Geschichtskultur

Photoshopping History

Ein Gespräch mit dem Grafik-Designer Jean-Sien Kin über ein Lächeln, das es nie gab

links: Original-Foto, rechts: manipuliertes Bild (coloriert und der Mann lächelt)
Tweet von John Vink, 10.4.2021

Am Morgen des 9. April 2021 erhielt ich eine Nachricht von einem engen Freund von mir, Jean-Baptiste Phou. Er fragte mich nach meiner Meinung zu einem gerade veröffentlichten Artikel auf der Website des Magazins VICE. Es handelte sich um ein Interview mit Matt Loughrey, einem irischen Fotokünstler, über eine seiner jüngsten Arbeiten, die aus einer Reihe kolorierter Fotos von meist nicht identifizierten Porträts von S-21-Gefängnisopfern bestand. Einige von ihnen lächelten auf seltsame Weise. Die frischen und lebhaften Farbtöne, die Loughrey bei der Kolorisierung verwendete, bereiteten mir Unbehagen. Ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, auf welcher Grundlage er die Farben ausgewählt hatte. Auch Jean-Baptiste meinte, sie sähen sehr hell aus, sie wirkten „verwestlicht“. Das empfand ich auch so. Am Ende des Artikels waren zwei Links, einer zu Loughreys Instagram-Account und ein weiterer zu seiner Website, auf der er für sein Geschäftsmodel als Kolorist alter Aufnahmen wirbt. Über das Kontaktformular seiner Website schickte ich Loughrey eine E-Mail, um ihm mein Unbehagen über die Kolorierung der Photografien aus S-21 mitzuteilen. Ich argumentierte, dass diese Porträts, bei denen es sich um historische und juristische Beweise handelt, vielleicht nicht koloriert werden sollten, da dies eine subjektive Deutung über sie lege, die in den Originaldokumenten nie vorhanden war. Ich fügte hinzu, dass diese Schwarz-Weiß-Fotos aussagekräftig genug seien, um nicht in Farbe „aufgewertet“ werden zu müssen.

Er leugnete jedes Problem, indem er behauptete, sein Kolorierungsprojekt sei „ein staatlich geförderter Auftrag, abgestimmt mit den heutigen Verwandten und mit ihrer ausdrücklichen Genehmigung“. Zudem sei ein Drittel der Originalnegative ohnehin 6 x 6 Farb-Fujichromes gewesen, was meine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kolorierung irrelevant mache.Eine Reihe der in dem Artikel gezeigten kolorierten Fotos war jedoch mit Worten wie „Ein unbekanntes Mädchen“, „Eine unbekannte Frau lächelt“, „Eine Blutspur hinter einem unbekannten Häftling“ oder „Eine unbekannte Frau zeigt Verletzungsspuren“ beschriftet, so dass es sehr unwahrscheinlich schien, dass die Erlaubnis der Angehörigen eingeholt worden war. In 2019 hatte ich mit dem derzeitigen Direktor des Tuol Sleng Genocide Museum, Herrn Hang Nisay, zusammengearbeitet, um den Katalog zum 40-jährigen Jubiläum der Gründung des Museums zu gestalten. Ich fragte ihn nach dem „staatlich geförderten Auftrag“ von Loughreys Kolorierungsprojekt. Er antwortete, dass es einen solchen Auftrag nie gegeben hat. Später erhielt ich auch die Bestätigung, dass es nie Farbnegative von den Photos der Gefangenen gab.

Zunächst gab es gemischte und emotionale Reaktionen auf die neun kolorierten Porträts der S-21-Opfer. Der VICE-Artikel wurde in Kambodscha auf Facebook ausgiebig geteilt, er tauchte den ganzen Tag lang in meinem Facebook-Feed auf. Viele meiner Kontakte lobten die kolorierten Fotos und waren von ihnen bewegt. Einige erklärten, sie hätten das Gefühl, dass die Gefangenen plötzlich lebendig, real und präsent seien – was mich ehrlich gesagt sehr deprimiert hat. Hat es die Wahrheit wirklich nötig, sich in ein buntes Gewand zu hüllen, um in den Augen der Öffentlichkeit zu existieren? Am Ende habe ich mich gefragt, ob alles, was nicht zeitgemäß aussieht, dann unwirklich wirkt? Würde die Vergangenheit manchen von uns nicht real erscheinen, wenn sie nur in Schwarz und Weiß dargestellt würde? Ich hoffte inständig, dass dies nicht der Fall war und dass ich nur negativ eingestellt war. Für die positiven Reaktionen auf die kolorierten Fotos könnte es jedoch eine konstruktivere Erklärung geben: Vielleicht haben wir eine natürliche Neigung, uns an die Toten lebendig und schön zu erinnern. Wenn wir den Fotos leuchtende Farben hinzufügen, könnte das ein Weg sein, um zu zeigen, dass sie uns am Herzen liegen, genauso wie wir die Leichen vor der Beerdigung vorbereiten: Wir kleiden die Leichen in ihre schönsten Kleider, schminken ihre Gesichter und arrangieren ihre Haare. Es könnte eine Art sein, die Verschwundenen in Ehren zu halten. In dieser Hinsicht wären die positiven Reaktionen sehr verständlich.

Das ist richtig, das war wirklich der Wendepunkt. Die Manipulation kam heraus, nachdem ich die Idee hatte, in der Datenbank der Website des Tuol Sleng Genocide Museum, die erst zwei Monate zuvor freigeschaltet worden war, nach den originalen Schwarz-Weiß-Fotos zu suchen. Was mich insbesondere antrieb, war meine Skepsis gegenüber der Kolorierung des Fotos eines Mädchens im Teenageralter mit der Nummer 253, das als Titelbild für den Artikel diente. Sie hatte braunes Haar und blaue Augen, als ob sie ein Mischling wäre. Ihre Haut leuchtete wie bei einer Hollywood-Schauspielerin. Als ich das originale Schwarzweißfoto fand, gab es für mich keinen Zweifel mehr: Das Mädchen sah offensichtlich kambodschanisch aus, hatte einen matten Hautton, wahrscheinlich schwarze Haare und schwarze Augen. Als ich das herausgefunden hatte, suchte ich weiter nach den restlichen Fotos und war schockiert über das nächste: das Foto eines jungen kambodschanischen Mannes mit der Nummer 3 auf der Brust. Sein überraschend strahlendes Lächeln in der kolorierten Version seines Fotos war in Wirklichkeit ein Ausdruck von Angst (wie ich es sehe) in der ursprünglichen Schwarz-Weiß-Fotografie ... Loughrey hatte das Foto nicht nur verändert, sondern absichtlich gefälscht. Das hat mich sehr erschüttert, es hat mein Herz in Stücke gebrochen. Nachdem ich mich wieder gefangen hatte, fand ich heraus, dass er dasselbe mit drei anderen Opfern getan hatte. Daraufhin stellte ich die kolorierten Fotos neben den Originalen ins Internet. Ein bekannter Magnum-Fotograf, John Vink, teilte sie auf Twitter, und das wirkte wie eine Bombe auf die allgemeine Meinung. Sie änderte sich sofort. Einige von uns, die anfangs die kolorierten Bilder begrüßt hatten, fühlten sich nun hintergangen, betrogen. Durch die Veränderungen war die Geschichte der Opfer negiert worden. Die düsteren Gesichtsausdrücke der Opfer verwandelten sich in ein Lächeln, als ob ihr bevorstehender Tod eine heitere Geschichte wäre. Ihre Würde wurde verletzt und ihr Schicksal verharmlost.Die Grenzen erlaubter Veränderungen waren weit überschritten, und die Verurteilung war einhellig. VICE entfernte den Artikel 48 Stunden nach seiner Veröffentlichung, räumte jedoch zunächst nur einen redaktionellen Fehler ein. Die Autorin des Artikels war in der Tat eine Praktikantin, die bei diesem Thema, bei dem es um Völkermord geht, offensichtlich allein gelassen wurde. Auch auf offizieller Ebene gab es eine Reaktion: Das kambodschanische Ministerium für Kultur und Bildende Künste, dem das Tuol Sleng Genocide Museum untersteht, verurteilte die Manipulationen und forderte die Entfernung der Bilder. Die Geschichte wurde daraufhin international verbreitet, und das VICE Magazine sah sich gezwungen, sich in der darauffolgenden Woche offiziell bei den Opfern zu entschuldigen, nachdem es zunächst die emotionale Belastung und die entstandenen Verletzungen in den kambodschanischen Gemeinschaften ignoriert hatte. VICE setzte sich mit einer ad hoc Petitions-Gruppe in Verbindung, an der ich beteiligt war, um die allgemeine Wut zu besänftigen. Der Vertreter von VICE versprach, in Zusammenarbeit mit Mitgliedern der kambodschanischen Gemeinschaft solide und historisch begründete Berichte über die Weitergabe der Erinnerung zu veröffentlichen. Heute müssen wir konstatieren, dass diesem Versprechen keine Taten gefolgt sind.

links: ursprüngliche Schwarz-Weiß-Aufnahme, rechts: koloriertes Bild mit bearbeitetem Lächeln
Montage der ursprünglichen, erkennungsdienstlichen Aufnahme aus S-21, einem Gefängnis der Roten Khmer in Phnom Penh, mit dem von Matt Loughrey kolorierten und manipulierten Bild.
©Foto: Tuol Sleng Genocide Museum

In asiatischen Gemeinschaften und Kulturen werden Fragen der psychischen Gesundheit oft heruntergespielt. Die Generation, die unter dem Regime der Roten Khmer lebte, ist bestrebt, die Vergangenheit zu vergessen, ja sogar zu ignorieren, um besser in die Zukunft blicken zu können. Ich denke, der Grund, warum die meisten jungen Kambodschaner:innen wenig über die Roten Khmer wissen, ist: weil ihre Eltern nicht oder nur indirekt darüber sprechen. Man könnte fast meinen, dass die Erinnerung aus dem Alltag der Kambodschaner:innen fast verschwunden ist, dass Organisationen wie das Tuol Sleng Genocide Museum die allerletzten Verbindungen in die Vergangenheit sind. In dem Artikel gab Loughrey vor, von den Familien der Opfer beauftragt worden zu sein und nannte als Beispiel den Sohn eines Bauern, der angeblich Bora hieß. Später erfuhren wir von seiner echten Familie, die in den USA im Exil lebt, dass sein Name nicht Bora, sondern Khva Leang war. Er war kein Bauer, sondern ein Lehrer und früher idealistischer Partisan der Roten Khmer, bevor er in S-21 inhaftiert wurde. Die Familie von Khva Leang war beim Lesen des Artikels schwer erschüttert. Die falschen Angaben im Artikel hatten sie für kurze Zeit annehmen lassen, dass es doch noch ihnen bisher nicht bekannte Familienmitglieder in Kambodscha geben könnte. Das stellte sich dann als unwahr heraus. Die Tatsache, dass Loughrey dazu übergegangen war, die Mimik zu verändern und unwahre Geschichten zu erfinden, hat in der Tat die Erinnerung an die Opfer wachgerufen, von der viele von uns dachten, dass sie tief verborgen oder auch verschwunden ist. Einerseits ist es bedauerlich, Schmerz und Trauma wieder aufblitzen zu sehen, andererseits beweist es, dass sie auch heute noch sehr präsent sind. Trotz der Tatsache, dass die Erinnerung in vielen Familien schweigt, ist sie nicht tot. Mit viel Arbeit und Hoffnung lässt sich das Leid der Vergangenheit vielleicht in Frieden und Widerstandsfähigkeit verwandeln.

Um genau zu sein, fand ich am Tag nach der Veröffentlichung des VICE-Artikels ein animiertes Fotoporträt von Czesława Kwoka, einer 14-jährigen Gefangenen des Konzentrationslagers Auschwitz, auf Loughreys Facebook- und Instagram-Feed. Er ließ die Augen des jungen Opfers digital blinzeln und fügte dem Bild eine Verwacklung hinzu, die den Effekt einer mit einer Handkamera aufgenommenen Aufnahme imitierte. Für mich war dies erschreckend und wirkte morbide, weil er im Grunde das Foto eines Opfers als computergesteuerte Marionette in einem empörenden Versuch benutzte, für die Technologie zu werben, die er als bezahlten Dienst anbietet. Ich finde keine Worte, um auszudrücken, wie betroffen und entsetzt ich war. Ich habe mich sofort per E-Mail an die Gedenkstätte Auschwitz gewandt. Ich bin sehr dankbar, dass sie die Haltung des Tuol Sleng Genocide Museums voll und ganz unterstützte. Und ich war erleichtert, als ich erfuhr, dass es dem Team der Gedenkstätte gelang, das animierte Foto von Czesława Kwoka eine Woche später von Loughreys Instagram-Account zu entfernen. Es ist von großer Bedeutung, sich in solchen Situationen gegenseitig zu helfen. Und es ist schön zu sehen, dass es keine nationalen Grenzen gibt, wenn es darum geht, die Erinnerung an die Opfer zu verteidigen. Die Bewahrung der Erinnerung ist ein kollektiver, nie endender Kampf, um die Zukunft zu sichern.

Sie haben recht, streng genommen handelt es sich in den meisten Fällen um Kopien und Reproduktionen. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie bereits ein gewisses Maß an menschlicher Intervention enthalten, aber der Grad der Intervention ist dennoch wichtig. Wir leben heute in einer hypervisuellen Ära, in der wir täglich mit Hunderten von Bildern konfrontiert werden, die so dicht sind, dass sich unser Gehirn unbewusst anpassen muss, indem es sie alle homogenisiert. Das ist jedoch eine große Gefahr, denn nicht alle Bilder haben den gleichen Stellenwert. So werden zum Beispiel Fotos von wahren Ereignissen mit gefälschten Bildern vermischt – dahinter stecken manchmal gefährliche Absichten, um unseren Verstand zu beeinflussen. Auch wenn es sich um einen großen Kampf handelt, können wir es uns nicht leisten, ihn zu verlieren. Wenn die überwiegende Mehrheit der Fotos heute retuschiert und/oder gefälscht ist, dann glaube ich, dass wir eine noch größere Verantwortung haben, die echten Fotos zu schützen. Wenn wir ein echtes historisches Foto für ein Projekt oder eine Präsentation verwenden, sollten wir ethisch und vielleicht sogar rechtlich verpflichtet sein, einen genauen Verweis auf das Original anzugeben. Diese Idee entlehne ich dem Verhaltenskodex für Koloristen, der auf Initiative von Jordan J. Lloyd – selbst ein professioneller Kolorist – erarbeitet wurde, nachdem das Agieren von Loughrey Konsequenzen nach sich gezogen hatten. Es ist leider unmöglich, den Missbrauch oder die Instrumentalisierung eines Bildes von vornherein zu verhindern, vor allem jetzt, wo uns so viele Technologien zur Verfügung stehen, die Manipulationen einfacher als je zuvor machen. Das bedeutet aber nicht, dass wir es geschehen lassen müssen. Wir müssen unser Bestes tun, um die Täuschungen und Manipulationen von Bildern aufzudecken und keine Angst haben, wenn dies zu Debatten führt. Jede Debatte ist fruchtbar, da sie dazu beiträgt, die ethischen, moralischen und politischen Implikationen manipulierter Dokumente zu klären und zu identifizieren.

Innenansicht des Tuol Sleng Museum
1/6
Tuol Sleng Museum (ehemaliges Gefängnis S-21 der Roten Khmer), 2021.
Innenansicht des Tuol Sleng Museum
2/6
Innenansicht des Tuol Sleng Museum
3/6
Fotograf im Tuol Sleng Museum
4/6
Innenansicht des Tuol Sleng Museums: kleines Regal, Pflanzen, Hocker
5/6
Pflanze im Tuol Sleng Museum
6/6

Ja, das kann es in der Tat. Ich stimme voll und ganz mit dem Punkt überein, dass historische Fotos die Öffentlichkeit erreichen müssen. Es mag zwar einigen paradox erscheinen, dass die Erinnerung bzw. die Beweise der Vergangenheit bewahrt und geschützt werden sollen, die Museen und Gedenkstätten sind gewissermaßen ihr Tresor ... und dennoch müssen sie geteilt werden. Die schwierige Herausforderung besteht darin, sie in einer achtsamen und respektvollen Weise zu teilen. Ihr Charakter als historischer Gegenstand bedeutet nicht, dass sie der Vergangenheit verhaftet bleiben sollen. Im Gegenteil: Wir können uns sicher darauf verständigen, dass die Geschichte Bewusstsein schaffen soll, also quer durch die Zeit in die Zukunft. Sie liegt nicht hinter uns, sondern begleitet uns. Und die digitale Welt ist heute ein notwendiges Mittel dafür. Je mehr wir über die Vergangenheit lernen und wissen können, desto besser können wir die Zukunft vorbereiten. Doch die Natur jedes Dokuments, das manchmal aus einzigartigem und extremem Material besteht, ist mit menschlichen Schicksalen verbunden, die immer mehr Gewicht haben müssen als alle Überlegungen zur „Kommunikation“. Ich würde es vorziehen, sie immer als wesentliche Bestandteile eines sinnvollen Projekts zu definieren, das Wege eröffnet, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu suchen und zur gegenseitigen Aufklärung beizutragen.

Das ist eine schwer zu beantwortende Frage. Ich würde sagen, es kommt auf das Thema an. Bei nicht sensiblen Fotos ist es wahrscheinlich akzeptabel. Ich vermute, dass Sie mit „Anpassung an unsere heutige Sichtweise“ „Farben hinzufügen“ meinen. Nun, ich verstehe, dass Museen das Interesse der Öffentlichkeit brauchen. In visueller Hinsicht stimmt es, dass Schwarz-Weiß-Fotos „flacher“ aussehen als Farbfotos. Farbe vermittelt ein 3D-Gefühl. Ich habe kolorierte Fotos gesehen, die unsere visuelle Wahrnehmung radikal verändern. Dennoch könnte man argumentieren, dass Schwarz-Weiß-Fotos auch eine Information über ihr Produktionsdatum enthalten. Wenn man ihnen Farbe hinzufügt, erschafft man in gewisser Weise einen Anachronismus. Aber ist ein Anachronismus bereits eine Manipulation? Kann dies bereits als Fälschung gewertet werden? Sind alle Veränderungen nur unterschiedliche Grade auf der Skala ein und derselben Handlung? Wenn man beginnt, Dokumente „anzupassen“, um sie für die Öffentlichkeit „verdaulicher“ zu machen, nimmt man dem Dokument dann seinen ursprünglichen Wert? Fügen Sie dem Dokument einen Filter hinzu? Könnte dies als stille Bestätigung einer traurigen Tendenz betrachtet werden, die Öffentlichkeit zu infantilisieren und sie für unfähig zu halten, unformatierte visuelle Inhalte nach ihrem Geschmack zu akzeptieren? Wie unscharf kann die Grenze zwischen Anpassung und Unterhaltung sein? Was die Fotos der S-21-Opfer betrifft, so hatte die von Loughrey vorgenommene Kolorierung definitiv eine Wirkung auf die Öffentlichkeit, allerdings auf Kosten der Missachtung der historischen Wahrheit. Loughrey fügte vor allem Farben hinzu, die die Gesichter der Frauen wie Make-up aussehen ließen: Rosa auf den Lippen, Rouge auf den Wangen, entfernte Hautunreinheiten. Bei zwei von ihnen fügte er ein Lächeln hinzu, was die Sache verschlimmerte. Eine Veränderung, die er in der Befragung eklatant verneinte. Denn als er zu diesem Lächeln befragt wurde, behauptete er, dass der Überlieferung zufolge (für die es kein Beleg gibt) Frauen ihre Entführer häufiger anlächelten als Männer. Seine Kolorierung trug in der Tat dazu bei, diese erfundene Geschichte zu unterstützen. Ich glaube, dass Loughrey versucht hat, das Projekt der brasilianischen Koloristin Marina Amaral zu imitieren, die 2018 Hunderte von Fotos von Auschwitz-Häftlingen coloriert hat, mit dem Unterschied, dass Amarals Projekt „Faces of Auschwitz“ eine echte Zusammenarbeit mit dem Museum Auschwitz-Birkenau war, an der Historiker:innen und Journalist:innen beteiligt waren. Sie wählte jeden Farbton und jede Farbe auf der Grundlage von Fakten und Dokumenten aus. Auch wenn ich der Kolorierung von Fotografien von Opfern skeptisch gegenüberstehe, kann ich nicht leugnen, dass Amaral im Gegensatz zu Loughrey einen künstlerischen Ansatz verfolgte, der mit Einfühlungsvermögen und Sorgfalt umgesetzt wurde: Jedes kolorierte Porträt wurde neben seinem ursprünglichen Schwarz-Weiß-Foto präsentiert, zusammen mit dem echten Namen und der Geschichte des jeweiligen Opfers. Es war ein aufrichtiger, vorsichtiger und emotionaler Versuch, Licht in die Schicksale der Opfer zu bringen.

Ich stimme zu, dass jede Verwendung historischer Bilder zwangsläufig verzerrend ist, aber ich denke, dass es dennoch möglich ist, diese Art von Aufgabe mit gutem Willen und Strenge zu erfüllen. Ja, viele haben in der Tat auf dieses Problem der westlichen kulturellen Aneignung hingewiesen, auch ich. Die Situation in Kambodscha ist jedoch ungewöhnlich, da das Regime der Roten Khmer die meisten Intellektuellen des Landes ins Visier genommen und ermordet hat, was zu einer tiefen Wissenslücke zwischen den Generationen geführt hat. Heute sind viele Experten:innen und Forscher:innen auf dem Gebiet der kambodschanischen Geschichte, Soziologie und Kultur Ausländer:innen, die zum Teil die Lücke füllen, die die ermordeten Intellektuellen hinterlassen haben. Das Bildungswesen in Kambodscha macht täglich Fortschritte, aber es gibt immer noch deutliche Mängel, die ihren Ursprung aus der Zeit der Roten Khmer haben. Mein Eindruck ist, dass der ausländische Einfluss auf die Bildung und Wissensproduktion von der einheimischen kambodschanischen Gesellschaft nicht feindselig aufgenommen wird. Der Aspekt der kulturellen Aneignung ist dagegen in den Köpfen der kambodschanischen Gemeinschaften im Ausland, in den Vereinigten Staaten und in Europa, viel stärker präsent. Ich denke, dass Menschen aus der kambodschanischen Diaspora wie ich oder Jean-Baptiste Phou oder unsere amerikanischen Kollegen:innen schon sehr früh mit den Schwierigkeiten der Integration in ihrem Umfeld konfrontiert wurden, und das schärft wahrscheinlich unseren Blick für dieses Thema. Wir können also sagen, dass dies ein wichtiger Faktor auf internationaler Ebene war. Wir fühlten uns unserer jüngsten Geschichte beraubt, die plötzlich von jemandem, der noch nicht einmal einen Fuß nach Kambodscha gesetzt hat, in einer verzerrten geschichtsrevisionistischen Weise umgeschrieben wurde. Wir befürchteten, dass in diesem Fall Kambodscha als kleinem Land nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt würde – so wie die Verbrechen der Roten Khmer von der internationalen Gemeinschaft während ihrer Ausübung und sogar noch danach ignoriert wurden (die Roten Khmer behielten ihren Sitz in den Vereinten Nationen bis 1993, 14 Jahre nach ihrer Niederlage). Es war herzerwärmend und erleichternd zu sehen, dass in diesen seltsamen Zeiten der Hyperinformation die kambodschanischen Gemeinschaften sowohl in Kambodscha selbst als auch in Europa und in den Vereinigten Staaten in der Lage waren, sich gemeinsam für die Verteidigung ihrer Geschichte und ihrer Opfer einzusetzen. Vor diesem Fall dachte ich, dass die Erinnerung an die Opfer allmählich verschwinden würde. Die kollektive Mobilisierung hat mich eines Besseren belehrt.

Der freie Grafik-Designer Jean-Sien Kin wurde 1979 in Frankreich geboren, nachdem seinen kambodschanischen Eltern die Flucht aus Kambodscha gelungen war. Seit 2017 lebt und arbeitet er in Phnom Penh, Kambodscha. Er ist Vize-Präsident der französischen Vereinigung „Le Cercle des Amis de Vann Nath“ (Kreis der Freunde von Vann Nath). Vann Nath (1946–2011) war Maler und Überlebender von S-21. Er hat sich mit seinen Bildern, in Filmen und Interviews sowie vor Gericht für die Erinnerung an die Opfer engagiert. Jean-Sien Kin war ein enger Freund von Vann Nath und hat 2021 dessen künstlerisches Werk herausgegeben.

Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau. (Das Interview wurde in englischer Sprache geführt.)

Timeline:

 

9. April 2021: Veröffentlichung eines Interviews mit Matt Loughrey über seine von ihm kolorierten und, wie Jean-Sien Kin herausfindet, digital manipulierten Porträts der S-21-Opfer auf der Website des Magazins VICE.

 

11. April 2021: Offizielle Verurteilung der Bearbeitung der S-21 Fotografien durch das Ministerium für Kultur und bildende Künste in Kambodscha. VICE entfernt den Artikel.

 

16. April 2021: VICE entschuldigt sich offiziell. Die Gedenkstätte Auschwitz erreicht, dass Matt Loughrey ein von ihm animiertes Bild (GIF) des Häftlings Czeslawa Kwoka aus dem Netz nimmt.

 

20. April 2021: Auf Initiative des Koloristen Jordan J. Lloyd wird ein Verhaltenskodex für Koloristen aufgestellt: https://www.ccoc.online

Tweet der Gedenkstätte Auschwitz: Mat Loughrey lehnte ab, seine Animation eines Fotos von einem Häftling von seinen Social Media zu entfernen
Tweet der Gedenkstätte Auschwitz, 16.4.2021

var _paq = window._paq = window._paq || []; /* tracker methods like "setCustomDimension" should be called before "trackPageView" */ _paq.push(['trackPageView']); _paq.push(['enableLinkTracking']); (function() { var u="https://matomo.buchenwald.de/"; _paq.push(['setTrackerUrl', u+'matomo.php']); _paq.push(['setSiteId', '21']); var d=document, g=d.createElement('script'), s=d.getElementsByTagName('script')[0]; g.async=true; g.src=u+'matomo.js'; s.parentNode.insertBefore(g,s); })();