Schwerpunkt: Nationalsozialismus als transnationales Phänomen

Nationalistisches Doppeldenk: Der Potempa-Mord, der Nationalsozialismus und der Zwiespalt des Nationalismus in Grenzgebieten

Neue Forschungsergebnisse zeigen den Pragmatismus und die Widersprüchlichkeiten der Nationalitätenpolitik der frühen NSDAP auf.

Im Spätsommer 1932 machte das kleine oberschlesische Dorf Potempa deutschlandweit Schlagzeilen: Dort, nur drei Kilometer von der polnischen Grenze entfernt, waren SA-Männer in die Hütte von Konrad Pietrzuch, einem kommunistisch gesinnten, arbeitslosen Landarbeiter aus einer polnischsprachigen Familie, eingebrochen und hatten diesen erschlagen. Der Mord ereignete sich kurz nach Mitternacht am 10. August; um Mitternacht war eine Notverordnung in Kraft getreten, die politischen Mord unter Todesstrafe stellte. Die SA-Männer wurden daher noch im selben Monat vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Nationalsozialistische und andere rechte Medien sprachen sich vehement gegen das Urteil aus. Auch die SA-Führung stellte sich öffentlich hinter die Mörder und zwang so Adolf Hitler zur Stellungnahme. Dieser schloss sich der Unterstützung für die Mörder letztendlich an. Der öffentliche Druck führte dazu, dass die Mörder noch Anfang September 1932 zu lebenslanger Haft begnadigt wurden. Im März 1933 kamen sie schließlich ganz frei.1

Der Fall erntete von politischen Beobachter:innen damals sowie von Historiker:innen später Aufmerksamkeit als Beleg für die öffentliche Abkehr Hitlers von der Politik der Legalität und Respektabilität, die er seit dem Scheitern des Münchner Putschs verfolgt hatte.2 Die Geschichtsschreibung hat hingegen kaum beachtet, dass der Mord regional, zum Zweck der Legitimierung der Tat, als Produkt des deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikts dargestellt wurde. Dieses apologetische Narrativ stieß in einer Region, in der die Erinnerung an die Wirren der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg lebendig und nationalistische Gewalt an der Tagesordnung war, auf viel Resonanz. Da die nationalen Verhältnisse in den Grenzgebieten aber keineswegs so eindeutig waren, wie von den Nationalsozialisten behauptet, bot die gleichzeitige Duldung nicht eindeutig deutschstämmiger Mitglieder in den Reihen der NSDAP Angriffsfläche für Kritik an dieser nationalistischen Rechtfertigung für den Potempa-Mord.

Der Diskurs rund um den Mord bietet somit einen Einblick in den Zwiespalt zwischen völkischem Anspruch und dem Pragmatismus, der zum Vergrößern und Festigen der Nation in Grenzgebieten nötig war. Diese Diskrepanz, die die Forschung der letzten zwanzig Jahre herausgearbeitet hat, kompliziert das gängige Bild vom „Dritten Reich“ als „Rassenstaat“. Der Umgang der Nationalsozialisten mit dieser Spannung wurde bislang allerdings hauptsächlich mit Blick auf die Besatzungspolitik während des Zweiten Weltkrieges erforscht.3 Die Kluft zwischen nationalistischem Anspruch und Wirklichkeit begegnete den Nationalsozialisten allerdings bereits vor Machtübernahme und Krieg in Deutschlands eigenen Grenzgebieten.

Karte von Osteuropa mit den (angeblichen) ehemaligen deutschen Ostsiedlungen rot markiert
„Deutsche Ostsiedlung vom 11. bis 19. Jahrhundert“. Der Anspruch auf eine deutsche Vorherrschaft in Mittel- und Osteuropa wurde aus mittelalterlichen deutschen „Ostsiedlungen“ und „deutschem Kulturboden“ abgeleitet. Dazu dienten auch willkürlich gezogene Grenzen der deutschen Sprache und des mittelalterlichen Deutschen Reiches.
©Der Neue Brockhaus, 1937

Dass Menschen verschiedener Ethnizitäten gemeinsam Staaten und Regionen bewohnten, galt, trotz ab und an aufflammender Rivalitäten, jahrhundertelang als normal und unproblematisch, denn Staaten definierten sich hauptsächlich über die sie regierenden Dynastien.4 Als dann im 19. Jahrhundert der Nationalismus Fuß fasste und die Deckungsgleichheit von Staat und Nation anstrebte, stand dieses Ziel im Widerspruch zu den Lebensrealitäten vieler Menschen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein gab es in Europa viele, die mit dem Nationalismus und dessen Vorstellung, dass Nationalität zentral für die persönliche Identität sei, wenig anfangen konnten.5 Diese sogenannte nationale Indifferenz war insbesondere in Ost- und Mitteleuropa gängig, aber nicht nur dort. Auch in Schleswig, das kulturelle, wirtschaftliche und politische Anbindungen sowohl an Dänemark als auch an Deutschland hatte, standen viele zwischen den Stühlen.6 Selbst wo sich, wie im ostpreußischen Masuren, schnell eine stabile nationale Identifikation herausbildete – in diesem Fall mit Deutschland – wurden dieser zuwiderlaufende Merkmale, wie der masurisch-polnische Dialekt, nicht aufgegeben.7 In Oberschlesien hemmte die Zentralität des Katholizismus für die Selbstdefinition der Einwohner:innen die Ausbreitung und Festigung nationaler Identitäten.8

Als die Grenzen Deutschlands nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg neu ausgearbeitet wurden, entschieden sich die Alliierten dafür, in einigen Regionen, in denen das Verhältnis zwischen Ethnizität und Nationalität nicht offensichtlich war, Volksabstimmungen durchzuführen. All diesen Abstimmungen gingen hitzige Wahlkämpfe voraus, was nur hervorhob, dass die Abstimmungen keine reinen Erhebungen der zahlenmäßigen Stärke der Nationalitäten waren, sondern dass es möglich und nötig war, Stimmen aus dem großen Block der national Unentschiedenen zu gewinnen.9 In Oberschlesien stimmte im Plebiszit von 1921 die Mehrheit der Stimmberechtigten für Deutschland, woraufhin ein polnischer Aufstand losbrach, der gewaltsam Fakten zu schaffen suchte. Freikorps aus ganz Deutschland und lokale Selbstschutzverbände schlugen diesen Aufstand blutig nieder. Einige Monate später sprachen die Entente-Mächte Deutschland den größeren, westlichen Teil Oberschlesiens zu, Polen aber das wertvolle ostoberschlesische Industriegebiet.10 Auch Schleswig wurde nach einem Referendum geteilt: Nordschleswig ging an Dänemark, Südschleswig verblieb bei Deutschland. Masuren blieb, bis auf ein Gebiet eines Landkreises, vollends Teil Deutschlands.

Zu der in Oberschlesien seit der Abstimmungszeit aufgeheizten nationalistischen Stimmung kam in den frühen 1930er-Jahren die allgemein aufgeladene politische Situation hinzu. Unter diesen Umständen stellte Konrad Pietrzuch, als Polnisch sprechender Kommunist, „eine fast perfekte Zielscheibe für nationalsozialistischen Hass“ dar, zumal vier seiner Mörder aus ostoberschlesischen Ortschaften stammten, die 1921 Polen zugeschlagen worden waren.11 Diesen Umstand nutzte die nationalsozialistische Presse, um den Mord zu rechtfertigen und den Umgang der Justiz mit den Mördern zu verurteilen.

Zahlreiche Artikel der deutsch-nationalistischen Presse beschuldigten Pietrzuch, sich 1921 auf brutalste Weise am polnischen Aufstand beteiligt zu haben. Ihm wurden Gräueltaten angehängt, von dem gewaltsamen Ausrauben einer deutschen Butterhändlerin12 bis zu einem Massaker an sieben deutschen Bergarbeitern.13 Pietrzuchs Mörder hingegen wurden als gute Deutsche und vorbildliche Selbstschutzkämpfer präsentiert. Es wurde behauptet, der Kampf zwischen deutschen Patrioten und polnischen Gewaltmenschen gehe seit einigen Jahren unter einem politischen Deckmantel weiter: Während Polen wie Pietrzuch sich dem Kommunismus zugewandt hätten, weil dieser ein Ventil für Hass auf Deutschland bot, versammelten SA und Stahlhelm die deutschen Verteidiger Oberschlesiens in sich.14 Aus dieser fortgesetzten, bürgerkriegsähnlichen Dynamik heraus ließ sich der Mord angeblich erklären: “Die Verurteilten handelten als ehemalige Selbstschutzleute in dem zwar irrigen, aber deshalb nicht weniger starken Glauben, mit der Beseitigung eines ehemaligen polnischen Aufständischen etwas zu tun, was sich verantworten läßt und was vor 11 Jahren [während der Niederschlagung des polnischen Aufstandes] in nationaler Notwehr wiederholt getan worden ist.”15 Außerdem sei es ohnehin ungerechtfertigt, fünf deutsche Männer mit ihrem Leben für den Tod nur eines einzigen Polen büßen zu lassen.16

Blick auf die Anklagebank bei der Verhandlung vor dem Sondergericht in Beuthen
KarlsruherTagblatt, 23.8.1932.

Die Täter, die in der Tatnacht Jagd auf Potempas Kommunisten gemacht hatten, ordneten ihre Tat nie selbst als nationalistisch ein. Trotzdem fiel die nationalsozialistische Rechtfertigung auf fruchtbaren Boden. Tatsächlich völkisch motivierte Gewalt war schließlich nicht unüblich: Sie flammte gerade vor Wahlen auf17, konnte aber auch Menschen treffen, die einfach nur auf Polnisch sprachen oder sangen.18 Zwei Jahre vor dem Mord hatte ein Mob sogar im großen Stil Musiker:innen und Schauspieler:innen zusammengeschlagen, die in der Provinzhauptstadt Oppeln eine polnische Oper aufgeführt hatten.19 Die oberschlesische Rechte war es gewohnt, sich hinter solche Taten zu stellen und tat es auch im Fall des Potempa-Mordes. Zahlreiche Unterstützerschreiben von nationalistischen Vereinen an Kanzler von Papen nahmen auf das apologetische Narrativ Bezug.20 Selbst der prominente Vertreter der Deutschen Demokratischen Partei und erklärte Gegner der Nationalsozialisten Kurt Urbanek unterzeichnete ein Schreiben, das um die Begnadigung der Mörder bat, um weiteres Blutvergießen im sogenannten Volkstumskampf zu vermeiden.21

Es war außerdem durchaus gängig, politische Feindseligkeiten in nationalistische Ressentiments zu kleiden. So wurde Albert Grzesinski, der sozialdemokratische preußische Innenminister, immer wieder wegen seines slawisch klingenden Nachnamens angefeindet. Nationalsozialistische Redner in Ostpreußen und Ostpommern warfen ihm vor, der Sohn einer polnischen Magd22 und – in manchen Darstellungen – ihres jüdischen Dienstherrn zu sein.23 Der Vorwurf hatte keinerlei Basis in den Fakten: Der Minister war als Albert Ehler als unehelicher Sohn einer Berliner Magd und eines Metzgergesellen geboren worden. Den Namen hatte er von seinem, ebenfalls deutschen, Adoptivvater erhalten.24 Nichtsdestotrotz nutzte man anti-slawische Verleumdungen, um Grzesinski zu unterstellen, er sei als Pole ungeeignet, Regierungsämter zu bekleiden.25

Diffamiert wurde auch ein oberschlesischer Polizist, der eine Veranstaltung mit dem NSDAP-Redner Ludwig Münchmeyer abgebrochen hatte. Laut dem Schlesischen Beobachter reagierte Münchmeyer auf die Schließung mit dem Vorwurf, der Polizist sei 1921 polnischer Insurgent gewesen und spräche kein Deutsch.26 Als ein Gericht Münchmeyers Fall verhandelte, musste der Inspektor auf Nachfrage des Verteidigers hin tatsächlich zugeben, dass seine Muttersprache der oberschlesische polnische Dialekt war. Dieser Umstand wurde genutzt, um ihn als unverlässlichen, des Deutschen nicht mächtigen Zeugen hinzustellen. Dass der Polizist in Wahrheit fließend Deutsch sprach und sich selbst als Deutscher verstand, tat aus Sicht der nationalsozialistischen Polemik nichts zur Sache.27 Ethno-nationalistische Anfeindungen beruhten auf einem binären Weltbild, das nur deutsch oder nicht-deutsch kannte.

In Wahrheit aber waren die Nationalitätenverhältnisse in Grenzgebieten voller Uneindeutigkeiten. Diese Tatsache machten sich Gegner des Nationalsozialismus zunutze, um Kritik an den völkischen Herabwürdigungen zu üben. So hob ein Artikel hervor, dass fast die gesamte Einwohnerschaft Potempas 1921 für Polen gestimmt hatte, also auch diejenigen, die nun die NSDAP wählten. Da diese NSDAP-Mitglieder genauso ethnisch polnisch waren wie Pietrzuch, sei die nationalsozialistische Darstellung des Mordes scheinheilig.28 Auch einem der am Mord beteiligten SA-Männer unterstellte das sozialdemokratische Oberschlesische Volksblatt, einst Pole gewesen zu sein. 1921 sei er als Agent Provocateur Mitglied im Selbstschutz gewesen und habe ein Waffenversteck an die Franzosen, die Oberschlesien während der Abstimmungszeit verwalteten und sicherten, verraten. Um der Entlarvung durch seine Selbstschutz-Kameraden zu entgehen, sei er nach Polen geflüchtet und habe dann auf der Seite der polnischen Aufständischen gekämpft. Anschließend sei er in der französischen Ehrenlegion gewesen. Erst kürzlich sei er nach Deutschland zurückgekehrt, wo er sich den Nationalsozialisten angeschlossen hatte.29 Diese Geschichte schlug solche Wellen, dass sie vom Vorwärts aufgegriffen30 und von der Provinzregierung – ergebnislos – geprüft wurde.31 Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegen einen der Verteidiger der SA-Männer laut. Zwar sei seine Mutter eine regional hochrangige Politikerin der Deutschnationalen Volkspartei, doch ihr Vater habe selbst kein Deutsch gesprochen. Ihre Geschwister seien ihrerseits überzeugte Polen.32 Mit der deutschen Abstammung des Anwalts, der sich in seinem Plädoyer auf die oberschlesische Geschichte und den Volkstumskampf berufen hatte, sei es also nicht weit her. Auch in anderen Fällen betonte die sozialdemokratische Presse, dass die Nationalsozialisten ihren eigenen rassistischen Standards nicht gerecht wurden. So verwiesen sie darauf, dass in der regionalen Parteipresse Mitglieder mit Nachnamen wie Idzinski und Plusczyk schreiben durften, während der oben erwähnte Polizist aufgrund seiner polnischen Muttersprache diffamiert werde.33 Selbst viele nationalsozialistische Kandidaten für die preußische Landtagswahl trugen, wie der Vorwärts im Frühjahr 1932 feststellte, slawisch klingende Nachnamen.34

Diese Diskrepanz zwischen Ideal und Praxis war keine Übertreibung der Gegner des Nationalsozialismus. Es trugen tatsächlich sehr viele Nationalsozialisten in Grenzgebieten nicht-deutsche Nachnamen, die sie allerdings ab 1938, als auch die Umbenennung von Ortschaften Fahrt aufnahm, vielfach änderten.35 Der oberschlesische Untergauleiter Josef Adamczyk beispielsweise änderte 1939 seinen Namen in Adams, was für ihn offenbar germanischer klang.36 Auch die Umgangssprache vieler Nationalsozialisten in Grenzländern war nicht Deutsch. An der Grenze zu Dänemark beispielsweise stellte ein Aktivist, der 1932 mit einem propagandistischen Film durch die Dörfer zog, fest: „Fremd und unverständlich klingt uns ihre Sprache, wenn sie sich miteinander unterhalten, zumeist sprechen sie friesisch oder plattdänisch, aber – Nationalsozialisten sind sie alle, jung und alt …“37 Für ein ähnliches Klientel unterhielt die oberschlesische Parteizeitung sogar eine eigene Kolumne mit dem Titel „Pierona Fransek spricht“.38 Pieron war ein umgangssprachlicher Begriff für autochthone, meist polnischsprachige Oberschlesier. Selbst während der nationalistischen Gewalttaten wurde gelegentlich auf polnische Dialekte zurückgegriffen. Bei einer Schlägerei im masurischen Ortelsburg drohten Nationalsozialisten vermeintlichen Polen auf Polnisch.39 Konrad Pietrzuchs Mörder beschimpften ihn – laut der Aussage seines Bruders – gleichfalls auf Polnisch.40

Dieses Dulden der nicht-deutschen Namen und Sprachen ihrer Mitglieder durch die NSDAP hatte zweierlei Gründe: Zum einen war es in Grenzgebieten schlichtweg nur Zugezogenen möglich, eine lupenrein deutsche Herkunft nachzuweisen. Zum anderen war auch den Nationalsozialisten bewusst, dass man die vielen national noch Unentschiedenen für das Deutschtum gewinnen musste, wenn man eine deutsche Dominanz in den verbleibenden Grenzgebieten sichern und in den verlorenen Territorien wiederherstellen wollte. Zum Zeitpunkt der Volksabstimmungen waren Deutschlands Nachbarländer, die vom Kriegsausgang profitiert hatten und nicht durch internationale Ächtung und Reparationen belastet waren, in einer viel besseren Position als Deutschland gewesen, um eine aussichtsreiche Zukunft zu versprechen. Nun jedoch, so waren die Nationalsozialisten überzeugt, waren viele wieder für das „Deutschtum“ zugänglich.41 So schrieb die schleswig-holsteinische Parteizeitung über Nordschleswig, dass jeweils 25 % der Bevölkerung gefestigte Deutsche beziehungsweise Dänen seien. Die übrigen 50 % seien unentschlossen und für das „Deutschtum“ noch einnehmbar. Dazu müsse man das national unschlüssige Segment der Bevölkerung aber auch ansprechen. Der Artikel in der Parteizeitung warb daher ganz bewusst dafür, dass die Nationalsozialisten den Vorsitz des etabliertesten nationalistischen Vereins Schleswig-Holsteins übernehmen und diesen wieder aktivistischer machen sollten.42 In Oberschlesien waren sie vereinzelt, aber auch hier gab es Stimmen, die auf eine Abkehr vieler Ostoberschlesier vom Polentum hofften, insbesondere wenn eine starke nationalsozialistische Regierung an die Macht käme.43 Diese Bestrebungen erforderten selbstverständlich, dass man bereit war, diejenigen, die von einer Nationalität zur anderen wechselten, auch aufzunehmen.

Ähnlich pragmatisch handhabte man während des Zweiten Weltkriegs die Bevölkerungspolitik in den besetzten beziehungsweise annektierten Teilen Ost- und Mitteleuropas, die weit besser erforscht ist als die Nationalitätenpolitik der frühen NSDAP. Zwar waren die Prinzipien der Besatzungspolitik streng rassistisch formuliert, doch gleichzeitig setzte man auf die Germanisierung weiterer Bevölkerungsteile, die keineswegs durchweg nachweislich deutsche Wurzeln hatten. Als beispielsweise in den annektierten Teilen Polens die Deutsche Volksliste eingeführt wurde, um die darauf Erfassten rassistisch einzuteilen, wurde die überwiegende Mehrheit für germanisch oder germanisierbar befunden.44 Im Protektorat Böhmen und Mähren erhielten ebenso die allermeisten, die darum ansuchten, deutschen Status.45 Um den sogenannten Volkstumskampf zu gewinnen, wurden die Grenzen der Rasse immer weiter gefasst.

Der völkische Nationalismus, ja Rassismus, stellte ohne Frage eine zentrale Komponente des Nationalsozialismus dar. Gerade die Konzentrations- und Vernichtungslager und der Völkermord an den europäischen Juden, die den Nationalsozialisten nie als germanisierbar galten, stehen beispielhaft für die mörderischen Konsequenzen der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Trotzdem sollte man nationalsozialistische Ideologie nicht mit nationalsozialistischer Realität gleichsetzen. Sowohl im besetzten und annektierten Osteuropa des Zweiten Weltkrieges als auch, wie bislang kaum erforscht, in Deutschlands eigenen Grenzgebieten vor Machtübernahme und Krieg berief man sich auf die für die Situation jeweils passendsten nationalistischen Grundsätze und Ziele. Gegner wie Konrad Pietrzuch diffamierte man rassistisch, für die eigenen Leute ließ man die rassistischen Standards im Namen des Volkstumskampfes schleifen, selbst wenn man sich dadurch eine Blöße gab. Oft richtet sich der Blick der Historiker:innen nur auf eines der beiden Phänomene: auf Herabwürdigungen und Gewalt oder auf das Werben und Tolerieren ethnisch nicht eindeutig Deutscher. Dabei existierten beide Herangehensweisen gleichzeitig, vermutlich sogar in den Köpfen derselben Menschen: Es handelte sich um eine Art nationalistisches Doppeldenk. Das Untersuchen von Kontexten wie diesem, in denen der Nationalismus konzeptionell an seine Grenzen stieß, weil er nicht so griff wie beabsichtigt, kann helfen, den Fokus der Geschichtsschreibung nicht einfach auf die trans- oder subnationale Ebene zu verlagern, sondern die Nation als Baustein der Geschichte gänzlich zu hinterfragen. Nur so, um es mit der Historikerin Tara Zahra zu sagen, kann die Geschichte vor der Nation gerettet werden.46

Die Historikerin Luisa Hulsrøj promovierte 2021 an der University of Cambridge mit ihrem Thema „The Rise of National Socialism in the German Borderlands, 1930-1933“.

Fußnoten

1 Bessel, Richard (1977): The Potempa Murder, in: Central European History 10 (3), S. 241-254.

2 Beispiele für diesen Fokus sind, neben Bessels Aufsatz, Paul Klukes Artikel „Der Fall Potempa“ im Vierteljahresheft für Zeitgeschichte 5 (3) vom Juli 1957 und Johann Chapoutots Monographie „Le meurtre de Weimar“ aus dem Jahr 2010.

3 Der Begriff „Rassenstaat“ geht auf die gleichnamige Monographie „The Racial State: Germany 1933-1945“ von Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann aus dem Jahr 1991 zurück.

4 Hagen, William (1980): Germans, Poles, and Jews. The Nationality Conflict in the Prussian East, 1772-1914, Chicago.

5 Den besten Einstieg in die Literatur zum Thema der nationalen Indifferenz bietet Tara Zahras Aufsatz „Imagined Noncommunities: National Indifference as a Category of Analysis“ in Slavic Review 69 (1) aus dem Jahr 2010.

6 Thaler, Peter (2009): Of Mind and Matter. The Duality of National Identity in the German-Danish Borderlands, West Lafayette.

7 Kossert, Andreas (2001): Preussen, Deutsche oder Polen? Die Masuren im Spannungsfeld des ethnischen Nationalismus 1870-1956, Wiesbaden; Blanke, Richard (2001): Polish-speaking Germans? Language and National Identity among the Masurians since 1871, Köln.

8 Bjork, James (2008): Neither German Nor Pole. Catholicism and National Indifference in a Central European Borderland, Ann Arbor.

9 Blanke, Richard (1975): Upper Silesia, 1921. The Case for Subjective Nationality, in: Canadian Review of Studies in Nationalism 2, S. 251-252.

10 Tooley, T. Hunt (1997): National Identity and Weimar Germany. Upper Silesia and the Eastern Border, 1918-1922, Lincoln.

11 Bessel, Richard (1977): The Potempa Murder, in: Central European History 10 (3), S. 245.

12 „Das war der ‚arme‘ Pietrzuch! Und wegen dieses Subjektes sollen 5 Deutsche dem Henker ausgeliefert werden“, Völkischer Beobachter, 28./29. August 1932. Cambridge University Library.

13 „Neues Belastungsmaterial gegen den Insurgenten Pietrzuch“, Völkischer Beobachter, 6. September 1932. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA, Rep. 77, St 18, Nr. 218.

14 „Ein kommunistischer polnischer Insurgent wird erschossen… Ein deutsches Gericht fällt fünf Todesurteile: Das Schreckensurteil von Beuthen darf nie und nimmer vollstreckt werden“, Der Angriff, 23. August 1932. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA, Rep. 77, St 18, Nr. 218.

15 „Die unmöglichen Todesurteile von Beuthen“, Oberschlesische Tageszeitung, 23. August 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

16 Z. B.: „Der wahre Pieczuch!“, Deutsche Ostfront, 4./5. September 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

17 Zeitungen der polnischen Minderheit trugen Fälle von Gewalt während Wahlkämpfen in Artikeln zusammen, siehe z. B.: „Wahlterror im Oppelner Schlesien“, Nowiny Codzienne, 10. Mai 1932, übersetzt im Gesamtüberblick über die polnische Presse vom 20. Mai 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, RO, 1882.

18 Siehe z. B. den Bericht „Mißhandlung und Beleidigung von Angehörigen der polnischen Minderheit am 9.3.1931 in Hindenburg-Biskupitz“, 18. März 1931. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 110.

19 Karch, Brendan (2018): Nation and loyalty in a German-Polish borderland. Upper Silesia, 1848-1960, Cambridge.

20 Z. B.: „Stellungnahme des Deutschen Ostbundes“, Oberschlesische Tageszeitung, 26. August 1932. Archiwum Akt Nowych, Konsulat RP w Opolu, 17.

21 Brief vom Kreistag Beuthen-Tarnowitz an von Papen, 25. August 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

22 Z. B.: „Betrifft: Bericht über eine öffentliche Versammlung der National-Sozialistischen Deutschen Arbeiter-Partei Ortsgruppe Lauenburg Pom.,“ June 14, 1929. Archiwum Państwowe w Koszalinie, RK, 4363.

23 Urteil im Fall Helmut Richter, [1931]. Archiwum Państwowe w Koszalinie, RK, 4363.

24 „Grzesinski, Albert Karl Wilhelm,“ Deutsche Biographie, https://www.deutsche-biographie. de/sfz24423.html.

25 Urteil im Fall Helmut Richter, [1931]. Archiwum Państwowe w Koszalinie, RK, 4363.

26 „Sie können die Wahrheit nicht vertre[unleserlich],“ Schlesischer Beobachter, 3. Januar 1931. Archiwum Państwowe w Opolu, RO, 1802.

27 Bericht an den Polizeipräsidenten, 23. Februar 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, RO, 1805.

28 „Potempa in neuem Licht,“ 15. September 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, RO, 1806.

29 „Hitlers Kamerad – ein Insurgent und Verräter,“ Oberschlesisches Volksblatt, [August 1932]. Archiwum Państwowe w Opolu NPO, 1025.

30 „‚Alte Kameraden.‘ Pietrzuch-Mörder Gräupner ein Insurgent und französischer Spion,“ Vorwärts, 28. August 1932. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA, Rep. 77, St 18, Nr. 218.

31 Brief an den Regierungspräsidenten, 8. September 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, RO, 1806.

32 „Rechtsanwalt Lowaks polnischer Stammbaum,“ Oberschlesisches Volksblatt, 25. August 1932. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

33 „Die deutschblutigen Nazis in Oberschlesien.“ Oberschlesisches Volksblatt, 24. November 1931. Archiwum Państwowe w Opolu, NPO, 1025.

34 „Nazi-Lügner in der Zange.“ Cech, Juli/August 1932. Staatsbibliothek zu Berlin.

35 Olszewski, Michał und Rafał Żytyniec (2014): Ełk – spacerownik po niezwykłym mieście, Ełk, S. 291.

36 Lilla, Joachim, Martin Döring und Andreas Schulz (Hrsg.) (2004): Statisten in Uniform: Die Mitglieder des Reichstags 1933-1945, Düsseldorf, S. 3.

37 „Auf Filmfahrt an der Grenze.“ Schleswig-Holsteinische Tageszeitung, 3. Juli 1932. Kreis- und Stadtarchiv Itzehoe.

38 Janus, Bolko (1995): Germans and Poles: Identity, Culture, and Nationalism in German Upper Silesia, 1918-1933, Buffalo, S. 81.

39 Urteil im Fall Werner Schulz, 5. Juni 1931. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, XX. HA, Rep. 240 C, 67b.

40 Zeitungsartikel, [1932]. Archiwum Akt Nowych, Konsulat RP w Opolu, 17.

41 Z. B.: „Entrissenes deutsches Land muß wieder deutsch werden! Nordschleswigs Schicksal.“ Flensburger NS-Zeitung, 20. August 1932. Schleswig-Holsteinische Landesbibliothek.

42 „Gedanken zur Tagung der Landesversammlung des Schleswig-Holsteiner-Bundes.“ Schleswig-Holsteinische Tageszeitung, 25. August 1932. Landesarchiv Schleswig-Holstein, Abt. 417 Nr. 91.

43 Brief an Josef Adamczyk, 14. Februar 1933. Archiwum Państwowe w Katowicach, 147/228.

44 Wolf, Gerhard (2017): Volk Trumps Race. The Deutsche Volksliste in Annexed Poland, in Pendas, Devin, Mark Roseman und Richard Wetzell (Hrsg.): Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge.

45 Zahra, Tara (2008): Kidnapped Souls. National Indifference and the Battle for Children in the Bohemian Lands, 1900-1948, Ithaca, S. 190.

46 Zahra, Tara (2010): Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in Slavic Review 69 (1), S. 94.

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