Als ich 2017 anfing, am Tuol Sleng Genocide Museum zu arbeiten, war der damalige Direktor, Chhay Visoth, erst drei Jahre im Amt. Er war es, der das Museum aus einem „Dornröschenschlaf“ aufweckte, in den es – nach seine Gründung 1979 und sehr aktiven Anfangsjahren – gefallen war. Ein viel zu romantisches Wort für die politischen Turbulenzen und Unsicherheiten, in denen sich das Land bis in die 2000er-Jahre hinein befand; die Zeit der Khmer Rouge war erst mit dem Tode Pol Pots 1998 wirklich vorbei. Chhay Visoth schuf Abteilungen (Verwaltung, Archiv, Konservierung, Pädagogik, Ausstellungswesen, etc.) und versuchte, junges Fachpersonal an die Gedenkstätte zu holen, in der bisher nur Angestellte ohne spezifische Ausbildung arbeiteten. 2018 stellten wir den ersten Historiker ein. Ursprünglich war ich eingeladen worden, am Tuol Sleng zu arbeiten, um die pädagogischen Angebote mit fortzuentwickeln. Vor Ort stellte sich heraus, dass das Kernteam nur über schwaches Basiswissen zu S-21 verfügt und es – trotz eines umfangreichen Archives, das seit 2009 im UNESCO Memory of the World Register eingetragen ist – keine Rechercheprojekte und keine Praxis gab, die Vermittlungsangebote auf Faktizität zu überprüfen. Um die Angebote mit Wissen anzureichern und zu qualifizieren, galt es, dies zu ändern. Chhay Visoth griff das Motto „Gedenken braucht Wissen“ begeistert auf. Auch in Kambodscha gibt es Menschen, die aus politischen Gründen in Zweifel ziehen, dass S-21 existierte und eine Folter- und Mordstätte war. Das hängt mit dem weiterhin angespannten Verhältnis zu Vietnam und der aktuellen politischen Lage zusammen. Dieser Kreis argumentiert, dass das Museum 1979 von den Vietnamesen gestaltet wurde und vornehmlich propagandistischen Zwecken zu ihrem Machterhalt in Kambodscha diente. (Vietnamesische Berater:innen und Militärs waren bis 1989 im Land und kontrollierten die kambodschanische Regierung.) Hinzu kommt, dass ein großer Teil der Bevölkerung der aktuellen Regierung nicht traut. Da das Museum eine staatliche Institution ist, gehen nicht wenige kambodschanische Besucher:innen davon aus, dass sie hier maximal eine gefärbte Wahrheit zu sehen bekommen. Eine Situation ist mir eindringlich in Erinnerung: Im Museum hängen Fotos von ermordeten Gefangenen in ihren Zellen, die am Tag der Entdeckung des verlassenen Gefängnisses aufgenommen wurden. Ein Team der Gedenkstätte hat versucht, den damaligen Standort des Fotografen nachzuvollziehen und in drei Fällen war es gelungen, die Fotos in den Raum zu platzieren, in dem die Aufnahme 1979 gemacht worden war. Als wir diese Veränderung dem gesamten Team am Museum vorstellten, und die Kolleg:innen, die z.T. seit 30 Jahren am Museum arbeiten, mit ihren eigenen Augen sehen konnten, dass zum ersten Mal Foto und Raum miteinander übereinstimmten, drehte sich eine Kollegin zu uns um und fragte: Also ist das hier wirklich geschehen?
Geschichtskultur
Die Bewegung der kommunistischen Roten Khmer erstarkte in den 1960er-Jahren in Kambodscha und kontrollierte das gesamte Land vom April 1975 bis zum Januar 1979. In dieser Zeit starben zwischen 1,7 und 2,2 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 6,5 Millionen) an den geschaffenen Lebens- und Arbeitsbedingungen oder weil sie ermordet wurden. Auf der Suche nach inneren Feinden, mordete die „Angkar“ (die „Organisation“, wie die Roten Khmer sich nannten) direkt in den Dörfern oder ließ Gefangene zunächst in eines der 196 Gefängnisse bringen, um Geständnisse unter Folter zu erzwingen. Das „S-21 Büro“, so der offizielle Name der Folter- und Mordstätte in Phnom Penh, unterstand direkt dem Zentralkomitee der Partei und war den „wichtigen“ Gefangenen vorbehalten. Zurzeit sind über 18.000 Namen von Opfern bekannt, der Abgleich von Listen ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Die meisten der bis zu 21.000 Gefangenen – überwiegend Männer, aber auch Frauen und Kinder – wurden in Choeung Ek, einem etwa 10 Kilometer entfernten „Killing Field“, ermordet. Nach 1979 sind nur zwölf Menschen als Überlebende von S-21 bekannt geworden.
Weitere Informationen unter www.tuolsleng.gov.kh
Zunächst einmal sind der zeitliche Abstand und die Kontexte sehr verschieden. In der Gedenkstätte Buchenwald sind Überlebende (wenn überhaupt) nur noch an den Jahrestagen vor Ort und die Mitarbeitenden haben die NS-Zeit nicht selbst erlebt. Für die jungen Besuchenden in Deutschland ist es die Geschichte der (Ur-)Ur-Großeltern, also weit weg oder der anderen, wenn die eigene Familie nicht aus Deutschland stammt. Anders in Kambodscha. Hier ist es oft noch die Geschichte der Eltern und Familienmitglieder werden vermisst. Anders als in Deutschland war hier jede(!) Familie betroffen von Vertreibung und anhaltender Todesgefahr sowie der Erfahrung, dass nahe Menschen abgeholt wurden und nie wieder auftauchten. Eine gesamte Bevölkerung wurde traumatisiert und dieses Trauma löst sich nicht einfach in der nächsten Generation auf. Ähnlich wirkmächtig für die Erinnerungskultur sind meinem Eindruck nach aber auch Aspekte wie: sichere Lebensverhältnisse, gibt es demokratische Strukturen, wird auf Geschichtsschreibung Einfluss genommen, gibt es laufende juristische Verfahren gegen damalige Täter, wird Verantwortung thematisiert bzw. als wichtig erachtet, wie hierarchisch orientiert sich die Gesellschaft? Und: wird gerne gelesen, werden Neugierde, kritisches Denken und Wissenschaftlichkeit wertgeschätzt und welche Rolle spielen religiöse Vorstellungen, die Weltbilder prägen? Vor diesem Hintergrund gibt es drei wesentliche Unterschiede, die mir ins Auge fallen: Die allermeisten Menschen, die die Zeit der Khmer Rouge selbst erlebt haben, sehen sich ausschließlich als Opfer, die Täter:innen sprechen von ihren Taten und das Thema „Widerstand/Widerständigkeit“ begegnet einem kaum.
Auch die Deutschen in beiden Staaten nach 1949 haben sich überwiegend als Opfer gesehen, bis sich diese Lesart nicht mehr aufrechterhalten ließ. In Kambodscha kommt die historische Tatsache hinzu, dass Befehlsverweigerung mit wenigen Ausnahmen zum Tode führte. Auch einer der führenden Vernehmer und Totschläger in S-21, Him Huy, bezeichnet sich als Opfer: „Wenn ich mich geweigert hätte, wäre ich selbst Gefangener von S-21 geworden und umgebracht worden.“ Neben der anhaltenden Straflosigkeit auch für diese Tätergruppe hilft ihm diese Einstellung, offen über S-21 zu sprechen, für Interviews zur Verfügung zu stehen und damit sein Einkommen als Kleinbauer aufzubessern. (Selbstverständlich lässt sich nur darüber spekulieren, ob und wie sich in Deutschland der Diskurs verändert hätte, wenn in der NS-Zeit eine Befehlsverweigerung im Militär oder NS-Personal ebenfalls zum sicheren Tode geführt hätte.) Die Vorstellung, dass jemand Täter und Opfer gewesen sein kann, ist wenig verbreitet. Die Tatsache, dass nach S-21 insbesondere die Kader der Khmer Rouge gebracht wurden, denen das Zentralkomitee der Partei unterstellte, konterrevolutionär zu arbeiten, bringt mit sich, dass in S-21 besonders viele (Mit-)Täter Opfer ihres eigenen Regimes wurden. Auf dem zentralen Mahnmal, an dem alle Namen zu lesen sind, steht statt einer Gedenkformel: „Nie werden wir die Verbrechen des Regimes in Demokratisch Kampuchea vergessen.“
Außer der vom Premier verbreiteten Geschichte seiner Flucht und der führenden Rolle der militärischen Befreiung des Landes 1979, muss ich als Gast in Kambodscha auf intensive Suche gehen, um Geschichten von Selbstbehauptung (ein Vater entscheidet sich dafür lieber zu verhungern, als unter diesem Regime zu leben), Widerständigkeit (ein Gefangener verweigert in seinem letzten nach Folter erzwungenen Geständnis fälschlich zu schreiben, er habe seine Tochter vergewaltigt) und Widerstand (in April 1976 gibt es ungeklärte Explosionen in der Innenstadt) zu finden. Es gibt sie, aber sie werden – ganz anders als in beiden Deutschlands – nicht erzählt. Vermutlich hat dies zwei Gründe: Es ist weiterhin heiß umstritten – dies nun ähnlich wie lange in Westdeutschland bezogen auf den 8. Mai –, ob der 7. Januar 1979 ein Tag der Befreiung oder der Besatzung (durch die Vietnamesen) war. Und auch das derzeitige Regime möchte alles andere als widerständiges Verhalten in der Bevölkerung sehen.
Öffentliches Gedenken braucht – wie überall auf der Welt – eine Gesellschaft, die um Ermordete und Vermisste trauert und eine Regierung, die die Erinnerung an diese mindestens zulässt bzw. sie aktiv unterstützt. In Kambodscha tut die Regierung beides, weil es in ihr politisches Narrativ passt. Aber dieselbe Regierung fasst den Rahmen eng, in dem Geschichtsschreibung stattfinden kann, zumindest wenn sie an einer staatlichen Einrichtung, wie dem Museum, erfolgt. Insofern ist der eine Teil der Antwort: dass wissenschaftliche Freiheit und institutionelle Unabhängigkeit hinzukommen müssen. Im internationalen Diskurs wird weniger ein Begriff wie „Gedenken“ benutzt, sondern zurzeit die Begriffe „Dealing with the past“ (dt.: Erinnerungsarbeit) und „Transitional Justice“ (dt: Vergangenheitsaufarbeitung). Der letzte beinhaltet vier Säulen, eine davon ist „das Recht zu wissen“, aber eben auch die Säule „das Recht auf Gerechtigkeit“, also das Einfordern von juristischer Aufarbeitung. In Kambodscha hat es unter vietnamesischer Führung 1979 einen kurzen Prozess gegen die Führungsriege der Roten Khmer in Abwesenheit gegeben, der immerhin einiges an Beweismaterial zusammenstellte. Und seit 2006 hat das internationale Khmer Rouge Tribunal (ECCC) zwei Verfahren gegen fünf Angeklagte (fast) abgeschlossen. Die Regierung hatte von Anfang an nur Verfahren gegen die oberste Führungsriege – den Leiter von S-21 eingeschlossen – zugelassen. Forderungen, weitere Täter:innen vor Gericht zu stellen und den Zeitraum der Anklage auszuweiten, sind sehr verhalten. Ein Grund ist sicherlich auch das nicht vorhandene Vertrauen in kambodschanische Gerichte. Sie sind nicht unabhängig und stehen unter Korruptionsverdacht. Darüber hinaus versuche ich noch immer zu verstehen, wie sehr es eine Rolle spielt, dass die große Mehrheit der Kambodschaner:innen tief buddhistisch geprägt ist, auch wenn nicht alle täglich Riten praktizieren. Der Buddhismus lehrt die Vorstellung, dass Menschen die Böses tun, in ihrem nächsten Leben dafür büßen werden. Die Menschen brauchen/sollten nicht selbst richten.
In dieser Atmosphäre – dass einer staatlichen Einrichtung nicht getraut wird – muss das Tuol Sleng Museum agieren. Auch ich musste mich fragen, was ich hier eigentlich unterstütze, wenn ich helfe, diesen Ort weiterzuentwickeln und gleichzeitig akzeptieren muss, dass der Direktor (selbstverständlich Parteimitglied) sich nur im Rahmen des Regierungsnarrativs bewegen kann. Zu meinen Leitmaximen wurden mit der Zeit: a) solange wir nicht aufgefordert werden, die Geschichte falsch darzustellen, müssen wir damit leben, nicht das gesamte Bild zeichnen zu dürfen. (Zum Beispiel dürfen wir die Unterstützung Chinas für die Roten Khmer nicht erwähnen, die aber für S-21 unseres jetzigen Wissens nach keine Rolle gespielt hat), b) wir haben den gesetzten Rahmen noch lange nicht ausgeschöpft und erforscht. Diesen Rahmen nicht zu nutzen, hieße, Geschichtsfälschern das Feld zu überlassen. Es lohnt weiterhin, die Erinnerung an die Opfer und Täter in den Vordergrund zu rücken, faktenbasierte Forschung zu unterstützen und die Gedenkstätte in allen Bereichen zu professionalisieren, um Tuol Sleng als Erinnerungsort zu erhalten. Was es also ebenso braucht: den Mut der Verantwortlichen, bei den Fakten zu bleiben, die Bereitschaft, Gratwanderungen zu ermöglichen, die nicht verfälschen, und Spielräume auszuschöpfen.
Um eines Tages den Status UNESCO Welterbe zu tragen, braucht es zunächst den Eintrag in die UNESCO tentative list, also eine vorläufige Aufnahme in die Liste. Die Regierung muss diese beantragen und damit bestätigt sie, dass der Ort von nationaler Bedeutung ist und sie gewillt ist, ihn zu schützen. Inhaltlich ist dies von großer Bedeutung, weil damit Kambodscha international bekundet, nicht nur mit ihren einmaligen Tempeln (wie Angkor Wat) in der Welt berühmt sein zu wollen, sondern auch mit den grauenvollen Teilen ihrer Geschichte bekannt zu sein. Das Kulturministerium, dem das Museum untersteht, hat sich entschieden, sich mit drei Orten gemeinsam um den Status zu bewerben: dem Vorgänger-Gefängnis M-13, dem Tuol Sleng Genocide Museum (früheres S-21 Gefängnis) und der Mordstätte von S-21, dem heutigen Choeung Ek Genocidal Center. Die Idee dazu kam zu einem günstigen Zeitpunkt, denn das UNESCO Büro in Kambodscha war gerade dabei, die tentative list nach Jahrzehnten wieder zu beleben. Die Museumsleitung will mit dem Antrag in erster Linie sicherstellen, dass die Orte langfristig gesichert sind und nicht dem starken Urbanisierungsdruck im Land zum Opfer fallen. Und es ist auch eine Art Vorsorge für den unerwünschten Fall, dass eines Tages eine Regierung an der Macht ist, die kein inhaltliches/politisches Interesse mehr an diesem Zeitabschnitt haben könnte bzw. die historischen Orte nicht für schützenswert hält. Gleichzeitig gibt es jedoch seit ein paar Jahren eine sehr polarisierte Debatte im UNESCO Welterbe Komitee, ob überhaupt und wenn ja unter welchen Bedingungen, „Orte, die sich auf Konflikte beziehen“ weiter in die Welterbe-Liste aufgenommen werden sollen. Vereinzelt wurden sie auch „negative Orte“ genannt. Auf der Liste finden sich einige wenige wie die Gedenkstätte Auschwitz (1979), Hiroshima bzw. der Gedenkdom (1996) oder Robben-Island in Südafrika (1999). Weitere sehr unterschiedliche Bewerbungen z. B. aus Belgien/Frankreich, Ruanda und Argentinien sind in der Vorbereitung. Auf der letzten Sitzung des Komitees wurde 2021 jedoch der Antrag gestellt, vor weiteren Aufnahmen eine prinzipielle Entscheidung zu treffen. Interessanterweise haben sich besonders viele afrikanische Staaten vereint und wortstark für die Aufnahme von „conflict sites“ ausgesprochen. Es wurde vereinbart, eine Arbeitsgruppe einzurichten, an der nicht nur die staatlichen Vertreter:innen teilnehmen dürfen, die bis zur nächsten Sitzung 2022 einen Vorschlag vorlegen soll. Das Hauptargument der Gegner:innen weiterer Aufnahmen ist, dass sich das historische Narrativ zu den Bewerber-Orten oft noch nicht ausbalanciert habe und die Bewerbungen ein Versuch der politischen Instrumentalisierung sein könnten. Es wird interessant, wenn in diese Situation hinein eine Bewerbung aus Asien (Kambodscha) kommt, von der wir annehmen, dass die Erinnerungswürdigkeit international unumstritten ist. Aber noch ist die Bewerbung in Vorbereitung. Daumen drücken lohnt sich!
Wenn ich versuche, mich an meinen ersten Besuch zu erinnern, dann gab es viel Vertrautes (das Anliegen, den Ort, die Objekte und Dokumente erhalten zu wollen; Gespräche mit Zeitzeugen anzubieten; Schulklassen einzuladen; etc.) und einiges, das mich stark irritiert hat: Warum gibt es keine erklärenden Texte in der Dauerausstellung? Wieso werden so wenige Einzelbiografien vorgestellt und die Fotos der Gefangenen ohne Namen und in Masse ausgestellt? Warum werden Fotos von Leichen und Gefolterten gezeigt? Warum sind im Gedenkraum hunderte von Totenschädeln zu sehen und diese nicht wie hier üblich eingeäschert worden? Weshalb gibt es auf die Frage nach den „Lehren aus dieser Geschichte“ oft nur das Wort Peace und weiter wenig Konkretes? Warum sind so viele Täter nie belangt worden? Und und und. Der große Vorteil, lange an einem Ort zu sein, ist natürlich, die frühen, oft vorschnellen Erklärungen mehrfach korrigieren zu können und die Geschichten dahinter kennenzulernen. Manche Antworten auf die oben genannten Fragen stellten sich als lapidar heraus, andere als hochpolitisch. Richtig fremd ist mir eigentlich nur der verbreitete Glaube, dass Seelen von Menschen, die nicht friedlich sterben konnten, als unruhige, unglückliche Geister immer noch anwesend sind. Diesen Geistern will man/ frau hier nicht begegnen. Viele meiner Kolleg:innen erzählen von Erscheinungen im Museum und manche trauen sich nicht alleine in bestimmte Räume. Dieser Geisterglaube ist auch die meist genannte Erklärung, warum viele Kambodschaner:innen nicht in die Gedenkstätte kommen wollen. Er führt aber auch dazu, dass die Erinnerung an die Toten wachgehalten wird und ihre Präsenz offenbar für Menschen bis heute spürbar ist. So werden zum jährlichen Pchum Ben Fest allen unruhigen Seelen, auch jenen von Tuol Sleng, Reis und andere Gaben dargebracht, um sie zu versorgen. Der buddhistische Ritus schreibt vor, dass die Kinder die Gebeine der Eltern einäschern und die Totenrituale durchführen müssen. Teil der Traumatisierung in der älteren Bevölkerung ist, dass sie dies meist nicht tun konnten. In den Anfangsjahren in der Gedenkstätte wurde eine wandgroße Landkarte Kambodschas aus realen Totenschädeln gestaltet. Die Botschaft der Karte war: Das gesamte Land war zum Massengrab geworden. Diese Karte hing 20 Jahre lang in der Gedenkstätte, bis der König intervenierte und sie abgenommen wurde. Die Regierung entschied jedoch (wie im gesamten Land), die Gebeine nicht einzuäschern, sondern sichtbar zu lassen: sie sollten weiter an die Verbrechen erinnern. Für viele Besucher:innen – sicher nicht nur für die ausländischen – muss es irritierend sein, die Schädel zu sehen, wissend, dass der Ritus ein anderer ist. Ein weiterer Aspekt ist mir nicht fremd, er stimmt mich nur nachdenklich und traurig. Da die derzeitige politische Lage kein kritisches Denken, keine Opposition, keine Meinungsfreiheit erlaubt und fördert, gehen Fragen nach der Verantwortung für die Verbrechen zusammen mit der anhaltenden Straflosigkeit ins Leere. So werden Redewendungen wie „Nie wieder“, „Lernen aus der Geschichte“ zu hohlen Phrasen, die in den pädagogischen Programmen nicht mit Argumenten, Diskussionen –mit Leben – gefüllt werden. Wenn ein Him Huy sich hier in der Gedenkstätte an seinem ehemaligen Tatort als Opfer bezeichnen kann und nicht dagegen gehalten wird, dann bleibt es unklar für die junge Generation, welche Lehren sie aus der Geschichte ziehen sollen. Dann kann Massenmord wieder geschehen, weil alle mussten/ müssen ja den Anordnungen folgen. In einer schon so lange autoritär orientierten Gesellschaft wie der kambodschanischen, in der Widerstand (zumindest von oben) keinen positiven Wert zugesprochen wird, ist der Boden weiterhin bereitet.
Ich glaube, ich nehme nichts für die deutsche Erinnerungskultur mit, außer der großen Dankbarkeit, dass ich die Chance hatte, eine andere Erinnerungskultur intensiv kennenzulernen. Es ist wenig in beide Richtungen übertragbar und natürlich eine Binsenweisheit, dass jede Gesellschaft und jede neue Generation Opfer von staatlichen Massenverbrechen anders und immer wieder verändert erinnert. Zu einer allgemeinen Erfahrung wurde für mich, dass wir uns eine Scheibe davon abschneiden könnten, entspannter zu arbeiten. In Kambodscha hat weiterhin die Familie den höchsten Stellenwert, und dann kommt erst die Arbeit. Auch finde ich den Pragmatismus hier beeindruckend und ansteckend. Immer wieder ist es herrlich zu erleben, welche Lösungen möglich sind. Erinnerungskulturell beindruckt mich die Spiritualität und die gefühlte Nähe der Toten, die mich zu einem weiteren Thema führt: den weiterhin teilweise sichtbaren und im Gedächtnis der lokalen Bevölkerung präsenten Massengräbern im Land. Eine Zählung in den 1990er-Jahren hat über 30.000 aufgelistet. (Wieder ist es nur eine Spekulation, ob die NS-Verbrechen in Deutschland anders präsent wären, wenn sich die Massengräber der NS-Verbrechen nicht im Osten, in Russland, in Belarus, in der Ukraine, in Polen, sondern in Deutschland befinden würden.) Die Unvorstellbarkeit dieser Gewalt führt in Kambodscha dazu, dass eine Frage immer wieder gestellt wird, die ich als rhetorische Frage höre: „Warum sollen Kambodschaner Kambodschaner umgebracht haben?“ Gemeint ist in der Regel: Das anzunehmen ist so abwegig, dass es nicht sein kann, also waren es andere, nämlich wechselweise die Vietnamesen oder die Chinesen. Die Kambodschaner können es jedenfalls nicht gewesen sein. Auch der Hinweis, dass die gesamte Führungsriege der Roten Khmer Kambodschaner:innen waren, hilft nicht. Als ich diesen Satz zum ersten Mal gehört habe, hat er Neid bei mir ausgelöst. Ich war neidisch darauf, dass die Opfer offenbar als die eigenen identifiziert werden. Ich habe in Deutschland noch nie die abwehrende Argumentation gehört: „Warum sollen Deutsche deutsche Juden getötet haben? Das wäre doch absurd.“
Die Kulturpädagogin Barbara Thimm arbeitete als Bildungsreferentin unter anderem in der Gedenkstätte Buchenwald, der Europäischen Jugendbildungs- und Jugendbegegnungsstätte Weimar und leitete die Pädagogische Abteilung des Internationalen Jugendgästehauses Dachau. Das Trainingsangebot „Verunsichernde Orte. Weiterbildung Gedenkstättenpädagogik“ hat sie mitinitiiert und entwickelt. Für den Zivilen Friedendienst ist sie seit 2017 am Tuol Sleng Genocide Museum in Phnom Penh tätig.
Die Fragen stellte Rikola-Gunnar Lüttgenau. Im April 2017 begleitete der Kulturhistoriker in Phnom Penh mehrere Workshops zur Weiterbildung von Mitarbeiter:innen des Tuol Sleng Museums.