Geschichtskultur

Historikerstreit 2.0?

Zur Debatte um das Wechselverhältnis zwischen Shoah- und Kolonialismus-Erinnerung

Seit einiger Zeit tobt in den deutschen Feuilletons und in den Social Media ein erbitterter Streit um die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Kolonialismus und ihrer Verortung in der deutschen Erinnerungskultur, insbesondere in Bezug auf die Holocaust-Erinnerung bzw. die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen als der geschichtspolitischen Richtschnur der Bundesrepublik. Zusätzlich angefacht wurde die Diskussion, die bereits vor über zwanzig Jahren begann1, in den vergangenen zwei Jahren durch den Streit um israel-kritische Äußerungen des südafrikanischen Historikers Achille Mbembe und die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) samt dem Papier der „Initiative GG5.3 Weltoffenheit“ und der „Jerusalem Declaration“, die Debatten um die Entschädigung der Herero und Nama, die Black-lives-matter-Bewegung sowie die Diskussionen um das Humboldt-Forum in Berlin und das dort präsentierte koloniale Erbe in Deutschland. Manche bezeichnen die Debatte als neuen Historikerstreit. Der erste Historikerstreit von 1987 war ein Rückzugsgefecht rechtskonservativer Historiker (Frauen waren kaum beteiligt) gegen die sich allmählich durchsetzende normative Stellung der Erinnerung an die Shoah als demokratischem Grundkonsens der Bundesrepublik gewesen. Anfang der 1990er-Jahre war er in der Debatte um den Umgang mit dem Stalinismus und dem in der DDR begangenen Unrecht noch einmal aufgeflammt. Spätestens mit der Formel von Bernd Faulenbach („Die NS-Verbrechen dürfen nicht mit Hinweis auf das Nachkriegsunrecht relativiert, dieses Unrecht jedoch nicht umgekehrt angesichts der NS-Verbrechen bagatellisiert werden“2) hatte sich aber bald eine Sichtweise durchgesetzt, die die Dominanz der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Staatsräson in der Berliner Republik anerkannte, ohne den Stalinismus und das DDR-Unrecht auszublenden.

Nun scheint dieser Grundkonsens wieder infrage gestellt zu werden – allerdings von links. Literaturwissenschaftler wie Michael Rothberg3 oder Historiker wie Jürgen Zimmerer, die im März 2021 in der ZEIT einen Beitrag mit dem programmatischen Titel „Enttabuisiert den Vergleich!“ veröffentlichten4, argumentieren, die Fixierung auf die Shoah und ihre tatsächliche oder vermeintliche Singularität sei zu einem geschichtspolitischen und damit unwissenschaftlichen Glaubenssatz verkommen und verhindere eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus. Zudem werde sie genutzt, um Kritik an israelischem Regierungshandeln als antisemitisch zu diskreditieren. Und schließlich: Die Fixierung auf die Shoah und die Abwehr des Antisemitismus trage, so formulierte es der australische Historiker A. Dirk Moses in einer im Mai 2021 veröffentlichten Streitschrift5, sakrale Züge, sie sei ein Katechismus, und ihre Protagonist:innen seien „Glaubenswächter“, ja sogar „Hohepriester“. Moses‘ Polemik richtete sich vor allem gegen Publizisten wie etwa Thomas Schmid, die harsche Kritik am ZEIT-Artikel von Rothberg und Zimmerer geübt hatten.6 Sie traf aber auch Menschen (insbesondere auch aus den Gedenkstätten), die sich in den 1980er und 1990er Jahren mit viel Engagement und vielfach gegen heftigen Widerstand aus der Mehrheitsgesellschaft für das emanzipatorische Projekt einer kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte eingesetzt hatten. Vor diesem Hintergrund diskreditiert sich Moses‘ Angriff gegen die vermeintlichen „Hohepriester“ von selbst.7 Die von ihm und anderen aufgeworfene Frage jedoch, ob die Fixierung auf die Shoah, also den Mord an den europäischen Juden, bzw. ob die Singularitätsthese den Blick auf die Bandbreite der NS-Verbrechen verengt und/oder eine Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus verhindert, verdient ebenso eine kritische Betrachtung wie der Vorwurf, der „Katechismus“ diene als Totschlagargument gegen jede Kritik am Staat Israel bzw. dessen Politik.

Mit ihrem universalistischen Geltungsanspruch verdecke die Shoah-Erzählung, so ihre postkolonialen Kritiker:innen, historische und gegenwärtige koloniale Verbrechen und genozidale Gewalt im globalen Süden. Ganz falsch ist das nicht. Tatsächlich ist die Shoah in den vergangenen drei Jahrzehnten – teils mit affirmativer Stoßrichtung – zur universalen Chiffre für das Thema Gesellschafts- und Regimeverbrechen geworden und wird bisweilen der Auseinandersetzung mit ganz anderen Verbrechen übergestülpt und damit historisch entkontextualisiert. Selbst Überlebendenverbände schließen sich solchen Deutungen an. Im Mitteilungsblatt der französischen Fédération Nationale des Déportés et Internés, Résistants et Patriotes (FNDIRP) etwa hieß es im Februar 2016 unter der Überschrift „Die universelle Botschaft von Auschwitz“, der Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar (der in Deutschland offizieller Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus ist) sei „auch der Erinnerung an die Opfer aller Genozide und der Prävention gegen jegliche Verbrechen gegen die Menschheit gewidmet“.8 Deutsche Gedenkstättenpraktiker:innen sind denn auch überall auf der Welt gern gesehene Expert:innen für die öffentliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Regime- und Gesellschaftsverbrechen. In Chile etwa wurden vor einigen Jahren bei einer Regierungs-Ausschreibung für einen nationalen Koordinator der Arbeit von Gedenkstätten, die an die Opfer der Pinochet-Diktatur erinnern, explizit Berufserfahrungen in der deutschen Gedenkstättenarbeit gefordert.

Sicherlich ist es richtig, besser: für die Erkenntnisbildung sogar zwingend erforderlich, Vergleiche zwischen verschiedenen Formen des Genozids und staatlicher bzw. gesellschaftlicher Massengewalt anzustellen, allein schon, um falsche historische Analogiebildungen zu vermeiden. Um den Völkermord in Ruanda, die Terrorherrschaft der Roten Khmer in Kambodscha oder die Verbrechen der lateinamerikanischen Militärjuntas der 1970er-Jahre zu analysieren bzw. in den jeweiligen Ländern innergesellschaftliche Diskurse darüber anzuregen, braucht man jedoch nicht die didaktische Folie der sogenannten Holocaust Education. Einerseits kann eine so verstandene Holocaust Education also in ahistorischer Universalisierung, in einer Öffnung „teilweise bis ins Absurde“9 münden. Auf der anderen Seite birgt sie, auch wenn es paradox klingt, die Gefahr der thematischen Engführung, indem die Bandbreite der NS-Verfolgung aus dem Blick gerät. In der öffentlichen Wahrnehmung werden, verstärkt durch mediale Präsentationen, oft alle NS-Opfer unter der Shoah subsumiert oder gar nicht mehr gesehen. So wird der 1996 von Bundespräsident Herzog eingeführte Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus in Medien und Öffentlichkeit mittlerweile fast nur noch „Holocaust-Gedenktag“ genannt (international heißt er offiziell so). Tatsächlich waren die Interdependenzen zur politischen und rassistischen Verfolgung anderer Gruppen im Nationalsozialismus aber zu offenkundig, als dass die Shoah isoliert betrachtet und historiographisch analysiert werden könnte. Und zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gehört, dass alle Opfergruppen gleichermaßen in den Blick genommen werden. Nicht zuletzt für die Gedenkstätten ist das eine Grundvoraussetzung für eine differenzierte Bildungsarbeit, die der Komplexität der Geschichte gerecht wird.

Sicherlich war die Shoah das monströseste Verbrechen der Nationalsozialisten, aber wie der Krankenmord, die Zwangsarbeit, der Mord an Sinti:zze und Rom:nja und sowjetischen Kriegsgefangenen sowie die Verfolgung von Homosexuellen, „Asozialen“ und politischen Gegnern und die mörderische deutsche Besatzungsherrschaft vor allem in Polen und in der Sowjetunion entwickelte sie sich aus einer radikal rassistischen Gesellschaft, die zwischen Eigenen und Fremden sowie zwischen nützlichem und „unwertem“ Leben unterschied. Auf die enge Verbindung zwischen dem Krankenmord und der Shoah (das Ersticken von Kranken in Gaskammern und Gaswagen in den Jahren 1940/41 war gewissermaßen der Probelauf für den fabrikmäßigen Massenmord an Jüdinnen und Juden in den Vernichtungslagern) hat etwa Ernst Klee bereits vor fast 40 Jahren hingewiesen.10 Aus dem Gesamtgefüge der Ideologie- und Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus kann der Mord an den europäischen Juden daher nicht herausgelöst werden. Genau dies geschieht aber allzu oft im öffentlichen Geschichtsdiskurs.

Analytisch ebenso zu kurz greift auf der anderen Seite die These (zumindest wenn sie monokausal vorgebracht wird), die NS-Verbrechen und damit auch die Shoah ließen sich als Teilgeschichte genozidaler kolonialer Gewalt erzählen, es führe gewissermaßen ein direkter Weg vom ersten deutschen Genozid in „Deutsch-Südwestafrika“ nach Auschwitz. Zwar trug die deutsche Besatzungsherrschaft im Osten deutliche koloniale Züge, etwa hinsichtlich der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung durch Zwangsarbeit oder auch angesichts der nationalsozialistischen Siedlungspläne. Deutlich wird das etwa beim „Generalplan Ost“, der die Versklavung, Umsiedlung und das Verhungernlassen von Millionen Menschen in den besetzten Gebieten der Sowjetunion und zugleich die „Germanisierung“ und Ansiedlung deutscher „Wehrbauern“ vorsah. Solche Pläne und die mörderische Praxis in den besetzten Gebieten waren zweifellos auch durch das „koloniale Archiv“ bedingt, also das von den Kolonialmächten über Jahrhunderte gespeicherte Wissen über die Ausbeutung und Unterdrückung der als „minderwertig“ angesehenen Bevölkerung in den Kolonien. Doch hatte nur eine kleine Zahl von NS-Funktionären und Germanisierungsplanern persönliche koloniale Erfahrungen. Überdies erklärt das koloniale Archiv nicht die neuartige rassistische Radikalität der Shoah. Überhaupt wäre es falsch, den Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen monokausal auf den Tabubruch des Genozids an den Herero und Nama zurückzuführen.11 Andere Faktoren, etwa die radikalisierende Gewalterfahrung des Ersten Weltkrieges und die vergiftete politische Atmosphäre in der Weimarer Republik, insbesondere aber die spezifische Herkunft und Radikalität des deutschen Antisemitismus und die Vision der Nationalsozialisten von den deutschen „Herrenmenschen“ als den Beherrschern Europas, werden durch monokausale Erklärungsversuche ausgeblendet.12

Gleichwohl bieten die vergleichenden Ansätze der Post Colonial Studies eine große Chance, die Geschichte der NS-Verbrechen und damit auch der Shoah historisch besser zu verstehen und sie nicht aus der Geschichte herauszureißen.13 Aber widerspricht das nicht der Singularitätsthese, also der Behauptung, die Shoah sei einzigartig, weil sie die uneingeschränkte Vernichtung aller Juden und Jüdinnen allein um ihrer Vernichtung willen zum Ziel gehabt habe? Als „Zivilisationsbruch“ in der deutschen Geschichte, wie Dan Diner die Shoah als das Morden um des Mordens willen bezeichnet hat14, sei der Mord an den europäischen Juden und Jüdinnen anders zu bewerten als andere Genozide, die pragmatische oder begrenzte Ziele gehabt hätten.

Moralisch und geschichtspolitisch ist die Singularitätsthese durchaus nachvollziehbar: ersteres wegen der Ungeheuerlichkeit der Shoah, die frühere und parallele Verbrechen in Mitteleuropa sowohl hinsichtlich der mörderischen Praxis als auch bezüglich der ideologischen Legitimation in den Schatten stellt (Auschwitz, Sobibor oder Treblinka waren historisch etwas grundlegend Neues), zweiteres angesichts der jahrzehntelangen notorischen Versuche aus dem rechtskonservativen Milieu, die Verbrechen des Nationalsozialismus gegen die des Stalinismus aufzurechnen und deutsche Schuld bzw. Verantwortung damit zu relativieren. Die Rede von der Singularität der Shoah kann jedoch, wenn sie rein normativ verstanden wird, ideologisch derartig erstarren, dass sie Interdependenzen zwischen verschiedenen Regime- und Gesellschaftsverbrechen verwischt – insbesondere aber den Umstand, dass, wie bereits ausgeführt, die Ermordung der europäischen Juden und Jüdinnen trotz ihrer Monstrosität nicht losgelöst von den anderen NS-Verbrechen betrachtet werden kann. Ganz eng gesehen ist jedes historische Ereignis einzigartig; Geschichte wiederholt sich nicht eins zu eins (eine Feststellung, die eigentlich trivial ist und deshalb auch schon heftig kritisiert wurde15). Wer historische Ereignisse verstehen möchte, muss sie aber in ihre Kontexte setzen und als historische Prozesse vergleichen – nicht um sie gleichzusetzen, sondern um wissenschaftlich fundiert Parallelen und auch Unterschiede herausarbeiten zu können. Wenn sie im geschichtspolitischen Diskurs verwendet wird, ist die Rede von der Singularität daher weder überzeugend noch hilfreich, hebt sie doch den Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden aus seinem eigenen Kontext, nämlich der ganzen Bandbreite der NS-Verbrechen, heraus, ganz abgesehen von den längeren Entwicklungslinien. Statt von Singularität wäre es vermutlich besser, von Präzedenzlosigkeit zu sprechen.

Auf der anderen Seite war die ideologische Triebfeder der Shoah, der Antisemitismus, aber nicht einfach nur eine Spielart des Rassismus. Der Antisemitismus ist ein eigenständiges Phänomen, dem Rassismus verwandt, aber doch mit ganz eigenen ideologischen Aufladungen, die historisch weit hinter die Genese des modernen Rassismus im 19. Jahrhundert zurückreichen. Wenn die Shoah präzedenzlos war, dann nicht nur wegen der Ungeheuerlichkeit der umfassenden Vernichtungspraxis, sondern auch, weil es mit dem Antisemitismus eine andere ideologische Begründung gab als bei früheren Genoziden – ein Antisemitismus, der als Erlösungsideologie im Nationalsozialismus noch über den ohnehin schon radikalen deutschen Rassen-Antisemitismus des 19. Jahrhunderts hinausging.16

Foto des besetzten Instituto Nacional de Derechos Humanos in Santiago de Chile
Besetztes Instituto Nacional de Derechos Humanos in Santiago de Chile, Dezember 2021
©J. Wagner

Wenn auf die Singularität der Shoah verwiesen wird, dann ist damit immer auch die Forderung nach einer generellen Absage an jeden Antisemitismus verbunden. Und genau hier ist die Stelle, an der die Shoah-Erinnerung mit dem berechtigten Anspruch des globalen Südens auf Anerkennung seiner Geschichte kolonialer Ausbeutung kollidieren kann: Den Opfern des einen Verbrechens (bzw. deren Nachkommen), den Jüdinnen und Juden, wird vorgeworfen, selbst Täter:innen eines anderen Verbrechens zu sein, indem Israel in Palästina als Kolonialmacht auftrete. Umgekehrt wird denjenigen, die die israelische Siedlungspolitik kritisieren, oftmals Antisemitismus vorgeworfen, vor allem, wenn dies aus postkolonialer oder „antiimperialistischer“ Perspektive erfolgt. Häufig genug sind diese Vorwürfe berechtigt. Manchmal geht die „Kritik“ an Israel bis zur Schuldumkehr: Vor dem von Studierenden besetzten Instituto Nacional de Derechos Humanos (Nationales Institut für Menschenrechte) in Chile etwa prangte Ende 2021 ein Plakat, auf dem es hieß: „Von Kolumbien bis Palästina widerstehen wir Völker dem Faschismus und dem kriminellen Zionismus.“ Das ist offener Antisemitismus im Gewand des Antiimperialismus und wirft den Faschismus mit dem Zionismus in einen Topf. Nun ist aber nicht jede Kritik an der israelischen Siedlungspolitik antisemitisch. „Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten“, heißt es in der Antisemitismus-Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2017, zu der sich u. a. die Bundesrepublik bekannt hat. Und weiter heißt es dort: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“ Die Grenze einer legitimen Kritik wird jedoch dann überschritten, wenn aus der Kritik am staatlichen Handeln Kritik am Staat an sich (im Sinne der Delegitimation des Staates Israel) und an seinen Bürger:innen als Kollektiv wird. Es gibt also israelbezogenen Antisemitismus, aber nicht jede gegen staatliches Handeln bzw. die Regierung in Israel gerichtete Kritik ist antisemitisch. Eigentlich ist das eine Selbstverständlichkeit, denn eine demokratische Regierung muss sich immer der Kritik stellen – wie es in Israel selbst ja auch geschieht.

Kontraproduktiv ist es daher, wenn der Vorwurf des Antisemitismus als pauschale Waffe benutzt wird, um inhaltliche Kritik zu delegitimieren. Umgekehrt muss jeder explizite oder auch nur implizite Versuch, die Shoah mit Verweis auf die Verbrechen des Kolonialismus zu relativieren, zurückgewiesen werden. Es muss verhindert werden, dass, wie im Fall Mbembe, zwei wichtige emanzipatorische erinnerungskulturelle Projekte gegeneinander ausgespielt werden: die antirassistische Perspektive der Postcolonial Studies auf der einen und die Auseinandersetzung mit der Shoah und dem Antisemitismus auf der anderen Seite. Hier einen Konkurrenzkampf auszufechten, stellt die reflexive Erinnerungskultur als Grundkonsens der liberalen Staats- und Gesellschaftsordnung in der Bundesrepublik in Frage – und ist Wasser auf die Mühlen extrem rechter und geschichtsrevisionistischer Politiker wie Björn Höcke, die schon länger eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad fordern und sich zugleich gegen die Kritik am Kolonialismus stellen. Die Anerkennung der Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus darf mithin nicht zu einer Konkurrenzsituation führen oder zur Verdrängung der einen Erinnerung durch die andere. Dass das durchaus geht, zeigt die Bundestagsresolution von 2016 zum Genozid an den Armeniern. Sie hatte nicht einmal ansatzweise die Relativierung des Holocaust zur Folge. Prinzipiell gilt das auch für den Kolonialismus und die Shoah. Beide müssen ihren Platz in der Erinnerungskultur haben – in globaler Perspektive wie auch mit Blick auf die deutsche Gesellschaft, die längst durch Migration geprägt ist, was sich nicht zuletzt auch am vielfältigen Publikum in den Gedenkstätten zeigt.

Der Kolonialismus und seine Folgewirkungen bis heute sind ein Verbrechen, dessen Anerkennung nicht der Analogie mit der Shoah bedarf. Und es muss anerkannt werden, dass für die Menschen aus dem globalen Süden der Kolonialismus eine Primärerfahrung ist, die nicht durch eine universalistisch verstandene Holocaust Education überschrieben werden kann. Es darf keine Master-Leiderzählung geben, der sich alle anderen Leiderzählungen unterzuordnen haben. Ansonsten würden wir blind für die Vergangenheit – und für die Gegenwart. Vielmehr ist es Aufgabe der Geschichtswissenschaft, das jeweilig Spezifische der Shoah und des Kolonialismus – wie auch anderer Verbrechen – herauszuarbeiten und es zugleich im historischen Längsschnitt zu kontextualisieren. So verstanden können die Postcolonial Studies der Holocaust-Forschung wertvolle Anregungen geben17 – und umgekehrt, und das, ohne das eine gegen das andere auszuspielen.

Jens-Christian Wagner ist Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der FSU Jena.

Fußnoten

1 Vgl. etwa Jürgen Zimmerer (2003): Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51 (2003), H. 12, S. 1098-1119, ders. (2011): Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Münster, sowie Birthe Kundrus (2006): Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur „Kolonialisierung“ des Nationalsozialismus, in: Werkstatt Geschichte 43 (2006), S. 45-62.

2 Bernd Faulenbach (2002): Konkurrenz der Vergangenheiten? Die Aufarbeitung des SED-Systems im Kontext der Debatte über die jüngste deutsche Geschichte, in: Annegret Stephan (Hg.), 1945 bis 2000. Ansichten zur deutschen Geschichte, Opladen, S. 17-32, hier S. 25.

3 Michael Rothberg (2021): Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin. Seine Thesen ablehnend: Steffen Klävers (2019): Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin, S. 133-177.

4 Vgl. Michael Rothberg/Jürgen Zimmerer, „Enttabuisiert den Vergleich!“, in: Die Zeit, Nr. 14/2021, 31.3.2021.

5 A. Dirk Moses (2021): Der Katechismus der Deutschen, in: geschichte-dergegenwart.ch, (https://geschichtedergegenwart. ch/der-katechismus-der-deutschen/, abgerufen am 5.12.2021).

6 Thomas Schmid, „Der Holocaust war kein Kolonialverbrechen“, in: Die Zeit, Nr. 15/2021, 7.4.2021.

7 Deutlicher Widerspruch zu Moses u. a. hier: Friedländer, Saul/Frei, Nobert/Steinbacher, Sybille/Diner, Dan (Hrsg.) (2022): Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München.

8 Le Patriote Résistant, Heft 905 (Februar 2016), Titelseite (Übersetzung aus dem Französischen).

9 Elke Gryglewski (2016): Gedenkstättenarbeit zwischen Universalisierung und Historisierung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 66, H. 3-4, S. 23-28, hier S. 26. Die Universalisierung der Holocaust Education hingegen positiv wertend Levy, Daniel/ Snaider, Natan (Hrsg.) (2001): Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt/Main.

10 Vgl. Ernst Klee (1983): Euthanasie im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens, Frankfurt/ Main. Vgl. auch Henry Friedländer (1995): The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Capel Hill/London sowie Sara Berger (2013): Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg, sowie den aktuellen Sammelband von Osterloh, Jörg/Schulte, Jan Erik (Hrsg.) (2021): „Euthanasie“ und Holocaust. Kontinuitäten, Kausalitäten, Parallelitäten, Paderborn.

11 Vgl. hierzu kritisch: Birte Kundrus (2005): Von den Herero zum Holocaust? Einige Bemerkungen zur aktuellen Debatte, in: Mittelweg 36, 14, S. 82-92.

12 Vgl. Sybille Steinbacher (2015): Sonderweg, Kolonialismus, Genozide: Der Holocaust im Spannungsfeld von Kontinuitäten und Diskontinuitäten der deutschen Geschichte, in: Bajohr, Frank/ Löw, Andrea (Hrsg.): Der Holocaust. Ergebnisse und neue Fragen der Forschung, Frankfurt a. M. , S. 83-101, hier S. 87 f. Vgl. auch – als Antwort auf die These von A. Dirk Moses vom Paradigma „permanenter Sicherheit“ als dem gemeinsamen Tatmotiv massenmörderischer Systeme (A. Dirk Moses (2021): The Problems of Genocide. Permanent Security and the Language of Transgression, Cambridge) Michael Wildt (2021): Permanente Paranoia, in: Journal of Modern European History 19 (2021), S. 400-404.

13 Vgl. Steinbacher, Sonderweg, S. 92 f.

14 Vgl. etwa Dan Diner (1988): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz. Frankfurt/Main. Vgl. auch ders. (2012): „Zivilisationsbruch“ – oder der Verfall ontologischer Gewissheit, in: Bielefeld, Ulrich/Bude, Heinz/ Greiner, Bernd (Hrsg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen: Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg, S. 458-470.

15 Vgl. etwa Margalit, Avishai/ Motzkin, Gabriel (1997): Die Einzigartigkeit des Holocaust, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45:1 (1997), S. 3-18.

16 Vgl. Saul Friedländer (2007): Erlösungsantisemitismus. Zur Ideologie der „Endlösung“, in ders.: Den Holocaust beschreiben. Auf dem Weg zu einer integrierten Geschichte, Göttingen, S. 28-53.

17 Beispiele in: Bajohr, Frank/ O‘Sullivan, Rachel (2022): Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus. Forschung im Schatten einer polemischen Debatte, in: VfZ 79, H. 1, S. 191-202.

 


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