Die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik traf Millionen Menschen aus Europa und anderen Teilen der Welt. Nach der Befreiung entstanden zahlreiche Initiativen und Organisationen ihrer Überlebenden. Informelle Netzwerke, Amicales, Komitees, Lagergemeinschaften, nationale Interessenverbände und internationale Dachorganisationen versammelten jüdische wie nicht-jüdische Verfolgte, Antifaschist:innen aus dem Exil, ehemalige Angehörige des Widerstands, Veteranen, kommunistische wie auch nicht-kommunistische Engagierte. In vielen Fällen wirkten diese Zusammenschlüsse über Grenzen von Staaten und politischen Systemen hinweg. Oftmals erstritten sie erste Erinnerungszeichen, waren entscheidend für die Entstehung von NS-Gedenkstätten und trieben – nicht selten gegen erhebliche Widerstände – die juristische Verfolgung von NS-Täter:innen voran.
Schwerpunkt: Nationalsozialismus als transnationales Phänomen
Gerade vergleichende Forschungen zu den Aktivitäten von Überlebenden und ihren Organisationen sind bislang noch selten. Der demnächst erscheinende Sammelband adressiert dieses Defizit. Er geht zurück auf den Workshop „Organisiertes Gedächtnis. Ehemalige Häftlinge der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager und ihre (trans-)nationalen Verbände” der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora und des Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Juni 2016 in der Gedenkstätte Buchenwald. Ein Drittel der Texte entstand im Zusammenhang mit diesem Workshop. Erweitert durch Beiträge aus der internationalen historischen Forschung wird der Band einen schlaglichtartigen Überblick zu den kollektiven Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik geben. Dabei nimmt er vor allem die Verbindung zwischen den gemeinsamen Erfahrungen in der NS-Verfolgung – bis hin zu fortbestehenden bzw. neuentstehenden Personennetzwerken – und den kollektiven Aktivitäten nach der Befreiung in den Blick, die in den Organisationen der Überlebenden vielfältig aufeinander bezogen blieben. Die insgesamt 19 Beiträge des Sammelbands behandeln vier Schwerpunktthemen.
In den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus umfasst – zum Teil unmittelbar vergleichend angelegte – Untersuchungen zu Verbänden in der Bundesrepublik, der DDR und Österreich, darunter zur Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und dem konkurrierenden Zentralverband demokratischer Widerstandskämpfer und Verfolgtenorganisationen (ZdWV), dem westdeutschen Sachsenhausen-Komitee sowie Lagergemeinschaften von Ravensbrück-Überlebenden in allen drei Ländern. Widerstandsgedächtnisse beinhaltet Studien zu Organisationsformen Überlebender in Frankreich, den Niederlanden, Polen, Spanien und der Sowjetunion ebenso wie einen Beitrag zur künstlerischen Verarbeitung der Buchenwald-Erfahrung französischer Kommunisten in der frühen Nachkriegszeit. Die Texte unter Nach Shoah und Porajmos beschäftigen sich mit den Selbstorganisationen jüdischer Überlebender am Beispiel des Kibbuz Buchenwald und der Pluralität der Überlebenden-Verbände des KZ Bergen-Belsen, dem Wirken und Netzwerken individueller jüdischer Verfolgter beim Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde zu Köln sowie von Sinti:zze und Rom:nja als Akteur:innen in der bundesdeutschen Erinnerungskultur.
Den letzten Schwerpunkt des Bandes Internationale Organisationen bilden Untersuchungen zu den Komitees der Überlebenden des Lagerkomplexes Auschwitz, von Buchenwald bzw. Ravensbrück und zur Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sowie zu jugoslawischen Überlebenden im Spannungsfeld des (inter-)nationalen Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg. Wichtiger Kontext vieler Organisationsgeschichten ist dabei der Kalte Krieg. Dachverbände auf europäischer oder internationaler Ebene, aber auch andere Vereinigungen Überlebender wirkten in vielen Fällen über die Grenzen von Staaten und Blöcken hinweg. Zugleich stellte der Kalte Krieg mit seinen ideologischen Grenzziehungen in manchen Verbänden den Bezug auf eine gemeinsame Verfolgungserfahrung als Organisationsgrundlage in Frage. So blieben der Koreakrieg seit 1950 oder die Niederschlagung der Reformbewegungen in Ungarn 1956 bzw. in der Tschechoslowakei 1968 nicht ohne Auswirkungen auf die Überlebendenverbände. Für sie waren die Spaltungen in (pro-) kommunistische und nicht-kommunistische Verbände ein konfliktreicher Prozess. Tief- und weitreichende Veränderungen brachte zudem das Ende der sozialistischen Länder Osteuropas seit den ausgehenden 1980er Jahren: Staatliche Sammel- und Dachverbände verloren an Bedeutung, wurden politisch marginalisiert oder ganz aufgelöst. Andere Organisationen, wie etwa die internationalen Komitees der KZ-Überlebenden, überstanden diese Zäsur, veränderten sich aber hinsichtlich Zusammensetzung, politischer Ausrichtung und (geschichts-)politischer Bedeutung.
Zugunsten der besseren Zugänglichkeit wie der zusätzlichen Vernetzung der Texte untereinander verfügt der mehr als 700-seitige Band über detaillierte Register zu den erwähnten Organisationen, Orten und Personen. Er ist ab Frühsommer 2022 im Buchhandel wie auch im Onlineshop der Stiftung erhältlich.
Philipp Neumann-Thein veröffentlichte 2014 seine Promotion „Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos“.