Schwerpunkt: Nationalsozialismus als transnationales Phänomen

Neid und Missgunst als Herrschaftsprinzip.

War Zwangsarbeit im Nationalsozialismus ein transnationales Phänomen?

„Die schmutzigste Suppenbrühe und die schmutzigste Arbeit war uns Russen zugedacht und vorbehalten. Die Polen bekamen etwas mehr Brot und Zigaretten. Der Unterschied bemaß sich nach Grammen. Wichtig war nicht die Menge, wichtig war der Unterschied. […] Die Franzosen durften in der deutschen Kantine mitessen, sie bekamen ihre Suppe aus dem deutschen Suppenkübel eingegossen“, skizzierte Vitalij Sjomin in seinem autobiographischen Roman, worauf die Herrschaft über Zwangsarbeiter:innen im Deutschen Reich beruhte: Auf rassistischer Ausgrenzung und Ungleichbehandlung. [Vitalij Sjomin (1989): Zum Unterschied ein Zeichen, Hamburg, S. 71.] Im Zweiten Weltkrieg wurden 13 Millionen Menschen zur Arbeit im Deutschen Reich gezwungen. Eigentlich war dies ein soziales Experiment mit unbekanntem Ausgang, denn die deutsche Gesellschaft war durch den Einsatz von Zwangsarbeiter:innen so divers wie nie zuvor. Deshalb wollte eine rassistische Gewaltherrschaft Kontakte unterbinden und spielte alle Beteiligten gegeneinander aus. Kann vor dem Hintergrund unzähliger Kontakträume zwischen Zwangsarbeiter:innen und Deutschen dennoch von einem transnationalen Geflecht gesprochen werden? Etablierten sich transnationale Praktiken, die den Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten unterliefen?

Diagramm zur Nationalitätenzusammensetzung der Zwangsarbeiter:innen
Ausschnitt aus einer 1944 vom Chef der deutschen Militärverwaltung in Frankreich herausgegebenen Publikation. Bei den Frauen war der Anteil sowjetischer Zwangsarbeiterinnen sehr hoch.
©Archives Nationales, Paris

Die Maxime der Nationalsozialisten lautete, Kontakte von Deutschen und Zwangsarbeiter:innen auf ein Minimum zu beschränken bzw. ganz zu verbieten. Abhängig von der ethnischen Herkunft der Zwangsarbeiter:innen variierte die Strenge der Umsetzung. So durften französische, niederländische oder tschechische Zwangsarbeiter:innen zum Beispiel Gaststätten, Kinos und Schwimmbäder besuchen; Zwangsarbeiter:innen aus Polen und der Sowjetunion war dies untersagt. Zusätzlich mussten letztere Abzeichen sichtbar auf der Oberbekleidung tragen. Es löste Protest bei dänischen Zwangsarbeitern aus, als sie ebenfalls Armbinden tragen sollten: „Wir haben dagegen protestiert, genau wie die Juden, Polaken [sic] und Italiener gekennzeichnet zu werden.“ [Bundesarchiv, R 3901/20264, F. 3, Bl. 140.] Dieses Beispiel zeigt, wie rassistische Regeln auch die Beziehungen zwischen Zwangsarbeiter:innen beeinflusste und eigene Privilegien verteidigt bzw. andere Gruppierungen rassistisch abgewertet wurden.

Gruppe junger Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion, gekennzeichnet durch "OST"-Abzeichen
Zwangsarbeiter:innen aus der Sowjetunion waren zum Tragen eines „OST“-Abzeichens verpflichtet. Der Ukrainer Nikolaus Telitschko, geboren 1925, der nicht mit auf dem Foto ist, aber bereits 1942 nach Silbertal (Österreich) kam, berichtete: „Zuerst, als wir gekommen sind, war das Lager nagelneu, französische Gefangene haben es aufgestellt. Daneben war ein Viehstall, ungebraucht. Dort hinein streute man Stroh und fast einen Monat hausten wir in dem Stall. [...] Dann durften wir in das umzäunte Lager einziehen. [...] Zuerst waren wir 270 Mann. Es waren auch einige Ältere aus der Region Shitomir dabei, einige waren noch viel jünger als ich, 14-jährige Kinder, nicht umsonst weinten viele ohne Mama.“ Das Hitlerporträt im Hintergrund wurde nachträglich zerkratzt.
©Privatsammlung Matthias Breit, Absam

Freundschaften oder gar sexuelle Beziehungen von Zwangsarbeiter:innen und Deutschen wurden nicht geduldet. Polnische und russische Männer wurden für Beziehungen zu deutschen Frauen mit dem Tode bestraft. Deutsche wurden in Merkblättern und Aushängen darauf hingewiesen, die angebliche deutsche Ehre zu schützen und (sexuelle) Kontakte zu unterlassen. „Deutsche, seid zu stolz, Euch mit Polen einzulassen!“, lautet zum Beispiel die Quintessenz von Verhaltensvorschriften für Deutsche gegenüber polnischen Zwangsarbeiter:innen. [Thüringer Staatsarchiv Rudolstadt, VEB Chemiefaserkombinat Schwarza Nr. 1330, Bl. 1.] Trotz der rigorosen Kontaktbeschränkungen unterliefen Alltagspraktiken das Ansinnen vieler überzeugter Parteigänger. In einem Bericht eines rassenpolitischen Amtes an den Gauleiter von Oberdonau, August Eigruber, hieß es im August 1940: „Sie [polnische Zwangsarbeiter] beginnen sich intensiv in unser ureigenstes Volksleben hineinzudrängen, suchen in Gruppen Gaststätten auf, benehmen sich dort, wie wenn sie zu Hause in ihrer Heimat wären, singen slavisch Lieder, besaufen sich und werden, wenn sie in bedeutender Überzahl sind, sogar schon frech gegen Deutsche.“ [Bundesarchiv Berlin, NS 18/108, Bl. 14.] An solchen Stellen wird deutlich, dass transnationale Einflüsse in den Alltag einsickerten und als Angriff auf die nationale Selbstverortung verstanden wurden.

Gruppe polnischer Zwangsarbeiter, gekennzeichnet mit "P"-Abzeichen. Im Vordergrund steht ein kleiner Junge.
Polnische Zwangsarbeiter:innen mussten ein „P“-Abzeichen auf ihrer Kleidung anbringen. Der Besitz von Gruppenfotos konnte für polnische oder sowjetische Arbeitskräfte gefährlich sein, da fast alle Kontakte zu Angehörigen anderer Gruppen als „verbotener Umgang“ geahndet wurden. „Das Photo wurde im Dorf Gąski von einem Hobby-Photographen namens Fysior aus der Kolonie Gąski aufgenommen und ich wurde gewarnt, es niemandem zu zeigen, denn dafür drohte das Konzentrationslager“, schrieb der im ostpreußischen Oletzko als Landarbeiter eingesetzte Zbigniew Olszewski, vorne in der Mitte, 2005. Die Gefahr bestand in der Abbildung mit polnischen Kriegsgefangenen.
©Stiftung „Polnisch-Deutsche Aussöhnung“, Warschau

Ausgeweitet wurden Kontaktverbote auch in die Lebensbereiche zwischen den Zwangsarbeiter:innen. In seinem Bremer Betrieb beobachtete ein französischer Zwangsarbeiter, dass die Pissoire der sowjetischen Zwangsarbeiter von denen für Franzosen separiert waren. „Wo pissten die Deutschen?“, fragte er sich. [Yves Bertho (2016): Ich war Pierre, Peter, Pjotr, Bremen/Boston, S. 95.] Der Russe Sergej, der Protagonist Sjomins, war in einem umfunktionierten Fabrikgebäude zusammen mit Landsleuten untergebracht. Doch: „Im ersten Stock wohnten einige Polen. Mehrere zusammengerückte Saunaspinde aus Preßpappe trennten unsere Pritschen von den zweistöckigen Pritschen der Polen. Dort hinter ihren Spinden pflegten die Polen ihren Sonderstatus, sogar zum Ofen kamen sie nur selten.“ [Sjomin, S. 51.] Konflikte zwischen unterschiedlichen nationalen Gruppen von Zwangsarbeiter:innen in Gemeinschaftslagern waren keine Seltenheit. [Katarzyna Woniak (2020): Zwangswelten. Alltags- und Emotionsgeschichte polnischer „Zivilarbeiter“ in Berlin 1939 1945, Leiden u. a., S. 269-272.]

Sowjetische Zwangsarbeiter:innen bei der Essensausgabe
Die dürftige Versorgung sowjetischer Zwangsarbeiterinnen lässt sich an der Essenausgabe im Lager Barth-Holz ablesen. „Das Foto zeigt Lage und Umgebung meiner Unterkunft während des Mittagessens hinter dem sogenannten Bunker. Tage des Lebens und der Arbeit in Deutschland. Zur Erinnerung für Mama und Papa, und Brüderchen Schura. Barth Holz, 31. Januar 1943”, schrieb die 1924 geborene Marija Jakowliewnja Borisenko an ihre Eltern. Sofern die Eltern die Postkarte erhielten, freuten sie sich sicher über das Lebenszeichen ihrer Tochter, wohl aber nicht über ihre Situation hinter dem Stacheldraht eines Kriegsgefangenenlagers in Pommern.
©Internationale Gesellschaft MEMORIAL, Moskau

Die Anwesenheit von Millionen von Zwangsarbeiter:innen brachte unzählige Herausforderungen mit sich, die im Rahmen der Kriegswirtschaft kaum zu lösen waren. An fast allen Gebrauchsgütern herrschte Mangel und sie wurden ungleich verteilt. Zwangsläufig kam es deswegen zu Auseinandersetzungen und zu Schwarzmärkten. Die Versorgung der Zwangsarbeiter:innen variierte je nach Kriegslage und nationaler Gruppe. Besonders schlecht wurden sowjetische Zwangsarbeiter:innen versorgt. Qualitativ hochwertige Lebensmittel sollten nur Deutschen zugänglich sein. Daraus entspann sich im ländlichen Raum Thüringens eine Provinzposse. Verschiedene offizielle Stellen und die Bevölkerung gerieten in Konflikt miteinander, weil anstatt Margarine Butter an polnische Zwangsarbeiter:innen und Kriegsgefangene ausgegeben wurde. Einerseits wollte die Verwaltung die Gleichstellung von Polen unbedingt vermeiden, andererseits waren zumindest Teile der deutschen Bevölkerung nicht abgeneigt, Polinnen und Polen angemessen zu versorgen. [Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Landesernährungsamt Abteilung B Nr. 206, BI. 11r und 12r.] Ironischerweise war jedoch stellenweise Margarine Mangelware, sodass pragmatisch auf Butter ausgewichen wurde. So hieß es, das Staatsgut Dornburg könne für seine ausländischen Arbeiter nur so lange Margarine statt Butter beziehen, wie der Vorrat reiche. [Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Thüringisches Landesernährungsamt Abteilung B Nr. 205, BI. 116r.] Und auch abgelegene Höfe könnten polnische Zwangsarbeiter nur mit Butter versorgen, da Margarine nicht beschafft werden könne. [Bundesarchiv Berlin, R 3601/3214 Bl. 64.]

Die Ungleichheiten sorgten für Neid. So beschwerte sich ein kroatischer Arbeiter, der mit Versprechungen nach Deutschland gelockt worden war, in einem abgefangenen Brief: „Sie bekommen alles, Zigaretten, Schnaps und was immer verteilt wird, alles bekommen die Deutschen und wir Kroaten nichts.“ [Bundesarchiv, R 3901/20266, F. 4, Bl. 165.] In einem weiteren Brief eines Kroaten hieß es in Bezug auf tschechische Zwangsarbeiter: „Selbst die Tschechen werden gegenüber den Kroaten bevorzugt. Sie bekommen Kleiderkarten und Bezugsscheine, wir nicht.“ [Bundesarchiv, R 3901/20265, F. 1, Bl. 28.] Schlechtgestellte Zwangsarbeiter:innen freuten sich bereits über kleine Dinge. Yves Bertho beschreibt, wie ukrainische und polnische Zwangsarbeiter:innen treue Kund:innen einer deutsche Eisverkäuferin waren: „Straßenbahnfahren war für sie verboten, Kneipen auch – aber Eis nicht!“ [Bertho, S. 142.] Festzuhalten ist, dass sowohl Besser- wie Schlechterstellung von Zwangsarbeiter:innen den Deutschen nützte und Konflikte zu den Ausgegrenzten verlagerte.

Zeitungsanzeige die die Trennung von Deutschen und polnischen Zwangsarbeiter:innen beim Essen propagiert. Zusehen ist eine zweigeteilte Comichafte Ilustration. Links ist eine Szene zu sehen auf der eine Familie mit einem Zwangsarbeiter am Esstisch sitzt. Über der Szene prangt der Schriftzug "Nicht so...". Rechts ist eine Szene zu sehen, wo der Zwangsarbeiter in einem gesonderten Raum sitzt während die Familie ihr Essen einnimmt. Darüber ist der Schriftzug "sondern so!" zu lesen.
„Schaubild der Woche“. Amstettner Anzeiger, 18. April 1943. Auf Bauernhöfen sollten Zwangsarbeiter:innen ihre Mahlzeiten getrennt von Deutschen einnehmen.
©Bibliothek der Universität Wien

Doch die Not der Zwangsarbeiter:innen brachte auch Zusammenhalt hervor. Sie vernetzten sich und organisierten, tauschten und verkauften Kleidung, Nahrungsmittel oder Tabak. Der Protagonist Sjomins berichtet auch von einfachen Gesten der Solidarität: „Diese Italiener litten noch schlimmeren Hunger als wir. Wir machten für sie eine Lagersuppensammlung. Aber dann geschah wieder etwas, und die Ration der Italiener wurde erheblich aufgebessert.“ [Sjomin, S. 241.] Empathische Beziehungen zwischen Zwangsarbeiter:innen entstanden auch dann, wenn Konkurrenz keine Rolle spielte. Es gibt ein Foto, das zwei niederländische Zwangsarbeiter mit einem Säugling und dessen Mutter aus der Sowjetunion zeigt. Dieses Foto konnte entstehen, weil Niederländer Kameras besitzen und Fotos knipsen durften. Es zeigt, dass die jungen Männer die Zwanglosigkeit, Selbstbewusstsein und die Solidarität aufbrachten, sich mit Mutter und Kind zu fotografieren.

Sowjetische Insassen des Ostlagers Berlin, zwei Männer, einer hält ein Kleinkind, eine Frau
Der Holländer Adrianus Markus hielt auf seinen Fotos auch die sowjetischen Lagerinsassen fest, darunter eine sowjetische Frau und ihr Kind, den jüngsten „Bewohner des Ostlagers Berlin 1943“.
© Adrianus Markus, Berliner Geschichtswerkstatt e. V.

Die nationalsozialistische Politik setzte alles daran, Zwangsarbeiter:innen und Deutsche zu trennen. Zusätzlich wurden Zwangsarbeiter:innen durch ein rassistisches Regelwerk dominiert und mittels unterschiedlicher Privilegien und Strafen gegeneinander ausgespielt. Vor diesem Hintergrund von einer transnationalen Geschichte der Zwangsarbeit zu sprechen, scheint auf den ersten Blick unangemessen. Doch ein genauerer Blick zeigt, dass sowohl innerhalb wie abseits der nationalsozialistischen Regeln ein transnationales Geflecht entstand. So entwickelte sich eine paradoxe Situation: Erwünschte und unerwünschte Beziehungen zwischen Deutschen und Zwangsarbeiter:innen beeinflussten den Kriegsalltag – und je nach Gemengelage konnten sie diesen erschweren oder erleichtern. Und vielleicht waren es gerade eher zufällige Nuancen, die von der Transnationalität der Zwangsarbeit zeugen. Sjomins Sergej beschreibt verwundert rauchende französische Kriegsgefangene: „Und auch der Geruch ihrer Zigaretten, an denen sie offenbar keinen Mangel litten, war ungewöhnlich […] genau wie ihre Art zu rauchen, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, ohne die Asche abzuschütteln, eine Art des Rauchens, die keiner anderen glich, die ich bisher zu Gesicht bekommen hatte: das Feuer ist schon an den Lippen, verbrennt die Lippen aber nicht, das Papier ist angekohlt, aber nicht verbrannt, das Feuer ist durch das Innerste der Zigarette hindurchgegangen. Die Angewohnheit zu paffen und zu schnaufen, aber keine gierigen Züge zu machen.“ [Sjomin, S. 71.] Zwangsarbeit bedeutete im Guten und im Schlechten die Erweiterung von Wissen, Erfahrungen und Praktiken. Sie war damit transnational gegen den Willen der Nationalsozialisten.

Daniel Logemann ist als Historiker spezialisiert auf die Geschichte Osteuropas und heute Kustos für das Museum Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora.


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