte. Sehr schön und hilfreich war es auch, im Land von den einen zu den anderen geschickt zu werden. Wir bekamen so viele Tipps: „Mit ihr müssen Sie sprechen“ oder „Bei diesem Thema müsst ihr unbedingt ihn treffen“. Wir wollten möglichst viele verschiedene Perspektiven aufstöbern, möglichst viel über unterschiedliche familiäre, kulturelle, politische, ethnische, nationale oder religiöse Zugehörigkeiten erfahren, ohne die Menschen mit ihren Markierungen zu belästigen. Wesentlich waren einige Israelis, die wir bereits vor Jahren als Gäste der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora kennengelernt hatten: Überlebende der Konzentrationslager sowie ihre Kinder und Enkelkinder.

Foto zweier Männer, die sich Dokumente ansehen
Abram Kimelman, Ramat Gan, August 2015
©Manuel Fabritz

Die Wurzeln dieses Kibbuz hachschara, dieses landwirtschaftlichen Trainingskibbuzes, liegen in den Netzwerken der Akteurinnen und Akteure in den Konzentrationslagern Auschwitz-Monowitz und Buchenwald sowie in den Displaced-Persons-Lagern Buchenwald und Bergen-Belsen. Entsprechend der Kibbuzidee wollten seine Mitglieder sich und anderen Überlebenden jenseits von unterschiedlichen politischen und religiösen Überzeugungen ein Heim bieten und selbstbewusst jüdisches Gemeinschaftsleben organisieren. Besonders für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen unter den Überlebenden war der Kibbuz angesichts der ermordeten Familienmitglieder so etwas wie eine Ersatzfamilie. Sie hofften, durch diese aktive Gemeinschaft und durch die Hilfe anderer Organisationen Europa bald für immer verlassen zu können. Ziel war Palästina. Mit ihrem Kibbuz, der später seinen beständigen Ort in Israel fand, bauten sie sich eine Brücke zwischen der Zerstörung ihrer Lebenswelt in Europa und der Erneuerung ihres Lebens im jüdischen Staat.

Diese überlieferten Fragmente halfen in den Gesprächen enorm, sich schnell konkreten historischen Ereignissen nähern zu können. Gleichzeitig betrieben wir mit ihnen auch ein wenig Forschung, wenn es zum Beispiel gelang, die auf den Fotos Abgebildeten etwas der Anonymität zu entreißen. Unsere Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner konnten noch viele Fotografierte namentlich benennen und in kleinen Geschichten über diese Menschen die Bilder genauer kontextualisieren. In dieser Hinsicht ist leider sehr viel versäumt worden. „Und warum sind Sie nicht früher gekommen?“, brachte es eine der Kibbuz Buchenwald-Gründerinnen, Hilde Zimche, auf den Punkt. Die Dokumente bildeten oft so etwas wie ein Geländer für den Gesprächsverlauf, auch wenn sie uns genauso oft von all unseren vorbereiteten Fragen wegführten. Kurzum: Sie erhöhten die Performativität der Gespräche.

Im Band finden sich 25 Interviews. Die Aufsätze nehmen einerseits zwei zentrale inhaltliche Stränge auf: die Geschichte der Buchenwaldkinder und die Geschichte des Kibbuz Buchenwald. Andererseits kommen in ihnen, ähnlich wie in der umfangreichen Einleitung, noch all die Interviewten wenigstens kurz zu Wort, die nicht zu den 25 im Buch veröffentlichten Gesprächen gehören. Dan Diners Aufsatz „Konflikte begreifen“ erzählt eine Geschichte Israels in der Chronologie seiner Kriege und bildet gewissermaßen die Blaupause auf unsere Gespräche. Samantha Font-Salas Fotoessay „Wadi Salib, Haifa, 3. Januar 2017“ zeichnet die Ruinenlandschaft Wadi Salibs und damit einige für Israel charakteristische Konfliktgeschichten am Beispiel dieses Haifaer Stadtviertels nach.

Foto von Michael Ulrich und Ronald Hirte beim Durchgehen von Dokumenten
1/4
Michael Urich, Bne Berak, Januar 2017
Porträt von Moshe Kravec mit Zettel in der Hand neben Computer
2/4
Moshe Kravec, Beit Lochamei haGeta’ot, Januar 2017
Porträt von Yossef Farkash
3/4
Yossef Farkash, Netanya, November 2016
Porträt Stefan Cohn
4/4
Stefan Cohn, Herzliya, August 2015

Ein Horizont des Lernens könnte sein, offener, ehrlicher, vielleicht auch gelassener mit Aporien umzugehen. In den gut sieben Jahrzehnten seines Bestehens ist der jüdische Staat in der Levante zu einem vitalen Gemisch der verschiedensten Gruppen geworden, Diversität ist dort trotz aller Schwierigkeiten eine Grunderfahrung. Zudem scheint es in diesem, wie es der Filmemacher Amos Gitai nennt, „fortwährend dramatischen Land“ weniger Angst vor komplexen Lebenswirklichkeiten zu geben. Gelernt werden könnte außerdem, dass sich Privates und Politisches kaum trennen lassen – eine weitere in Israel längst gemachte Erfahrung.

Natan Sznaider geht davon aus, dass das ständig konflikthafte Geschehen in Israel für das Denken von Staaten und Gesellschaften im Allgemeinen bedeutsam ist – schließlich gibt es ja nicht nur in Israel Probleme mit dem Verständnis der Zivilgesellschaft als einer auf Gleichheit und Universalismus basierenden Vergemeinschaftungsform, die die Partikularinteressen verschiedenster Gruppen im Namen universaler Rechte ausgleichen möchte. In dieser Hinsicht kann die soziologische Analyse der Gesellschaften Israels „Europa einen Spiegel seiner eigenen Zukunft vorhalten“, so Sznaider. Die Stabilität ist möglich, weil die Gesellschaften in Israel ihre radikal offenliegenden Differenzen in den Lebensweisen und Staatsverständnissen stetig untereinander aushandeln müssen.

Der Archäologe Ronald Hirte ist Referent der Bildungsabteilung der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.

Buchcover
Ronald Hirte, Fritz von Klinggräff (2020): Israel, Fragen nach / Europa. Gespräche über einen fernen, nahen Kontinent, Weimar.

Israel, Fragen nach / Europa

 

Dass Europa sein kann. Mit dieser Vorstellung starteten Ronald Hirte und Fritz von Klinggräff vor zehn Jahren ein Rechercheprojekt, das nun mit dem dritten Band sein Ende findet. Es führte sie durch Frankreich (noch mit Hannah Röttele), durch Polen und nun: nach Israel – in lange, wiederholte Begegnungen mit weit über hundert Menschen.

 

Zugleich führte dieser Weg durch einen Kontinent, der mit dem von Jorge Semprún nach 1945 beschworenen „europäischen Geist“ heute nicht mehr viel zu tun haben will. Europa wendet sich in weiten Teilen ab von jenem Projekt, das es einst von Buchenwald her als rechtsstaatlich und solidarisch erdachte. Ethnie und Nation finden heute mit Gewalt ihren Weg in den europäischen Alltag zurück. Also kehrten Ronald Hirte und Fritz von Klinggräff Europa von 2015 bis 2018 immer wieder den Rücken, um es dort aufzusuchen, wohin es einst zu Hunderttausenden auswanderte oder floh. Sie trafen Überlebende der Shoah aus den verschiedensten Regionen Europas, ihre Kinder und Kindeskinder, Freunde und Nachbarn aus anderen Regionen der Welt. Und statt Zeitzeugenaussagen begegneten ihnen offene Lebenserzählungen.

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