Geschichtskultur

„… am empirischen Material abarbeiten.“

Ein Gespräch mit Axel Doßmann über Audio-Interviews mit Überlebenden aus dem Sommer 1946

Im Sommer 1946 nahm der Sprachpsychologe David P. Boder (1886–1961) für seine Feldforschung einen Drahtton-Rekorder mit auf die Reise nach Europa. Er interviewte über 100 Displaced Person (DPs) in DP-Camps und Waisenheimen, in Frankreich, Italien, der Schweiz und in der amerikanisch besetzten Zone Deutschlands. Er zeichnete auch Sologesänge, Chöre und religiöse Gedenkzeremonien auf. Die meisten seiner Interviewpartner:innen waren jüdisch. Zu hören sind überwiegend junge Stimmen, ein Drittel davon sind Frauen. Er sprach mit Religiösen und Kommunist:innen, mit Zionist:innen und Nicht-Zionist:innen, mit Mennonit:innen und Christ:innen. Viele der Interviewten kamen aus Mittel- und Osteuropa, andere aus Frankreich und Griechenland. Die meisten hatten den deutschen Vernichtungskrieg in Ghettos und Lagern oder im Untergrund überlebt. Nach ihrer Befreiung durch die Alliierten waren diese Heimatlosen auf der Suche nach einer Zukunft und warteten auf Visa.

 

Diese einzigartig frühe Interviewsammlung hat das Illinois Institute of Technology in Chicago seit 2009 online zugänglich gemacht: https://voices.library.iit.edu

 

Der Blog „Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute. Die Interviews von David P. Boder“ ist ein Forum, das seit 2021 diese lange vergessenen Schätze öffentlich befragt und neu reflektiert: als ein frühes Deutungsangebot von Überlebenden: www.dp-boder-1946.uni-jena.de

 

Der Blog entstand als Gemeinschaftsprojekt des Lehrstuhls für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit an der Universität Jena, der Gedenkstätte Buchenwald und der Bundeszentrale für Politische Bildung.

Ausschnitt eines Tonbands
Etwa 8 cm Durchmesser haben die Spulen, umwickelt mit Karbon-Stahldraht. Boder nahm zweihundert Spulen mit nach Europa – Speicherplatz für etwa 120 Stunden akustische Welt.
©Spezialsammlung der Charles E. Young Research Library an der University of California Los Angeles (UCLA), Foto: Axel Doßmann, 2018

Für eine Antwort lohnt es, sich Boders Biografie zu vergegenwärtigen: Der Sozialpsychologe David P. Boder war in Lettland in eine jüdische Familie geboren worden. Er hatte 1919, mit 33 Jahren, seine russische Heimat verlassen. Nach Jahren in Mexiko lebte er seit 1926 in den USA, spezialisierte sich dort auf Sprachforschung. Sein Bruder starb im Ghetto Riga, wie er erst später erfuhr. Im Frühling 1945 wurde auch Boder mit den Bildern der NS-Verbrechen konfrontiert, darunter Fotos aus dem befreiten KZ Buchenwald. Dem Sprachforscher war sofort klar: Diese schockierenden Filme und Fotos von anonymen „Muselmännern“ und Leichenbergen sind zwar Beweise für die Verbrechen der Nationalsozialisten – aber sie sind stumm. Will man jedoch die Erfahrungen der Opfer begreifen, dann muss man die Überlebenden systematisch befragen – und mehr noch: ihre Erzählungen und ihr Erfahrungswissen akustisch aufzeichnen und bewahren. Boder wollte den Worten der DPs Gehör schenken, solange ihr Gedächtnis noch „frisch“ ist. Mit Hilfe des Drahtton-Recorders sollte jede interpretative Veränderung des Wortlauts vermieden werden – anders als bei den oft stark bearbeiteten, schriftlichen Protokoll-Berichten der Jüdischen Historischen Kommissionen. Es war Boders dokumentarischer und ethischer Anspruch, dass die DPs nicht allein in ihrer eigenen Sprache, sondern auch mit ihrer eigenen Stimme die Chance erhalten, das persönlich Erlittene und Erlebte zu erzählen. Boder beherrschte viele Sprachen sehr gut: Jiddisch, Russisch, baltische Sprachen, Deutsch, Spanisch und Ladino1 sowie Englisch.

„Es erscheint aus psychologischen und historischen Gründen von größter Wichtigkeit, dass die Eindrücke, die bei den Opfern in den Gefängnissen und Konzentrationslagern sowie in den Gebieten, die in den nächsten Tagen befreit werden, noch lebendig sind, nicht nur direkt in ihrer eigenen Sprache, sondern auch mit ihrer eigenen Stimme aufgezeichnet werden.“

David P. Boder, Memorandum vom 1. Mai 1945

in: David Pablo Boder Papers, Box 1, Charles E. Young Research Library, Department of Special Collections, UCLA (Hier: Übersetzung aus dem Englischen).

Ja, man wird neidisch. Allerdings verstand er Polnisch und Französisch nur schlecht. Darum brachte er einige DPs aus Polen, Frankreich und anderen Ländern dazu, mit ihm deutsch oder jiddisch zu reden. Und da Boder die Amerikaner als erste potentielle Hörerschaft imaginierte, lud er auch zum Gespräch in Englisch ein, eine Fremdsprache für alle, die er interviewt hatte. Darunter litt die Qualität der Gespräche. Doch auch die auf unserem Blog veröffentlichte Forschung gewinnt daraus wichtige Einsichten: In Fremdsprachen stellen sich Menschen anders dar, manche ändern ihre Botschaft auch mit dem Wechsel der Sprachen und den jeweils vorgestellten Zuhörer:innen.

Er fragte lebensgeschichtlich, mit starkem Fokus auf die Kriegszeit. Er verstand seine Interviews mit Rückgriff auf den Psychologen Gordon Allport als „thematische Autobiographien“. Die DPs sollten davon erzählen, was ihnen seit dem Einmarsch der Deutschen in ihre Heimatländer widerfahren war. Boder wollte chronologisch dokumentieren, wie militärischer Überfall und Besatzungsherrschaft, wie Zwangsarbeit, Deportationen, Ghetto und Lager, wie Hunger und Ungewissheit, wie Trennung und Verlust von Angehörigen, wie psychische und physische Gewalt, wie Widerstand, gegenseitige Hilfe und Solidarität im Deutschen Reich und im besetzten Europa erlebt, erlitten, verarbeitet worden sind. Auch Rache und Sexualität sprach Boder an, er wollte mehr über die Rolle von Kapos und Judenräten hören.

Schwarz-Weiß-Fotografie von Boder mit Aufnahmegerät
1/2
Boder um 1953
Ansicht eines "magnetic wire recorder"
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Einer der letzten originalen „magnetic wire recorder, Model 50“. Das schwere Gerät ist heute Exponat im Jüdischen Museum Berlin, eine Leihgabe aus Chicago.

Um Details besser verstehen, fragte er oft nach. Er forderte chronologisches Erzählen ein. Sein Vorgehen irritiert uns heute, doch Boder war halt kein Oral Historian. Als Psychologe begab er sich selbst in Lernprozesse, modifizierte seine Konzepte. Er wollte von den DPs keine langen historischen Abrisse oder allgemeinen politischen Einschätzungen hören, sondern beharrte auf detaillierter Augen- und Ohrenzeugenschaft. Im Verlauf seiner Feldforschung ermunterte er öfter zu exemplarischen Episoden und erhielt besonders eindrückliche Schilderungen.

Die Interviews sollten eine solide empirische Grundlage bilden für universell angelegte, psychologische und anthropologische Studien. Zu solchen Studien kam Boder selbst nur in ersten Ansätzen, zu sehr war der herzkranke Mann bis in sein 71. Lebensjahr mit den Übersetzungen beschäftigt. Gleichwohl ist, was ihm analytisch gelang, bisher noch zu wenig gewürdigt worden. Als Sozialpsychologe hoffte er, in der Wortwahl und in den Erzählweisen der DPs Spuren eines Prozesses zu identifizieren, den er Dekulturation nannte. Dekulturation war für Boder das „schrittweise Zurechtstutzen eines menschlichen Wesens“ unter der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, bis zur Preisgabe aller bisherigen Werte und Moralvorstellungen. Besonders extreme Situationen charakterisierte er als traumatisch. Bis Mitte der 1950er Jahre hat er ein „Traumatic Inventory“ erarbeitet, das mich sehr beeindruckt. Es ist ein Inventar bzw. Verzeichnis, das auf der Inhaltsanalyse der Transkriptionen von 70 seiner Interviews mit DPs beruht. Boder ordnete auf zunächst 18 Seiten systematisch alle von den DPs benannten sozial-psychischen und physischen Stress-Situationen, denen sie bis zur Befreiung ausgesetzt waren. Dann kommentierte er das nochmal auf erhellende Weise. Seine konzise Durchdringung des Erzählten stellt vielleicht den ersten Versuch überhaupt dar, aus den wörtlichen Schilderungen von Überlebenden eine systematische, hochdifferenzierte Vorstellung von der erlittenen Gewalt zu gewinnen. Ein extremes Leid, das für die meisten mit dem Tod endete – die Millionen Opfer, die er 1946 nicht befragen konnte, wie Boder betonte.

Cover der Interviewsammlung Boders: I did not interview the dead. Im Hintergrund sieht man eine Figur hinter einem Stacheldrahtzaun.
Bereits 1949 gab Boder acht der ins Amerikanische übersetzten Interviews bei University of Illinois Press heraus – sie wurde von Zeitgenossen in den USA als außergewöhnliche Edition und Herausforderung gelobt. Boder betonte mit dem Buchtitel „Die Toten habe ich nicht befragt“ die fehlenden Perspektiven derjenigen, die umgebracht worden sind. Es ist ein millionenfacher Verlust, den die Stimmen und Worte der Überlebenden zwar oft bezeugen, damit aber nicht ersetzen können.
©Paul V. Galvin Library, Illinois Institute of Technology, Chicago, Foto: Axel Doßmann, 2018

Ja, 1947 machte Boder öffentlich deutlich, dass er auch gesellschaftspolitische Ziele verfolgte. Die Erzählungen der „Displaced People of Europe“ sollten vor allem in den USA ein empathisches Verständnis fördern für diese entwurzelten Menschen. Boder hegte die Hoffnung, über die Konfrontation mit den Interviews Einfluss auf die strikte, ausgrenzende Einwanderungspolitik der USA zu erlangen. Er betonte, dass diese „entwurzelten Menschen“ nicht der „Abschaum der Welt“ sind, dass sie auf solidarische Hilfe angewiesen sind.

Meinen Student:innen in Jena ging es ähnlich wie mir, als ich die Interviews 2010 bei der wissenschaftlichen Beratung der Hörinstallation „Kinder in Buchenwald“ der Gedenkstätte entdeckte. Es war, mit Lutz Niethammer gesprochen, ein Enttypisierungsschock. Das wiederholte Hören von Boders Gesprächen verdeutlichte das eigene konventionelle Denken über „Holocaust-Interviews“. Wir haben doch medial gelernt, dass man Zeitzeugen vor allem zuzuhören habe, in Demut, Ehrfurcht und Dankbarkeit. Boder sah in den DPs aber gar keine „Zeitzeugen“. Diese moralisch überladene Figur des „Zeitzeugen“ entwickelte sich erst seit den späten 1970er Jahren mit dem „Memory Boom“ und der Videographie. Boder suchte 1946 die DP-Camps auf, um Menschen in konkreter Notlage die Chance zu geben, über ihre individuellen Erfahrungen als „Kriegsleidende“ („war sufferers“) zu berichten. Sie waren fast immer jünger als der 59-jährige Professor aus Chicago. Er war mit ihnen meist auf respektvoller Augenhöhe. Er agierte zugewandt, aber auch fordernd, keineswegs demütig oder schüchtern. Seine ungehemmte Neugierde mag heute tolldreist erscheinen, junge Frauen überforderten ihn öfter, nicht immer hörte er gut zu, manches Gespräch verlief spannungsvoll. Er zeigte sich offen ergriffen vom Gehörten. Wenn er aber Zweifel hatte, scheute er sich nicht, Berichte als unglaubwürdig zu hinterfragen. In den Antworten erfahren wir oft Neues über das, was in NS-Lagern zum Alltag gehörte. Oder die Antwort der DPs konkretisiert die Binse, dass auch DPs politische Interessen verfolgten, sie heikle Aspekte vermieden oder Konflikte einseitig darstellten.

Interviewtranskriptionen auf kleiner Karteikarte
Boder verteilte die Interviewübersetzungen auch als Micro-Cards an Bibliotheken, lesbar an speziellen Vergrößerungsgeräten. Doch die akustischen Aufzeichnungen blieben fast 50 Jahre lang verstummt. Erst ab Mitte der 1990er-Jahre gelang es der Sound Division der Library of Congress, die Drahtspulen von 1946 wieder hörbar zu machen. Es fehlten geeignete Abspielgeräte für dieses alte Speicherformat, doch vor allem mangelte es an historischer Neugierde für die frühen Zeugnisse der Shoah.
©Spezialsammlung der Charles E. Young Research Library an der University of California Los Angeles (UCLA), Foto: Axel Doßmann, 2018

Dass es sich lohnt, wenn wir uns für die selbstkritische Historisierung von Zeugenschaft künftig noch stärker und vergleichend am empirischen Material abarbeiten, noch genauer hinhören und hinsehen lernen, am besten in kleinen Gruppen. Das erst ist konkrete Würdigung der wertvollen, mehr oder weniger im Dialog erzeugten Worte, Erzählungen und Gesten. Seit mehr als 30 Jahren erleben wir die Zeug:innen der Lager meist nur noch als videografierte oder gefilmte „talking heads“: oft in hohem Alter, im Rückblick auf das Leben, in der öffentlichen Rolle von „Zeitzeugen“ mit starker pädagogischer Botschaft, freundlich-sanft, mitunter auch abgeklärt und routiniert. Im Unterschied zu den sogenannten letzten Zeugen heute, hatten fast alle Interviewpartner:innen 1946 den größeren Teil ihres Lebens noch vor sich. Ihre Zukunft indes war noch ganz ungewiss. Sie sollten nicht am Lebensabend bewusst „Zeugnis ablegen“ oder sich als hologrammatische Antwort-Automaten verewigen lassen, damit auch noch in 100 Jahren pädagogische „Zeitzeugen-Gespräche“ simuliert werden können. Die große Mehrheit der DPs war 1946 ohnehin noch nie interviewt worden. Viele waren Waisen. Die Trauer, das Ungeborgensein, die Verzweiflung ist deutlich hörbar, andere spürten Hass in sich, forderten Rache. Wieder andere wirken depressiv. Den DPs von 1946 zuzuhören, macht klar: Diese deutschen Verbrechen werden nie wieder gut zu machen sein

Die ersten Ergebnisse präsentieren wir auf unserem Blog „Fragen an Displaced Persons: 1946 und heute. Die Interviews von David P. Boder“: Es ist aufschlussreich, wenn eine Literaturwissenschaftlerin und eine Oral Historian die Konventionen kritisch reflektieren, die eine Interviewführung prägen, von 1946 bis heute. Welche Folgen hat es für unser Hören und die Analyse, wenn immer wieder „Authentisches“ erwartet wird? Ich habe als Historiker u. a. von Soziolog:innen und Literaturwissenschaftler:innen gelernt, wie sich mit einer Untersuchung zur Diskursfigur des Muselmanns anhand von Boders Interviews die soziale Ordnung und die sozialen Dynamiken innerhalb der Lagergesellschaften besser verstehen lassen. Eine Historikerin hat anhand eines Interviews mit einem Buchenwald-Überlebenden die Deutungshoheit der männlichen Überlebendenkollektive auf die Wahrnehmung von Sex-Zwangsarbeit rekonstruiert. Das populäre Gerede über „KZ-Bordelle“ nahm auch in Boders Interviews seinen Anfang. Andere Wissenschaftler:innen zeigen, wie neue Fragen an diese frühe Dokumentation unser Wissen bereichern: etwa durch eine konstruktive Kritik von fehlerhaften Transkripten oder durch eine Reflexion auf Erkenntnischancen beim tagelangen Rewind & Play-Hören und Sich-Vertiefen in ein Interview für eine Neu-Transkription. Es bleibt also noch sehr viel zu tun: Auch Boders Interviews mit überwiegend sehr jungen DPs, die das KZ Buchenwald überlebt hatten, lohnen die weitere Analyse ebenso wie etwa seine Gesangsaufnahmen. Forschung und Bildung sollten dabei dicht verzahnt werden, wir laden alle Interessierten dazu ein. Die Historikerin Lisa Schank und ich haben im Sommer 2021 auf dem Twitterkanal unseres Blogs (@DP_Boder_1946) David P. Boders Interview-Expedition durch Europa über drei Monate nachvollziehbar gemacht, 75 Jahre danach. Auch das kann ein guter Einstieg sein in diese wertvolle Sammlung.

Der Historiker und Publizist Axel Doßmann entwickelte seit 2014 am Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit der Friedrich-Schiller-Universität Jena das Forschungs- und Bildungsportal zu den Interviews von David P. Boder.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau.


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